Herdentrieb ins Netz: Technik als Allegorie sozialer Beziehungen.

Mein größerer Sohn ist jetzt in dem Alter, in dem man Erfinder werden will, aber neuerdings schwer frustriert, weil überzeugt: Alles, was er erfinden könnte, ist schon erfunden. Der Einwand, dass er von den Dingen, die schon erfunden sind, weiß, wohingegen er von jenen, die noch nicht erfunden sind, nichts wissen kann, vermag seine schlechte Laune nicht wirklich zu heben.

Um es wenigstens zu versuchen, erzählte ich ihm, dass vor 15 Jahren kaum noch jemand erahnen konnte, dass es jemals ein Internet geben würde – und dass heute das Leben von jedem Kind davon geprägt ist (mein Jüngerer, gerade den Windeln entwachsen, ruft, wenn ich am Computer sitze: "Papa, warum machst Du Internet"). Trotzdem glaubt mein Älterer standfest, alles sei erfunden. Wie soll er auch die Revolutionen des Wissens begreifen, wenn wir sie selbst kaum begreifen können. Die Revolutionen verändern unsere Mentalitäten und unsere Begriffe von Welt und wir halten mit unseren eigenen Gedanken kaum mehr Schritt.

 

Beispielhaft lässt sich das an der Karriere des Netzbegriffes ablesen. Wir leben in einer Welt horizontaler Netzwerke, von Netzwerk-Schwärmen, dynamischer Maschenwerke, um nur ein paar der Schlüsselvokabel aus dem großen Wurf "Die Netzwerkgesellschaft" des spanischstämmigen US-Professors Manuel Castells zu zitieren. Der Begriff "Netzwerk" steht heute für – mehr oder weniger – freie Assoziation, für spielerisches Trial and Error, er ist der Konstrastbegriff zur starren, vertikalen Hierarchie, er ist, mit einem Wort, definitiv positiv besetzt.

 

Dabei war das vor 15 Jahren noch völlig anders. Da war die Netzmetapher mindestens ambivalent gebraucht, wie Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer monumentalen Studie "Der neue Geist des Kapitalismus" in Erinnerung rufen. Das Netz wurde als Metapher für "Zwangsstrukturen benutzt: Aus den Maschen des Netzes gibt es für das Individuum demnach kein Entrinnen". Das Netzwerk war gewissermaßen die Gegenvokabel zur Transparenz, "stets mit Heimlichtuerei verbunden". Das Wort Netzwerk wurde etwa im Zusammenhang mit schmutzigen Eine-Hand-wäscht-die-Andere-Vorgängen in der Politik gebraucht, oder auch in Hinblick auf die Mafia: Immer schwang, wenn von Netzwerken die Rede war, die Bedeutung von Ränkespiel mit.

 

Was die Leittechnologie eines Zeitalters ist (oder auch nur als solche erscheint), und die organisatorische Form, wie diese Technologie ihr Zeitalter prägt, bestimmt auch die Bilder, die wir uns von der Gesellschaft machen. "Das Atom ist passé", schreibt Manuel Castells, "das Symbol der Wissenschaft für das nächste Jahrhundert ist das dynamische Netz". Die Netzwerkmetapher ist die Illustration kooperativer Wechselseitigkeit von Strukturen und Individuen, die sich gegenseitig brauchen – der Interdependenz der Gleichen. Das Atom, Leitmotiv der letzten Jahrhundertmitte, evozierte dagegen folgendes Bild: hierarchisch im Inneren strukturiert, nach außen in Relation zu anderen, aber doch auf sich alleine gestellt – es war das passende Sinnbild für einen autoritären Individualismus. Noch früher, in der Epoche der aufstrebenden Schwerindustrie, war die Idee eines autoritären Kollektivismus bildmächtig: Leitbild war "der Industrielle", wie man damals sagte, der Heerscharen von Arbeitern kommandierte, die schwere Maschinen bedienten. Die sollten nicht nachdenken, für den wundersamen Tanz des Räderwerkes sorgte die kluge Regie des Patrons. Seinerzeit wurde die Firma streng hierarchisch imaginiert, nicht unähnlich des Staates. Damals, etwa zu Max Webers Zeiten, sollten Betriebe wie Bürokratien funktionieren – der totale Gegensatz zu unserer Gegenwart, in der das Postulat lautet: Bürokratien, ganze Staaten sollen wie Firmen funktionieren. 

 

Die gesamte Ideengeschichte ist in gewissem Sinne der ebenso stumme wie eloquente Reflex von Technologie und Wissenschaft. Wir denken, formuliert der US-Theoretiker Frederic Jameson, "über die Technologie als eine Allegorie sozialer Beziehungen" (klar, diese Kolumne heißt ja wohl auch nicht zufällig "Theorie und Technik"). Man muss, insistiert Jameson, "technologische Beschreibungen immer unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass in ihnen die allegorische Ebene sozialer Beziehungen zu entdecken ist".

 

In einer solchen Formulierung steckt natürlich immer auch ein Kern an Kritik: mit dem Bildern, die wir uns machen, erliegen wir einem technologischen Determinismus. Das ist aber etwas vertrackt, weil die dominante Technologie natürlich nicht jenseits der Gesellschaft existiert: die Technologie ist nicht nur pure Technik, sie ist immer schon auch Gesellschaft. Das ändert aber nichts daran, dass wir gut daran tun, gerade gegenüber den besonders offenbar-evidenten Vorstellungen, denen wir ohne viel nachzudenken anhängen, auf der Hut zu sein. Jedenfalls kann nicht schaden, vorsichtig zu lauschen, was da jeweils in uns denkt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.