Das Beste an der EU-Verfassung ist der Umstand, dass es sie gibt. Die linke Kritik an "neoliberalen" Passagen und "Aufrüstungsgebot" ist pausbäckig bis dämlich. taz, Mai 2005
Die Linke überschlägt sich neuerdings in Superlativen. Endlich ist sie wieder in der Offensive! Von einer "beispiellosen Mobilisierung der Linken" ist auf den einschlägigen Webpages die Rede. Da tun sich sozialdemokratische und extreme Linke, Gewerkschafter, Netzwerke und Bewegungen zusammen, vereinigt für ein Ziel. Wogegen geht’s? Gegen Krieg, Faschismus, eine Rechtsregierung? Nein, sondern gegen die neue EU-Verfassung.
Die steht Ende Mai in Frankreich zur Abstimmung. Die Umfragen verheißen, dass ein "Nein" der Franzosen gut möglich ist. Ein wesentlicher Teil der französischen Sozialdemokraten unter Laurent Fabius machte ein "Ja" von der Bedingung abhängig, dass der Stabilitätspakt reformiert, das EU-Budget erhöht, Steuerharmonisierung eingeführt und Sozialdumping verboten wird. Eine Freude, die Herrn Fabuis, wie er wohl voraussah, auf die Schnelle nicht erfüllt wurde. So sind nun moderate und extreme Linke, moderate Nationalisten und Rechtsradikale fröhlich vereint. Herr Fabius ist zwar als Kämpfer gegen das Kapital bisher nicht sonderlich hervorgetreten, will aber demnächst linker Präsidentschaftskandidat werden und da schien ihm ein "Nein" zur EU-Verfassung unter den Bedingungen der postmodernen Aufmerksamkeits-Ökonomie eine originelle und damit richtige Position.
Hierzulande ist zwar kein Referendum angesetzt, was aber nur die Folge hat, dass ein offenkundig wachsender Teil der hiesigen Linken den französischen Verfassungsgegnern die Daumen drückt. Denn die EU-Verfassung, so ist zu hören, ist ganz schrecklich.
Sieht man einmal von der symbolischen Bedeutung des Verfassungsprozesses als konstituierenden Akt eines Gemeinwesens ab (wovon man freilich schwer absehen kann, da es sich hierbei um das wahrscheinlich Bedeutendste an einer Verfassung handelt), so kann man kühlen Kopfes davon ausgehen, dass Verfassungen in zweierlei Hinsicht Belang haben: als Regelwerk, das die Kompetenzabgrenzung einzelner Organe eines komplexen Gemeinwesens verbindlich regelt und als Rückversicherung der Bürger, bestimmte zentrale Grundrechte einfordern zu können. Was darüber hinaus geht, der weiche Bereich der "Staatszielbestimmung" und der schönen Postulate, ist zwar nicht völlig unwichtig, aber doch primär durch den jeweils aktuellen politischen Kampf bestimmt und weniger durch eine ein für alle mal festgeschriebene Konstitution.
"Eigentum verpflichtet", steht ja bekanntlich auch im Grundgesetz, was Herrn Müntefering vielleicht die Möglichkeit gibt, Herrn Hundt für einen Verfassungsfeind zu halten, ansonsten aber noch keine weiteren positiven Auswirkungen hat, solange es die Linke nicht schafft, die Mehrheiten zu erringen, die es braucht, um aus dieser "Verpflichtung" irgendwelche praktikablen Gesetze zu machen.
Nun ist die EU-Verfassung, was die praktische Organisation des Gemeinwesens EU mit seinen heute 25 Mitgliedsstaaten anbelangt, ein Fortschritt und was die einklagbaren Grundrechte betrifft, ein gehöriger Schritt vorwärts. Mitentscheidung des Parlaments – weitgehend gleichberechtigt mit dem Ministerrat – wird zur Regel, in einzelnen Fällen erhält das EU-Parlament auch Initiativrecht (bisher ein Privileg der Kommission). Das ist vielleicht noch nicht das demokratische Paradies, aber doch ein entscheidender Zuwachs an demokratischer Legitimität. Ein Fortschritt, der auch von Seiten der Kritiker anerkannt wird. Auch das Verfahren zur Auswahl von Kommissionspräsident und Kommissaren wird künftig demokratischen Gepflogenheiten nicht mehr Hohn sprechen.
Dafür finden sich unter den Staatszielbestimmungen ein paar diskussionswürdige Passagen. So stoßen sich linke Verfassungsgegner an Passagen, die die Union zu einen "ausgewogenen Wirtschaftswachtsum und Preisstabilität" verpflichten, die "eine im hohen Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft" als Ziel formulieren und die eine "offene Marktwirtschaft", und "Liberalisierung der Dienstleistungen" als konstituierende Grundsätze der Union festschreiben.
Zwar kann man sich mit Recht fragen, ob das Wettbewerbsrecht wirklich in ein Grundgesetz gehört, freilich könnte das von anderer Seite auch moniert werden, etwa mit Verweis auf Passagen, die beschwören, die Union "bekämpft soziale Ausgrenzung" und fördere "soziale Gerechtigkeit".
Der Wahrheit wegen soll hier also gar nicht versucht werden, die "sozialen" gegen die "neoliberalen" Passagen der Verfassung aufzuwiegen – beide werden keine große politische Bedeutung erlangen. Verfassungen sind der Rahmen der politischen Auseinandersetzung. Ob Europa demnächst wieder mehr in sozialstaatliche oder weiter in marktradikale Richtung tendiert, wird sich weder bei Referenden noch bei Ratifizierungsakten der Verfassung entscheiden. "Wir können uns mit dieser Verfassung den politischen Kampf der Zukunft nicht ersparen", formuliert Johannes Voggenhuber, österreichischer Grüner, der federführend für die Euro-Ökos im Verfassungskonvent saß.
Ein anderer Kritikpunkt an der EU-Verfassung resultiert schon aus mehr Böswilligkeit als nur einem pausbäckigen Verständnis für politische Prozesse – die Verdammung der Konstitution wegen ihrer angeblichen "Aufrüstungsverpflichtung". Die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern", zielt nämlich in erster Linie auf die europäische Koordination und Vergemeinschaftung von Sicherheitspolitik ab. Die Gefahr eines Euro-Imperialismus ist auch mit Euro-Korps und einer "Europäischen Agentur für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" unwahrscheinlich. Wobei, dies nur nebenbei, ein bißchen mehr europäisches Muskelspiel womöglich sogar im Sinn linker Kriegsgegner wäre, die bei anderer Gelegenheit Eigenständigkeit gegen dem US-Hegemon einfordern. Aber wenn’s ums Militär geht, schrammt die Verfassungskritik hart ans Absurde, wie in jenem Papier auf der attac-Homepage, in der die diesbezügliche Verfassungsbestimmung mit der angeblich "seit Jahren von den USA geforderten Aufrüstung" in Verbindung gebracht wird – als hätten die USA nicht seit Jahren alles versucht, den Aufbau eigener europäischer militärischer Kapazitäten zu untergraben.
So dumpf die linke Kritik an der EU-Verfassung aber auch ist, so ist die EU-Verfassung natürlich keine linke Verfassung. Sie ist eine Verfassung, die ideologischen Prämissen und Interessengegensätze unter 25 Mitgliedsstaaten zum Zeitpunkt ihrer Formulierung widerspiegelt; sowie das Übergewicht der Regierungen am europäischen Feld; und die vor allem unter dem Manko leidet, dass sie während des Verfassungsprozesses durch keinen öffentlichen Diskussionsprozess begleitet wurde. Es gibt eine Verfassung, aber kein Staatsvolk in einem irgendwie emphatischen Sinn. Daher kann sie nur ein höchst schwaches Gründungs-Ereignis sein. Daher aber ist auch das Beste an der EU-Verfassung der Umstand, dass es sie überhaupt gibt.
Deshalb auch ist dieser neue linke Pathos absurd: Werfen wir die Verfassung in den Mist und schreiben wir uns eine Schönere! Bekämpfen wir den Neoliberalismus, indem wir ihm den größten Gefallen tun! Die Welt würde, so ist zu fürchten, keine Bessere, würde der Integrationszug in die Luft gesprengt. Die Linke könnte eine Nacht lang ihren Sieg feiern. Danach lachen die Freunde der Nationalstaatlichkeit und die Anhänger der Freihandelszone.