Spießeralarm!

Spießigkeit, gibt’s die eigentlich noch? Oder ist sie bloß ein Lifestyle unter vielen? Gar die ultimative Art, schräg zu sein? Eine Erkundung. taz und Standard, Februar 2006

 

 

 

Vor einigen Jahren wohnte unter mir ein bekanntes männliches österreichisches Fotomodell – um genau zu sein, das bekannte männliche österreichische Fotomodell. Tagsüber ein umgänglicher Mensch, wurde der Bursche nachts, wahrscheinlich unter Einwirkung raffinierter Substanzen, etwas eigenartig. Er hörte dann stundenlang dröhnend laut Musik. Nach drei durchwachten Nächten und nachdem ich mir die Hand an seiner Tür tatsächlich blutig trommelte (er konnte mich natürlich nicht hören), tat ich etwas, wovon ich nie gedacht hätte, dass ich es tun würde: Ich rief die Polizei. Ich hatte keine andere Wahl: Mein damals dreijähriger Sohn brüllte schon, weil er schlafen wollte, und nicht konnte.

 

Die Einschaltung der Staatsmacht hatte zwar keinerlei praktischen Nutzen, da man global erfolgreiche Fashioncelebrities mit 100-Euro-Geldstrafen wegen Lärmerregung ebenso wenig beeindrucken kann wie mit der Androhung einer „Beschlagnahme der Lärmquelle“ (O-Ton des Polizisten), stürzte mich dafür aber in eine tiefe Depression: Ich kam mir als der letzte Spießer vor.

 

Das werde ich dem Kerl von den Hugo-Boss-Plakaten mein Leben lang nicht verzeihen.

 

Seither beschäftigt mich die Spießigkeit – oder, wie Franz Schuh sagen würde, die Spießigkeit befasst sich mit mir. Das Spießertum ist ja zu einem vertrackten Problem geworden. Mehr als hundert Jahre lang – bis vor zwanzig, dreißig Jahren etwa – lagen die Dinge noch vergleichsweise simpel. Hier gab es die Mehrheit der Spießbürger, mit ihren engen Ansichten und ihrem standardisierten Lebensstil – da die Nonkonformisten, die Unkonventionellen. Letztere schreckten die Spießbürger mit ihrem Epater les Bourgeois, wie in klassischen Avantgardetagen, und mit dem gegenkulturellen Rebellionsgestus von Rock, Neuer Linker bis Hippies späterer Zeiten.

 

Die Spießerbeschimpfung wurde dann irgendwie zum Klischee, so dass sie selbst wieder fast spießig geworden ist. Mainstream wollte ohnehin keiner mehr sein, und die Übertretung aller Konventionen wurde allgemein akzeptiert, so dass sie, in einem Zirkelschluss, schon wieder zum Mainstream eigener Art wurde. Provokateure provozieren nicht mehr, sondern bringen uns zum Gähnen. Wir haben auch gelernt, dass die alte linke Rebellenweisheit, wonach der Kapitalismus Konformismus produziere, auf einem fundamentalen Irrtum beruhte. Ist es in Wahrheit doch umgekehrt: Der Kapitalismus lebt nicht von der Einförmigkeit, sondern im Gegenteil von der Differenz. Das hätte man schon früher wissen müssen, gilt dieses doch insbesondere für die fundamentale Einheit des kapitalistischen Wirtschaftens, die Ware. Die kann ja bekanntlich nur dann an den Mann und an die Frau gebracht werden, wenn sie sich von anderen Waren unterscheidet. Deswegen sind die meisten Waren heute Kultur-Waren (ihre Aufladung mit immateriellen Attributen wie Lifestyle ist entscheidend, nicht ihr Gebrauchwert) und deshalb imitieren viele Firmen auch den Gestus der Avantgarde – immer neu, immer hip, immer am Puls der Zeit. Und so wurde auch die Schrägheit, wie die Spießigkeit, zu einem Lifestyle unter vielen.

 

Diese kulturellen Trends und Einsichten verzahnten sich im vergangenen Jahrzehnt langsam, aber stetig mit generationalen Prozessen. Die Generation, die mit den Protestbewegungen und den alternativen Lebenskultur-Experimenten aufwuchs, wurde älter und irgendwie fast erwachsen, auch wenn sie sich oft sagen lassen muss, sie würde sich gerade dagegen sperren. Man heißt sie, wie etwa in der Süddeutschen Zeitung, „nervtötend orientierungslose, sich unablässig selbst beobachtende Schein-Jugendliche“, die sich einbildeten, auch „noch als 45-Jährige zum DJ oder Rebellen“ zu taugen. Unterstellt wird – gewiss nicht ganz zu unrecht -, diese Generation habe einen Horror davor, alt zu werden, was nicht zuletzt bedeutet, in ruhigere Bahnen zu geraten. Kurzum: spießig zu werden.

 

In einem in seinem Umfang gewiss überschaubaren, medial aber gefeierten Kreis von Zwanzig- und Dreißigjährigen begann man daraufhin, das Bürgerliche – die Konvention, die gepflegten Umgangsformen, den Smoking – zu polieren, aber nicht als Ausweis neuer Spießigkeit, sondern mit dem Gestus der ultimativen Rebellion. Gegen die Ältlichen, die das Rebellische zu einem gestischen Jargon unter vielen machten, revoltieren sie gerade mit aufreizenden Konformismus. Regelmäßig wird diese Sau seither durch’s Dorf des Feuilleton getrieben – mal als „Generation Golf“, mal als „Neue Bürgerlichkeit“. Dabei handelt es sich freilich um eine eigenartige Form des Spießigen – eine Spießigkeit, die mit dem Gestus des Rebellischen daher kommt. „Das Spießertum erscheint jungen Leuten auch deshalb so verführerisch, weil es sich so passgenau gegen jene in Stellung bringen lässt, die es einst vehement abschaffen wollten“, beobachtet die Süddeutsche und Diederich Diedrichsen formuliert in einem ausholenden Essay in Theater Heute paradox: Während einst die rebellischen Jugendkulturen sich mit dem Ziel, einen Distinktionsgewinn zu realisieren, vom bürgerlichen Mainstream abgrenzten, verspricht es heute „einen Distinktionsgewinn, wieder bürgerlich zu werden“. Ein „Kurzschluss“ der Individualisierung sei dies, liegt dessen Besonderheit doch darin „in Abgrenzung von der Abrenzung bei der Norm zu landen – als Abgrenzung, versteht sich. Man ist jetzt etwas ganz Verbotenes: ein Bürger, härter als jede Avantgarde“.

 

All dies natürlich mit einem ironischen Augenzwinkern, als Gag. „Augenzwinkern ist der zentrale Begriff der wiederentdeckten Spießigkeit“, erkennt die Berliner Welt, die man als rechtskonservatives Flaggschiff des Springer-Konzerns mit vollem Recht eine Kapazität in Spießer-Fragen nennen darf. Man könnte deshalb annehmen, dass sich das Spießige folglich erledigt hat, weil die grauen Ex-Rebellen nicht verspießern wollen und die jungen Neu-Spießer bloße Als-Ob-Spießer sind, die das Spießige nur als besonders extravagante Variante des Radical Chic inszenieren. Diese Deutung wurde in den Rang des Kults durch einen indes vielfach preisgekrönten Werbespot einer deutschen Landessparkasse erhoben, in dem ein kleines Mädchen mit ihrem alten Hippievater vor einem Wohnwagencamp sitzt. Das Mädchen erzählt von einer Familie, die in einem Eigenheim lebe. Der Vater sagt: „Das sind doch Spießer.“ Dann erzählt das Mädchen von einer Dachwohung. Der Vater sagt: „Auch Spießer.“ Und das Mädchen sagt: „Papa, wenn ich groß bin, dann will ich auch mal Spießer werden.“ Zweifellos ein genialer Versuch, die in Hipsterkreisen verpönten Bausparverträge zu bewerben.

 

Wenn aber wir Fortysomethings uns etwa mit altersuntypischer Kleidung dagegen sperren, irgendwie „normal“ zu werden, die Jüngeren das „Normale“ als schrägen Gestus unter anderen kultivieren – heißt das dann aber tatsächlich, dass die Frage des Spießertums sich vollends erledigt hat? Meine Lebenserfahrung – und mittlerweile habe ich davon auch schon einiges kumuliert – spricht dagegen. Irgendwie springt mich das Spießertum trotz all der Deutungen regelmäßig an. Ja, es springt mich geradezu im Mantel dieser Deutungen an. Da es sich bei den Deutungen um mediale Deutungen handelt, die nicht einfach „in die Debatte“ kommen, sondern von leibhaftigen Redakteuren in den Rang von Debatten erhoben werden, stellt sich gewissermaßen die wissensoziologische Frage, was denn die Redakteure und Autoren – also meinesgleichen – daran bewegt. Ich wage die These, dass kaum jemand ein derart lässiges – „augenzwinkerndes“ – Verhältnis zur Spießigkeit hat, wie proklamiert wird. Da sind einmal die gegenkulturell sozialisierten Frühvierziger, die sich dabei ertappen, wie sie ihre Kinder zwingen, abends die Zähne zu putzen, dass sie zunehmend gereizt darauf reagieren, wenn ihre Wohnung völlig versieft (und darum eine Putzfrau engagieren) und die mit wachsender Häufigkeit vor Mitternacht ins Bett gehen. Wenn man dann gelegentlich von 20jährigen mit „Sie“ angesprochen wird, so nistet sich der Schrecken im Kopf ein und die Frage: „Bin ich nicht mehr hip?“

 

Dann gibt es die große Zahl derer, die im Grunde Spießer sind und immer waren, jene, welche die gerade angesagten Bücher lesen, die gerade angesagten Meinungen vertreten, und deren Spießertum sich im Zeichen des Kulturkapitalismus nur lässiger camouflieren läßt. Die letztlich uncool sind, aber natürlich klug genug, um zu wissen, dass man es mit Un-Coolness nur zu etwas bringt, wenn man vorher die Un-Coolness zur definitiven Coolness erklärt. Es ist selbstverständlich auch nicht so, dass diese Leute alle die gleichen Meinungen vertreten, denn es gibt, wie bei den Klamotten, auch bei den Meinungen nicht nur eine, die gerade angesagt ist, sondern mehrere – sonst brächte es das Debattieren ja nicht zum Entertainement. Da es schwierig ist, die erlaubten angesagten von den erlaubten, aber unangesagten und von den möglicherweise originellen, aber unerlaubten Meinungen zu unterscheiden, trainieren sie sich einerseits ein gutes Sensorium für die Trenderkennung an, andererseits einen ironischen Sound, der sie auf die sichere Seite bringt, wenn sie einmal zur falschen Meinung greifen.

 

Es ist also ziemlich gewagt, zu proklamieren, das Spießige habe sich als Problem erledigt. Wahrscheinlich ist diese Proklamation ebenso wie die Adoleszenzverweigerung der „Schein-Jugendlichen“ eher eine Abwehrstrategie gegen das Spießertum, das sich einfach einschleicht – oder das man, wenn es einem einmal implantiert wurde, nie ganz los wird. Nahezu jede Wohnung, in die ich komme, ist spießig eingerichtet mit dem sofort sichtbaren Willen zur Unspießigkeit. Überall Spuren vom Bewußtsein, dass es auf’s Stilbewußtsein ankommt – und gleichzeitig überall das Beweis, dass dieses auch heute Mangelware ist. Es sei übrigens ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mir meine Lebenserfahrung auch lehrte, dass Stilbewußtsein keine Frage des Geldes ist – auch wenn es gewiss leichter ist, sich mit Geld unspießig einzurichten. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich häufig umstellt von Spießigkeit – von Traditionsspießern, Neuspießern und Alternativspießern –, ohne dass daraus freilich ein Distinktionsgewinn zu erzielen wäre: da man mit zunehmenden Alter ja die aggressive Selbstgewissheit der Jugend verliert, taugt die Verdammung der Spießer nicht mehr zur Verfertigung der eigenen Identität.

 

Die feuilletonische Erledigung des Spießigen, will ich also behaupten, ist kein Hinweis darauf, dass die Spießigkeit weniger verbreitet ist als früher – sondern dass der Horror vor der Spießigkeit weiter verbreitet ist denn je. Nicht die Gelassenheit angesichts des Spießigen hat sich verallgemeinert, sondern die Angst vor der Spießigkeit. Jeder fürchtet sich vor der eigenen Spießigkeit oder vor der Gefahr, spießig zu werden. Ja, selbst der demonstrativ Unspießige fürchtet dies insgeheim, weil der Nonkonformismus leicht zur billigen Pose gerät – schließlich sind billige Posen extrem spießig. Die Spießigkeit ist also ein Fluch, dem man nicht leicht entkommt. Darum auch der Trend, aus ursprünglich spießigen Dingen wie etwa Kochbüchern Kunst zu machen, sodass man im Buchladen diese ultimativen Accessoirs gediegener Häuslichkeit nicht mehr verschämt zwischen zwei Zeitschriften versteckt zur Kasse tragen muss („Genial kochen“). Darum auch die unablässigen Bemühungen von Galeristen, Klamottenhändlern und anderen, ihren betont schäbigen Läden den höchstmöglichen „Grindfaktor“ (c Armin Thurnher) angedeihen zu lassen, sodass die meisten Luxusländen heute aussehen wie früher die von Hausbesetzern okkupierten Abbruchimmobilien. Und ist es, um nur ein letztes Exempel zu nennen, der famosen Doris Knecht nicht gelungen, den Horror vor der eigenen Verspießerung zu einer regelrechten literarischen Gattung zu erheben?

 

Noch das lässigste – „augenzwinkernde“ – Spiel mit der eigenen Spießigkeit ist also nicht dessen Bejahung, sondern, vergleichbar der Operation, die Freud am Beispiel der „Verneinung“ beschrieben hat, der Versuch, diese zu bannen: das Entsetzen der Spießigkeit. Denn Spießer sind, dies zumindest bleibt unverändert, das Letzte!

 

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