Europa. In Frankreich steht die Mehrheit der EU-Verfassung auf der Kippe. Auch hierzulande drücken linke Kritikern den französischen Verfassungsgegnern für das Referendum die Daumen. Nur: Wir die Welt besser, wenn die Europa-Konstitution durchfällt? Falter, April 2005
Die Linke überschlägt sich neuerdings in Superlativen. Endlich ist sie wieder in der Offensive! Von einer "beispiellosen Mobilisierung der Linken" ist auf den einschlägigen Webpages die Rede. Da tun sich sozialdemokratische und extreme Linke, Gewerkschafter, Netzwerke und Bewegungen zusammen, vereinigt für ein Ziel. Wovon ist die Rede? Vom Kampf gegen den Raubtierkapitalismus, dem sich neuerdings sogar schon wieder die deutschen Hartz-IV-Sozialdemokraten verschreiben? Oder geht’s gegen Krieg, Faschismus, eine Rechtsregierung? Nein, sondern gegen die neue EU-Verfassung.
Die steht Ende Mai in Frankreich zur Abstimmung. Die Umfragen verheißen, dass ein "Nein" der Franzosen gut möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich ist. Ein wesentlicher Teil der französischen Sozialdemokraten unter Laurent Fabius machte ein "Ja" von der Bedingung abhängig, dass der Stabilitätspakt reformiert, das EU-Budget erhöht, Steuerharmonisierung eingeführt und Sozialdumping verboten wird. Eine Freude, die Herrn Fabuis, wie er wohl voraussah, auf die Schnelle nicht erfüllt wurde. So sind nun moderate und extreme Linke, moderate Nationalisten und Rechtsradikale fröhlich vereint im Nein zur Europakonstituion. Herr Fabius ist zwar als Kämpfer gegen das Kapital bisher nicht sonderlich hervorgetreten, will aber demnächst linker Präsidentschaftskandidat werden und da schien ihm ein "Nein" zur EU-Verfassung unter den Bedingungen der postmodernen Aufmerksamkeits-Ökonomie eine originelle und damit richtige Position.
Das Ergebnis ist eine fiebrige Debatte mit vielen Massenversammlungen vor Ort, mit Stadtteilkomitees und allem was dazugehört. "Ja zu Europa, Nein zur neoliberalen Verfassung", der Ruf erschallt derart übermächtig, dass Präsident Jacques Chirac sich wohl schon fragt, ob er die Geister, die er rief, noch zu bändigen vermag – denn der taktisch versierte Konservative sah von Beginn an im Referendum auch ein probates Instrument, die französische Linke zu spalten.
Nun ist hierzulande zwar keine Volksabstimmung angesetzt, was aber nur die Folge hat, dass ein offenkundig wachsender Teil der hiesigen Linken den französischen Verfassungsgegnern die Daumen drückt. Denn in einem sind sich versprengte KP-Reste, linke Sozialdemokraten, viele Gewerkschafter und die Mehrheit der attac-Anhänger einig – dass die EU-Verfassung ganz furchtbar schrecklich ist. Haben sie recht?
Sieht man einmal von der symbolischen Bedeutung des Verfassungsprozesses als konstituierenden Akt eines Gemeinwesens ab (wovon man freilich schwer absehen kann, da es sich hierbei um das wahrscheinlich Bedeutendste an einer Verfassung handelt), so kann man kühlen Kopfes davon ausgehen, dass Verfassungen in zweierlei Hinsicht Belang haben: als Regelwerk, das die Kompetenzabgrenzung einzelner Organe eines komplexen Gemeinwesens verbindlich regelt und als Rückversicherung der Bürger, bestimmte zentrale Grundrechte einfordern zu können. Was darüber hinaus geht, der weiche Bereich der "Staatszielbestimmung" und der schönen Postulate, ist zwar nicht völlig unwichtig, aber doch primär durch den jeweils aktuellen politischen Kampf bestimmt und weniger durch eine ein für alle mal festgeschriebene Konstitution.
"Eigentum verpflichtet", steht ja auch im deutschen Grundgesetz, was Herrn Müntefering vielleicht die Möglichkeit gibt, den Industriellenboss Hundt für einen Verfassungsfeind zu halten, ansonsten aber noch keine weiteren positiven Auswirkungen hat, solange es die Linke nicht schafft, die Mehrheiten zu erringen, die es braucht, um aus dieser "Verpflichtung" irgendwelche praktikablen Gesetze zu machen. Österreichs Verfassung wiederum, die relativ frei von moralischen Belehrungen und hehren Beteuerungen dieser Art ist, hat dagegen der Herausbildung eines Sozialstaates bekanntlich nicht geschadet.
Nun ist die EU-Verfassung, was die praktische Organisation des Gemeinwesens EU mit seinen heute 25 Mitgliedsstaaten anbelangt, ein Fortschritt und was die einklagbaren Grundrechte betrifft, ein gehöriger Schritt vorwärts. Auch die Erweiterung der demokratischen Mitbestimmung auf der supranationalen EU-Ebene durch die Aufwertung des EU-Parlamentes ist ein wichtiger, wenn auch nicht spektakulärer Akt und wird auch von Seiten der Kritiker anerkannt.
So wird das Mitentscheidungsverfahren mit weitgehender Gleichberechtigung zwischen Parlament und Ministerrat zum Regelverfahren, in bestimmten Fällen erhält das Parlament sogar Initiativrecht. Das ist nicht das demokratische Paradies, aber doch ein erfreulicher Zuwachs an demokratischer Legitimität.
Dafür finden sich unter den Staatszielbestimmungen ein paar diskussionswürdige Passagen. So stoßen sich linke Verfassungsgegner an Passagen, die die Union zu einen "ausgewogenen Wirtschaftswachtsum und Preisstabilität" verpflichten, die "eine im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" als Ziel formulieren und die eine "offene Marktwirtschaft", und "Liberalisierung der Dienstleistungen" als konstituierende Grundsätze der Union festschreiben.
Zwar kann man sich mit Recht fragen, ob das Wettbewerbsrecht wirklich in ein Grundgesetz gehört, freilich könnte das von anderer Seite auch moniert werden, etwa mit Verweis auf Passagen, die beschwören, die Union "bekämpft soziale Ausgrenzung" und fördere "soziale Gerechtigkeit".
Der Wahrheit wegen soll hier also gar nicht versucht werden, die "sozialen" gegen die "neoliberalen" Passagen der Verfassung aufzuwiegen – beide werden keine große politische Bedeutung erlangen. Verfassungen sind der Rahmen der politischen Auseinandersetzung. Ob Europa demnächst wieder mehr in sozialstaatliche oder weiter in marktradikale Richtung tendiert, wird sich weder bei Referenden noch bei Ratifizierungsakten der Verfassung entscheiden. "Wir können uns mit dieser Verfassung den politischen Kampf der Zukunft nicht ersparen", formuliert Johannes Voggenhuber der federführend für die Euro-Grünen im Verfassungskonvent saß.
Ein anderer Kritikpunkt an der EU-Verfassung resultiert schon aus mehr Böswilligkeit als nur einem etwas pausbäckigen Verständnis für politische Prozesse – die Verdammung der Konstitution wegen ihrer angeblichen "Aufrüstungsverpflichtung". Die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern", zielt nämlich in erster Linie auf die europäische Koordination und Vergemeinschaftung von Sicherheitspolitik ab. Die Gefahr eines Euro-Imperialismus ist auch mit Euro-Korps und einer "Europäischen Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" unwahrscheinlich. Wobei, dies nur nebenbei, ein bißchen mehr europäisches Muskelspiel womöglich sogar im Sinn linker Kriegsgegner wäre, die bei anderer Gelegenheit Europas Eigenständigkeit gegen dem US-Hegemon einfordern. Aber wenn’s ums Militär geht, schrammt die Verfassungskritik hart ans Absurde, wie in jenem Papier auf der deutschen attac-Homepage, in der die diesbezügliche Verfassungsbestimmung mit der angeblich "seit Jahren von den USA geforderten Aufrüstung" in Verbindung gebracht wird – als hätten die USA nicht seit Jahren alles versucht, den Aufbau eigener europäischer militärischer Kapazitäten zu untergraben.
So dumpf die linke Kritik an der EU-Verfassung aber auch ist, so ist die EU-Verfassung natürlich keine linke Verfassung. Sie ist eine Verfassung, die ideologischen Prämissen und Interessengegensätze unter 25 Mitgliedsstaaten zum Zeitpunkt ihrer Formulierung widerspiegelt sowie das Übergewicht der Exekutive – vulgo: der Regierungen – im europäischen Prozess; und die vor allem unter dem Manko leidet, dass sie während des Verfassungsprozesses durch keinen öffentlichen Diskussionsprozess begleitet wurde. Es gibt eine Verfassung, aber kein Staatsvolk in einem irgendwie emphatischen Sinn. Daher kann sie nur ein höchst schwaches Gründungs-Ereignis sein. Daher aber ist auch das Beste an der EU-Verfassung der Umstand, dass es sie überhaupt gibt.
Deshalb auch ist dieser neue linke Pathos absurd: Werfen wir die Verfassung in den Mist und schreiben wir uns eine Schönere! Die Welt würde, so ist zu fürchten, keine Bessere, würde der Integrationszug in die Luft gesprengt. Die Linke könnte eine Nacht lang ihren Sieg feiern. Danach lachen die Freunde der Nationalstaatlichkeit und die Anhänger der Freihandelszone. Vielleicht gäbe es ein paar unter Europas Staatenlenker, die einen neuen Anlauf zu nehmen versuchten, die trachteten, Integration, Vertiefung und Demokratisierung der Union zu retten. Joschka Fischer oder der Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker fielen einem als Anwärter für diese heroische – und wenig aussichtsreiche – Rolle ein. Doch die Dynamik würde unweigerlich in die andere Richtung gehen. Die Regierungschefs würden verstärkt auf die intergouvernementale Zusammenarbeit setzen. Die nationalen Regierungen würden sich in Brüssel noch schamloser als Gesetzgeber aufspielen, ihre Parlamente daheim aushebeln und das Europaparlament links liegen lassen. Womöglich käme ihnen ein französisches "Nein" ganz gelegen. Gerhard Schröder, der Freude daran gefunden hat, bei Gipfel mit Premiers und Präsidenten ohne lästige Parlamentarier große Dinge auszuhecken, stellt sich angeblich geistig schon auf ein solches Szenario ein.
Das dämmert langsam auch manchem EU-Verfassungskritiker von links. Vergangene Woche sorgten die Senatoren der linkssozialistischen PDS in Berlin für einen Wirbel, weil sie kundtaten, sie würden in der Landesregierung nicht gegen die Verfassung stimmen – ein Votum, das wegen des Gewichts der Länderkammer, des Bundesrates, für die Ratifizierung von Bedeutung ist. Während ihre Partei gegen die Verfassung agitiert, würden sie selbst, dürften sie ihrer Überzeugung folgen, gerne für die Verfassung stimmen.
Die dunkelroten Senatoren fanden aus diesem Dilemma einen schönen Ausweg: Sie werden sich einfach der Stimme enthalten.