Der neue Unterchic

Die einen kaufen bei Manufactum ein, die anderen lieben Feldbusch, die Lugners und Paris Hilton. Mit dem Unterschichtenlifestyle übersetzt sich heute kulturelle Deklassierung in materielle Chancenlosigkeit.  Standard-Album, 11. November 2006

 

In ihrem Song „Wer wird Millionär?“ fragte die Berliner Band „Britta“ vergangenes Frühjahr angesichts des prekären Lebens mancher urbaner Kulturarbeiter: „Ist das noch Bohème oder ist das schon die Unterschicht?“ Damit waren die Selbstzweifel mancher metropolitaner Bobos in Refrainzeilen gegossen.

 

 

Ein Schuss Koketterie war natürlich auch dabei. Denn die Frage so zu stellen, heißt natürlich gleichzeitig, sie zu beantworten: Boheme ist nicht Unterschicht. Zur Unterschicht zählt man nicht nur wegen harter, materieller Faktoren wie Monatseinkommen oder weil man gerade keinen Job hat. Wer „Unterschicht“ sagt, meint immer auch sanfte, kulturelle Faktoren. Das ist es ja, was den Begriff gerade so populär macht.

 

Tricky wird die Sache dadurch, dass sich die kulturelle und ökonomische Dimension heute gar nicht mehr so leicht auseinander halten lassen: Wer zu den „kreativen Klassen“ zählt, ist, auch wenn er materiell schlecht da steht, letztendlich obenauf. Wer aber materiell unten ist und dem es auch an kulturellen Kompetenzen mangelt, der ist in Chancenarmut gefesselt. Wer ökonomisch und kulturell unten ist, der kommt da nicht mehr raus. In der zeitgenössischen Ökonomie, in der Branding, Selbstmarketing, Kreativität, Flexibilität und symbolische Kompetenzen entscheidende wirtschaftliche Erfolgskriterien werden, trägt also Kultur zu Ungleichheit bei. Das ist schließlich auch der Sound aller gegenwärtigen Bildungsdebatten.

 

Der gerade so moderne „Unterschicht“-Begriff ist darum ambivalent. Er beschreibt ein reales Problem – wachsende Ungleichheit und ein gesellschaftliches Segment faktisch Chancenloser –, aber nicht selten auf eine Weise, die zumindest insinuiert, die Unterklasse ist daran selber schuld: weil sie ihren Unterschichtslifestyle kultiviert, weil sie dauernd vor der Glotze hängt und Unterschichtenfernsehen guckt, weil sie sich mit Unterschichtenentertainement unterhält und eben nicht anstrengt. Und für die Ober- und die bildungsnahen Mittelschichten ist die Entdeckung des Unterschichtenlifestyle ein prima Mittel für soziale Distinktion.

 

Unterschichtler, das sind aus dieser herablassenden Perspektive Menschen in bunten Unterschichtentrainingsanzügen mit Unterschichthunden (die eher bissigen Rassen), die auf grelle Farben und entsprechende Materialien stehen – nix öko, nix bio. Am trainierten Männerbizeps haben sie flächendeckende Tatoos, am Frauenrücken ein Arschgeweih und daheim die neueste Unterhaltungselektronik, die sie sich von der Sozialhilfe kaufen. Sie essen Unterschichtsessen, weshalb die Unterschichtler meistens auch fett sind, sie sehen Unterschichtssender – RTL, Sat-1, Pro Sieben –, und kennen sich gut aus im Leben der Unterschichtscelebrities: Paris Hilton, Verona Feldbusch, die Lugners, Hugo Egon Balder, Hella von Sinnen, Stefan Raab. Ihre Kinder hängen in den Parks rum, am liebsten aber in den „Urban Entertainment Center“, wie die modernen innerstädtischen Shoppingmalls heute heißen. Dem Nachwuchs geben sie übrigens meist Namen, die sie nicht aussprechen können. „Schakeline“ etwa. Böse Zungen sprechen auch vom „Kevinismus“. Und in den Krawallshows am Fernsehnachmittag kommen sie zu kurzen Ruhm, bei Big Brother zu längerem, vorausgesetzt, sie lassen sich in Container sperren und zum Gaudium des Publikums abfilmen. „Diese Fernseh-Unterschicht“, schrieb Diedrich Diederichsen in der „Süddeutschen Zeitung“, ähnelt „am ehesten dem, was in der Antike ein Gladiator gewesen sein muss. Ein Elender, dessen Elend zugleich Voraussetzung für eine bestimmte Art Ruhm ist.“

 

Freilich, dieser Unterschichtslifestyle ist nicht nur eine phantastische Projektion der neuen Oberschichten, die ihre soziale Dominanz durch Etablierung immer neuer feiner Unterschiede zelebrieren, sondern eine Realität, die sich nicht einfach durch Kulturkritik verscheuchen läßt. Zu einem gewissen Teil ist dieser „Unterchic“ Selbststigmatisierung derer, die sich gesellschaftlich als überflüssig erleben; er ist zudem, anders als in früheren Zeiten, als „Kultur“ ebenfalls ein probates Mittel zur „Legitimierung sozialer Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) war, Ausdruck der Integration der Habenichtse ins konsumistische Universum. Dieselbe Wirtschaftsordnung, die die Unterschichtler aus der Welt der Güterproduktion aussortiert, stellt ihnen Waren zur Verfügung, einen persönlichen Stil, den sie sich zusammenkaufen können. Denn auch wenn sie keinen Job haben, haben sie Kaufkraft, und die wird in den Konsumkreislauf eingespeist. Dass die Unterschichten auch noch durch Entertainment ruhig gestellt werden, ist ein Nebeneffekt, der durchaus begrüßt wird.

 

Damit werden freilich auch die Blütenträume fortschrittsfröhlicher Soziologen etwas welk, die hofften, der Lifestylekapitalismus würde für mehr gesellschaftliche Gleichheit sorgen, indem er die Individuen ungleicher macht. Die Idee lautete ja etwa folgendermaßen: Die Gesellschaft differenziert sich in unzählige Lifestylegemeinschaften auf, aber damit wird das Schicht- oder Klassenmodell obsolet, weil keine zentrale Norm mehr existiere und kein Lebensstil von sich in Anspruch nehmen kann, wertvoller als der andere zu sein.

 

Die Karriere der Unterschichtsvokabel zeigt, dass das nicht stimmt. Im Gegenteil: Es wird wieder ein scharfer Blick von oben nach unten geworfen. Oben stellt man „die eigene Verfeinerung“ aus, man ißt gesund und kauft bei Manufactum ein, und in die Sozialstaatsdiskussion schleichen sich „kulturelle Werturteile“ ein (Der Spiegel). Verkompliziert wird die Sache noch durch den Umstand, dass diese Urteile weit davon entfernt sind, trennscharf zu sein. Die Unterschichtkultur, die panische Verfechter einer „Neuen Bürgerlichkeit“ wie die deutschen Professoren Paul Nolte und Norbert Bolz schnöselig beklagen, wird auch wegen ihrer Anziehungskraft auf die Mittelschichten verdammt. Vor dem Gameboy hängen ja nicht nur die Hauptschüler, sondern auch die mehr oder weniger wohlstandsverwahrlosten Mittelstandskids, Tatoos und Piercings sind gerade eben keine Insignien von Häfenbrüdern mehr, sondern Unterschichtspraktiken, die zu massenkulturellen Praktiken aufgestiegen sind. „Sozial ist der Weg von unten nach oben verriegelt – doch in der Popkultur sind die Klassengrenzen durchlässig“, schreibt Stefan Reinecke in der Berliner „tageszeitung“. So können Gesten der Selbststigmatisierung auch in Selbstbewusstsein der Unterklasse umschlagen – man denke nur an Eminem und die Nobilitierung des Wortes „White Trash“.

 

Die Regel freilich ist das nicht. Die lautet eher folgendermaßen: Die Zeichenmächtigen und Symbolkompetenten, die heute alle Chancen haben, halten sich mit der Unterschichtsvokabel die Chancenlosen vom Hals, auch „um bannen zu können, was sich als politisches Problem in diesem Leben und diesem System nicht mehr lösen lassen wird“ (Diedrich Diederichsen). Gleichzeitig kannibalisieren und kapitalisieren sie den Zeichenfundus der Unterklasse, etwa in der Mode – da ist dann gerne von der „Street Credibility“ die Rede.

 

Wir dürfen also diagnostizieren: Während sich im abgehängten Prekariat die Chancenlosigkeit ballt, wird der kulturelle Klassenkampf von oben härter.

Ein Gedanke zu „Der neue Unterchic“

  1. S.G Herr Misik,
    ihr Artikel ist schlichtweg grandios.
    Ich begab mich extra bei google auf die Suche nach Ihnen, um Ihnen das in irgendeiner Weise mitteilen zu können.
    Ihr Schreibstil ist bewunderns- und beneidenswert.
    Ich werde mir gleich morgen Ihr Buch kaufen.
    LG aus Wien19

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.