Gescheiterte Generation

Deutschland. Verzagt, unentschieden, unvorbereitet und voller Selbstzweifel ging die rot-grüne Regierung 1998 ins Amt. Das rächte sich jetzt. Denn auch wenn Schröder noch einmal gewinnt: Rot-Grün ist am Ende. Falter, Mai 2005

 

 

Der Abend des 27. September 1998, Bonn. Vor der SPD-Zentrale, seit den Fünfzigerjahren "Barracke" genannt, schwillt schnell eine Menschenmenge an.. Die Leute klettern auf Laternenmasten, um einen Blick auf die Wahlsieger erhaschen zu können. Auftritt: Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine. Die Ära Kohl ist zu Ende. Aber es ist mehr als ein Regierungswechsel. Eine Generation hat es endlich geschafft. Pathos des Augenblicks! Sprechchöre: "Rot-Grün! Rot-Grün".

 

Später, im Keller der niedersächsischen Landesvertretung, wo die Siegesfeier stieg, lag über der Szene doch auch stille Schreckstarre, die Furcht, jetzt wirklich das tun zu müssen, was man so lange gewollt hatte: regieren. Ob sie wirklich den inneren Habitus der Republik repräsentierten, "die Mitte" in einem emphatischen Sinn, da waren sich die Sieger des Tages gar nicht so sicher. Hatten sie sich nicht immer als Außenseiter gefühlt? War diese Generation nicht in der Überzeugung groß geworden, dass die Welt schlecht ist – und die Guten in der Minderheit sind? Eigentlich hatte Gerhard Schröder eine Große Koalition ins Auge gefasst. Erst das Ausmaß des Sieges von SPD und Grünen erzwang förmlich die "Linkskoalition", auch wegen des Ausmaßes der Niederlage der Konservativen.

 

Noch am selben Abend hatte sich eine Art Verzagtheit breit gemacht. Rot-Grün, das "Reformprojekt", habe keine gesellschaftliche Mehrheit, fürchteten die Protagonisten der "neuen Mitte"; rot-grünes Projektgefuchtel war schon passé, als Rote und Grüne in die Ministerbüros einzogen. Sie verkauften ihr Tun als "nachholende Modernisierung". Das klang so: Die Gesellschaft sei längst moderner als die bisher herrschende Politik. Deshalb vollziehe die neue Regierung nur nach, was in den Kapillaren der Gesellschaft alltäglich geworden ist. Man brauche nur den Lurch wegblasen – mehr habe diese Regierung im Grunde nicht vor, lautete der "Spin", wie das damals hieß.

 

Vorbereitet war die Regierung praktisch auf gar nichts. Die Generation, die an die Macht gespült worden war, war in jungen Tagen revolutionär gesinnt und ausgerechnet, als es ans praktische Gesellschaftsverändern ging, skeptisch geworden. Die konzeptionelle Phantasie, die sie einst ausgezeichnet hatte, war erloschen. Hinzu kam: Der Richtungsstreit, den etwa die britische Labour-Party in der Opposition ausgetragen hatte, war in der SPD noch unentschieden. Schröder, der Kanzler, zog an dem einen Strang; Lafontaine, damals Finanzminister, am anderen.

 

So verging viel Zeit. Ganze "vier Jahre wurden verloren", schimpfte unlängst Daniel Cohn-Bendit im Spiegel. Die Reform der Arbeitsmarktpolitik und des Sozialstaates wurde erst im fünften Jahr der Regierung angepackt. Als damit begonnen wurde, war der Kredit der Koalition verspielt. Dass die Reformen den strengen Geruch der sozialen Ungerechtigkeit hatten, machte die Sache noch schlechter. Auch die Reformen, die die britischen, holländischen und skandinavischen Sozialdemokratien durchsetzten, hatten ihre sozialen Härten, aber neben spürbaren Erfolgen wurden von den Unterprivilegierten nicht nur gefordert, sondern ihnen auch etwas geboten: Qualifizierung, Umverteilung zu Gunsten der Schlechtestgestellten, neue Chancen. Die Schröderschen Hartz-Gesetze verletzten Gerechtigkeitsnormen und bieten wenig – natürlich auch, weil wegen der Kosten der deutschen Einheit der finanzielle Spielraum noch enger ist als anderswo -, und was sie möglicherweise an positiven Resultaten noch zeitigen werden, kommt hoffnungslos zu spät. Weil sie so viel Zeit verloren haben, fehlt Schröder, Fischer & Co. jetzt der lange Atem, um Fehler noch korrigieren zu können.

 

Gescheitert ist Rot-Grün letztlich, weil sich in ihrem eigenen Milieu die Meinung durchsetzte: Die können es nicht. Die linksliberale, linksalternative Meinungsszenerie sah in "ihrer" Regierung längst nur mehr "Manager des Stückwerks", wie das der Göttinger Politikwissenschafter Franz Walter nennt. Es legte sich "eine Depression und Tristesse über die Republik", eine "düstere Entfremdungsstimmung". Zuletzt ergriff eine regelrechte Lust am Sturz der eigenen Leute das linksliberale Justemilieu (nicht unähnlich – bei allen Unterschieden – der hiesigen Angstlust, mit der 1999 die Niederlage Viktor Klimas und die Regierungsübernahme von Schwarz-Blau von metropolitanen Intellektuellenzirkel ersehnt wurde).

 

Das wunderte selbst die Konservativen: Erstaunlicherweise, bemerkte die Frankfurter Allgemeine Sonnstagszeitung, rührt das baldige Ende von Rot-Grün "nicht einmal die engste Verwandtschaft zu Tränen". Die Berliner taz, die das rot-grüne Projekt vom frühesten Tag an verfochten hatte, berichtete über das seltsame Murmeln in der alternativen Szene: "Merkel? Soll sie doch. Stoiber? Kann man überleben. Wulff? Den sowieso", hieß es da unlängst, und: "Hauptsache, es bewegt einen irgendwas aus der schlechten Laune heraus".

 

Nun hat Gerhard Schröder – "der bisher schon am Besten war, wenn er mit dem Rücken zur Wand kämpfte" (Die Zeit) – noch einmal die Initiative an sich gezogen und den Überraschungseffekt für sich genutzt. Es wäre eine Ironie der Geschichte, würde Rot-Grün mit einem Wahlsieg beweisen, dass die Verzagtheit und die Selbstzweifel des Jahres 1998 unbegründet waren. Schröder und Fischer werden einen stark personalisierten Lagerwahlkampf führen – und unmöglich ist nicht, dass die roten und grünen Kraftmenschen gegen das traurige Tandem Angela Merkel und Guido Westerwelle triumphieren.

 

Eine rotgrüne Koalition wird es hinterher dennoch kaum geben. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat würde Schröder in diesem für ihn günstigsten Fall wohl die Große Koalition bekommen, die er eigentlich schon 1998 haben wollte. Denn die Schwarzen haben eine derartige Übermacht in den Ländern, dass gegen sie nicht mehr regiert werden kann.

 

So darf, was immer auch noch in diesem Wahlkampf passieren mag, Rot-Grün getrost abgehakt werden. Womöglich wird man irgendwann von einer tragischen Generation sprechen. Die 68er, die als Outcasts begannen und sich in einen beispiellosen Kraftakt ins Zentrum ihrer Gesellschaft vorkämpften, hatten gerade in dem Moment ihren Elan verloren, in dem sie an ihrem Ziel angelangt waren. Angekommen, waren sie wirklich "Angekommene" und das heißt auch: arriviert, zu satt. Vorbei war die Zeit der Entschlossenheit, der Wendigkeit. Kaum eine Regierungsformation war derart "generationsspezifisch geprägt" (so der Politikwissenschaft Hans Jörg Hennecke) wie diese. Diese Kohorte veränderte die Gesellschaft, solange sie in der Opposition war. Der Aufbruch, den sie repräsentierte, erhielt mit dem Regierungsantritt gewissermaßen seine höheren Weihen. Damit war’s dann aber auch wieder gut.

 

Mag das Wort "gut" in diesem Zusammenhang auch deplaziert sein.

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