Ich will mein Leben zurück

 

Wege zum Echtsein: das Entfremdungstheorem, zuletzt arg ramponiert, von Rahel Jaeggi auf furiose Weise renoviert. taz, Jänner 2006, Falter Frühjahrsbuchbeilage 2006

 

 

Es zählt gewiss zu den dümmsten Redensarten, das wirkliche, pralle Leben gegen die „blutleere Theorie“ in Stellung zu bringen. Nichtsdestoweniger gehört es auch zu den vertrackteren Problemen im Horizent von Theorie, dass philosophische Abstraktion und Alltagsverständnis in eine gewisse Spannung geraten können – ohne, dass sich leicht sagen ließe, die Theorie sei „richtiger“ als das Alltagsverständnis (oder umgekehrt). Das Thema „Entfremdung“ ist ein Exempel für eine solche Konstellation. Wir können uns in Situationen als entfremdet empfinden, andere als „unauthentisch“ erleben – auch, wenn wir über die Schwierigkeiten Bescheid wissen, die der Entfremdungsbegriff macht. Der war in den letzten Jahrzehnten theoretisch arg zerzaust worden: setzt er doch die Annahme eines metaphysischen Wesens des Menschen voraus, von dem man sich entfremden könne; unterstellt der doch, Personen verfügten über ein wahres, inneres „Selbst“, einen Kern, den sie in ihrem Leben verfehlen können; insinuiert er doch auch, Menschen könnten von ihren „richtigen“ Wünschen entfremdet sein, auch wenn sie von diesen gar nichts wissen; postuliert er schließlich, wir wären nur dann ganz bei uns, wenn wir keine Rollen spielen, unverstellt durchs Leben gehen.

 

 

Mit solchem pausbäckigem Essentialismus haben die (post-)strukturalistische Subjektkritik ebenso aufgeräumt wie der pragmatische Liberalism mit der paternalistischen Vorstellung, es gäbe ein objektiv „gutes Leben“ jenseits der subjektiven Wünsche der Leute. Angesichts dieser längst fundamentalen „Kritik der Entfremdungskritik“ hat sich die in Frankfurt lehrende Philosophin Rahel Jaeggi eine wahrlich große Aufgabe gesetzt: die Renovierung der Entfremdungskritik. Sie weiß, dass es keinen „Maßstab (…) für die Echtheit von Bedürfnissen“ gibt, das „eigentliche oder wahre Selbst“ nichts ist, was irgendwo „innen lokalisiert“ wäre – weil es doch keine Wahrheit des Selbst jenseits seiner Äußerungen gibt. Auch entwickelt sich das Selbst in der Außeinandersetzung mit den äußeren Bedingungen und diejenigen, die sich von fremden Wünschen leiten lassen, haben sie schlußendlich selbst.

 

Doch, so lautet der Einwand Jaeggis, wenn wir uns auch nicht unserem „eigentlichen Wesen“ entfremden können, gibt es doch entfremdete Weisen des Lebensvollzugs. „Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht, muss aber auch nicht in einem starken Sinn ,essentialistisch’ oder ,metaphysisch’ begründet sein.“ Die E-Frage ist, ob es einem gelingt, „sich zu sich und den Verhältnissen, in denen man lebt und von denen man bestimmt ist in Beziehung zu setzen, sie sich aneignen zu können“.

 

Nicht, dass wir Rollen spielen, ist das Problem – entscheidend ist, ob wir Autoren des Skripts sind. Wenngleich gewiss niemand alleiniger Autor seines Lebensvollzugs ist, so sollte er doch zumindest als „Ko-Autor“ seiner selbst amtieren. „Was hier entfremdend wirkt, sind nicht die Rollen per se, sondern die Unmöglichkeit, sich in ihnen angemessen zu artikulieren“, formuliert Jaeggi und: „Die Suche nach Authentizität jenseits solcher Formen wäre ein sinnloses Unterfangen – diejenige nach Authentizität in ihnen ein immer wieder neu sich stellendes Problem.“ Unhaltbar ist die Behauptung, „dass wir durch Rollen überhaupt ,unserer selbst entfremdet’ sind“, sehr wohl aber sind wir es „manchmal in Rollen“.

 

Entfremdung, so die Autorin, ist eine spezifische Form von Machtverlust: Man driftet durchs Leben, die Dinge passieren einfach, das eigene Leben nimmt sich als selbständiges Geschehen aus, „auf das man keinen Einfluss hat“.

 

Sich mit der Welt nicht-entfremdet in Beziehung zu setzen, heißt, sich diese anzueignen, und Aneignung bedeutet – nehmen wir nur das Beispiel öffentlicher Räume -, mehr als dass man sie nur benutzt; Aneignung ist getragen von der Fähigkeit, die Umstände des eigenen Lebens auch zu prägen.

 

Gerade in diesem Sinn ist das „entwickelte Selbst“ nichts vorgängig-gegebenes, sondern Resultat eines Aneignungsprozesses – so ist auch erklärbar, dass sich jemand verändern, aber doch authentisch bleiben kann. Veränderung heißt weder notwendigerweise, sich seinem Selbst zu entfremden, noch, sich diesem zu nähern, unauthentisch kann aber sehr wohl der Prozess der Veränderung sein. Die Frage ist nicht, ob Subjekte alte Ideale, Lebensweisen etc. aufgeben, sondern „wie sie sie aufgeben“. Jaeggi: „Entscheidend ist, ob man den Prozess in die eigene Lebensgeschichte bzw. das eigene Selbstverständnis integrieren kann“.

 

Kurzum: Der Mensch, so Jaeggi, kann sehr wohl in entfremdete Beziehungen verstrickt sein – zur Welt, zu anderen, zum eigenen Leben. Jaeggis „Entfremdungsdiagnose ohne Kernmodell“ rettet vom alten Entfremdungsbegriff, was von diesem tauglich ist. Produktiv ist der Begriff, insistiert die Autorin, weil mit ihm Sachverhalte beschrieben werden können, die ohne ihn nicht formulierbar wären. Dass er dennoch in einer gewissen Schwebe bleibt, ist kein Mangel, sondern Ausweis dieser Produktivität – alle theoretisch ergiebigen Begriffe haben eine solche Unschärfe. Jaeggi dekliniert die theoretischen Aporien des Entfremdungskonzepts souverän durch, und dass ihr das streckenweise in der warmherzigen Sprache der Lebensführungsliteratur gelingt, ist ein kleines Kunststück. Dass sie es versucht, ergibt sich freilich beinahe zwingend aus den Fragen, von denen die Entfremdungsdiagnose handelt. Denn schließlich, so Jaeggi, geht es darum, „mit sich selbst umgehen zu können“.

 

Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Campus Verlag, Frankfurt / New York, 2004. 267 Seiten, 24,90 Euro.

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