„Nase zu, Blair wählen“

Großbritannien-Wahlen. Ausgerechnet Tony Blair und seine blassrosa Mittelwegsgefährten stellten unter Beweis, dass eine ambitionierte Sozialpolitik auch heute noch möglich ist. Nur an einem sollten sich kontinentale Sozialdemokraten kein Beispiel nehmen: An der berühmten Spin-Maschine von New Labour. Falter, April 2005

 

 

Es gibt in Kontinentaleuropa das, was man Conventional Wisdom in Hinblick auf New Labour und den Blairismus nennen könnte: Eine Art, oder besser, eine Abart von Sozialdemokratie sei das, der es nicht um soziale Politik geht, sondern nur um eine gute Presse. Keine Substanz, viel Marketing. Eine Regierung, die, kaum gewählt, auf die Frage: What’s next? nur antwortet: Let’s get reelected. Die, kurzum, nicht darauf aus ist, für richtige Politik Mehrheiten zu gewinnen, sondern der es nur darum geht, auf der Woge der Volksstimmung zu segeln – und der die Politik eigentlich schnurzegal ist. "Opportunismus mit menschlichem Antlitz", hat das der New Yorker Intellektuelle Tony Judt schon zum Amtsantritt Blairs genannt.

 

In Wirklichkeit ist so ziemlich das exakte Gegenteil wahr. So substanzlos ist der Blairismus gar nicht – er hat nur eine schlechte Presse.

 

Das ist gewiss das Groteskeste an der Blair-Regierung: dass eine Truppe, die derart auf Spin und Manipulation der öffentlichen Meinung abzielte, die für ihre raffinierte Beeinflussung der Berichterstattung schnell berühmt, bald berüchtigt wurde, eigentlich nichts als nachteiligen Spin in die Welt setzte. Eine der skurillsten Charasteristika von Blairs Herrschaft, schrieb Geoffrey Whetcroft in seinem Grossessay "The Tragedy of Tony Blair" vergangenes Jahr im New Atlantic, sei denn auch der Umstand, dass eine Regierung, die "Besessen vom Verkaufen von Politik ist, die vor zynischer Medienmanipulation und rücksichtsloser Brutalität nicht zurückschreckt, erstaunlich erfolglos ist, ihre Marketingziele zu erreichen".

 

Acht Jahre Blair-Regierung können auch als Abfolge von Public-Relation-GAUs beschrieben werden, mit dem Höhepunkt des Irakkrieges, der hingebogenen Wahrheit über die irakischen Massenvernichtungswaffen, mit dem Selbstmord des Regierungsberaters David Kelly, der als Kronzeuge für die Berichte galt, die Regierung habe die Irak-Dossiers "aufgemotzt" und der den Druck nicht weiter standhielt. Damals sagten 64 Prozent der Briten, sie glaubten dem Premierminister nicht. Das Vertrauen zu Blair – sein vielleicht größtes Kapital – war an einem Tiefpunkt. Seither hat Blair das nicht mehr aufholen können. Die Popularitätswerte seines innerparteilichen Rivalen Gordon Brown liegen bei 41 Prozent, Blairs bei 33 Prozent. Gewiss spielt der Irakkrieg bei der Wahl am 5. Mai nur mehr eine Nebenrolle – der Reputationsverlust des Premiers, der durch den Irakkrieg verschärft wurde, ist aber sehr wohl das zentrale Problem Labours in diesem Wahlkampf.

 

Wenn irgendetwas eine Wiederwahl von Labour gefährden kann, dann die Tatsache, dass der Premier als politischer Windbeutel gilt, als Mann ohne Rückgrat, dem man nichts glauben darf – und dass ihn die Briten, vor allem auch die Labour-Parteigänger dafür womöglich abstrafen wollen. Es ist nur eines der Paradoxa in diesem Zusammenhang, dass Blair in diese Bredouille gerade deshalb kam, weil er sich einmal wirklich gegen die Volksstimmung stellte – die Beteiligung am Irakkrieg hat er ja gegen die Mehrheit der Briten, gegen die Mehrheit seiner Partei und wahrscheinlich sogar gegen die Mehrheit seiner Kabinettskollegen durchgesetzt.

 

Die Auffassung, Blair sei flach und ein Mann des lahmen Mittelweges war aber von Beginn an eher eine optische Täuschung – wenngleich eine absichtlich produzierte. Blair hat seine Partei Mitte der neunziger Jahre mehrheitsfähig gemacht, indem er ihr den klassischen sozialdemokratischen Dirigismus austrieb. Er erhielt dafür eine überwältigende Mehrheit. Aber anders als jene Politiker, die vor ihm mit überzeugenden Wählervoten ins Amt getragen wurden, bekam er sie nicht für eine radikale Neuorientierung der Politik sondern für einen Abschied vom Radikalismus. Die Briten hatten den militanten Konservativismus von Margaret Thatcher und ihrem Nachfolger John Major satt. Deshalb hatten sie aber noch lange nicht für einen Schwenk nach links gestimmt. Der Blairismus galt deshalb schnell als das europäische Modell einer Sozialdemokratie, die in die Mitte rückt; für eine Sozialdemokratie, die einsieht, dass Regierungen in der Ära der Globalisierung kaum mehr Spielräume haben; die akzeptiert, dass die Wirtschaft diktiert und Sozialpolitik höchstens die schlimmsten Auswüchse kurieren kann. "We are all globalists now!" verkündete Blair seinen sozialdemokratischen Kollegen in Europa. Leute wie Gerhard Schröder, aber auch Jammergestalten wie Viktor Klima nahmen sich ein Vorbild. 

 

Ein Resultat dieses Settings war, dass die Labour-Party, wollte sie sozialdemokratische Politik betreiben, das nicht an die große Glocke hängen durfte. Dabei legte die Regierung ein Sozialprogramm nach dem nächsten auf: Den "New Deal", das "Welfare-to-work"-Programm für jugendliche Arbeitslose, eine ambitionierte Arbeitsmarktpolitik. Heute liegt die britische Arbeitslosenrate auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. Viele Obdachlose wurden von der Straße geholt, zukunftlose Kids bekamen Job oder Ausbildung. Vor allem seit der Wiederwahl im Jahr 2001 setzte Labour verstärkt auf umverteilende Wirkung ihrer Budgetpolitik. Keine Regierung zuvor hat soviel an Reichtum von oben nach unten gelenkt wie die Blair-Regierung (dass sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnete, ändert daran nichts – dies geschah trotz der Labour-Politik und nicht wegen dieser und sagt mehr über die Eigendynamik der gegenwärtigen Wirtschaftsstrukturen aus). Für alleinerziehende Mütter gibt es Childcare-Kredite, für Kleinverdiener allgemein eine negative Einkommenssteuer und mehr Kinderbetreuungplätze – dieser "New Deal für Lone Parents" gab vielen jungen Frauen buchstäblich ihr Leben zurück und hob die Beschäftigtenrate merklich – was weitgehend Frauen zugute kommt, da es vor allem sie waren, die bisher aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt waren. Und das "Sure-Start"-Programm hat über eine Million Kinder aus der Armutszone bugsiert.

 

Es ist diese Bilanz, die sogar Kritiker von Blair heute herausstreichen. Die Weichlinge an der Parteiführung, so ätzte unlängst Robin Cook, das linke Gewissen der Partei (er war als Außenminister aus Protest gegen den Irakkrieg zurückgetreten), sollten diese Erfolge entschieden bewerben und "aufhören, so zu reden als gehörten sie nicht der Labour-Party an".

 

Schon ist zu vernehmen, Labour tauge tatsächlich zum Modell für die europäischen Sozialdemokratien – bloß sei die Lehre, die sie diesen zu erteilen habe, so ziemlich das Gegenteil dessen, wofür sie vor acht Jahren Modell stand. "Ich trat in die Regierung ein mit der Überzeugung, Regierungen haben ihre Macht verloren", formulierte Geoff Mulgan, von 1997 bis 2004 Chef der entscheidenden Strategie-Unit in Downing Street 11, dem Amt des Premierministers in seinem vielbeachteten Essay "Lektionen der Macht", dieser Tage im Londoner Intelligenzblatt "Prospect" erschienen. "Doch ganz im Gegensatz dazu wurde ich immer mehr davon überzeugt, dass die Annahme der Machtlosigkeit eine Illusion ist." Tatsächlich haben Regierungen einigen Einfluss auf die Wirtschaftslenkung verloren, vor allem weil die verstaatlichen Industrien überall bankrott gingen oder privatisiert wurden, doch sie haben dafür eine wachsende Bedeutung für die Gesundheitspolitik, die Alten, für die Kinder und in der Sicherheitspolitik, schreibt Mulgan. "Die berühmte Kommunikationsmaschine" New Labours habe das nur nicht zu verdeutlichen gewußt, manche kleinen Erfolge des Tages überverkauft und dafür "enttäuschend wenig" zum langfristigen Kampf um soziale Werte beigetragen. Labour habe sich schnell, so Mulgan, an den erfolgreichen europäischen Ökonomien wie Finnland, Schweden, Dänemark oder Norwegen – aber auch an Taiwan und Singapur – ein Vorbild genommen und keineswegs an "Modellen der Vergangenheit" (wozu er die USA zählt). Denn diese Gesellschaften hatten gezeigt, dass Regierungen ihre Möglichkeit überschätzen, "kurzfristige Änderungen" durchzusetzen, im Umkehrschluss aber ihre "langfristige Macht unterschätzen".

 

Kurzum: Vor allem durch die langfristige Unterstützung der Unterprivilegierten, insbesondere von Kindesalter an – in den Vorschul- und den Schuljahren – kann am meisten zur Förderung von Gleichheit aber auch die Entwicklung "von Human- und Sozialkapital" beigetragen werden, und somit auch zur Prosperität eines Gemeinwesens.

 

Weil Blair angeschlagen ist und Gordon Brown als Architekt des "britischen Wirtschaftswunders" große Reputation geniest, wird der Schatzkanzler im Wahlkampf jetzt gleichberechtigt neben den Premier in die erste Reihe geschoben. Die Labour-Strategen wissen, dass diese Wahl weniger als Abstimmung über den Regierungschef inszeniert werden darf – weil dann womöglich gerade die überzeugteren Labour-Anhänger und die Irakkriegsgegner einfach zu Hause bleiben -, sondern zum Plebiszit über die Wirtschaftspolitik und für die Fortsetzung des Kurses von Gordon Brown gemacht werden muss. "Buy-One-Get-Two", heißt diese Verkaufsstrategie im Supermarkt. Sie scheint auch in diesem Fall aufzugehen: Wähle Blair, krieg Brown dazu! Labour liegt in den Umfragen neuerdings wieder zehn Prozent vor den konservativen Torys. Kaum jemand zweifelt daran, dass Blairs Mannschaft auch die dritte Wahl hintereinander gewinnt.

 

Und damit auch jedes Risiko ausgeschlossen ist, verschickt der linksliberale "Guardian" Wäscheklammern. Aufschrift: "Nase zu, Blair wählen".  

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