Wild Leben

 Was die neue Bohème von der alten lernen kann: Die Tagebücher des legendären Dandys Oskar A. H. Schmitz aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende. taz, 4. November 2006

 

 

Sie erlebt heute eine seltsame Wiederauferstehung: die Bohème. In Zeiten von verlängerter Jugend, schlechter Jobaussichten und der Ausweitung der halb- und informellen Ökonomie mit ihren brummenden Quartieren aus Kneipen, Internetschuppen, Galerien und dem Hangeln von Projekt zu Projekt ist eine Art moderner Bohème plötzlich wieder da: der Typus des metropolitanen Twenty- und Thirtysomethings, der mit irgendetwas beschäftigt ist, unterbezahlt, aber nicht unglücklich, der prekär, aber dafür selbstbestimmt lebt. „Neuzugänge bei der Bohème“, hat das der deutsche Essayist Michael Rutschky nicht unironisch genannt.

 

Was die „neue Bohème“ von der „alten Boheme“ freilich unterscheidet: die Urfigur des Bohemiens stilisierte sich, mit einem guten Schuss Rebellentum und mehr als einer Prise Dandyness, zur Gegengestalt des Wirtschaftsbürgers, verachtete Kapitalismus, Kommerz und Geschäftemacherei und wurde im Gegenzug auch als Outcast gesehen, dem es an Fleiß und Leistungswille fehlt. Die heutige Bohème ist dagegen die Idealfigur des flexiblen Kapitalismus, agil, jederzeit änderungsbereit, ohne Sicherheitsbedürfnis, geradezu geschaffen für die grassierenden deregulierten Arbeitsverhältnisse. Schon ist im Standortmarketing der Großstädte wie selbstverständlich vom „Wirtschaftsfaktor Bohème“ die Rede. Was die alte und die neue Bohème abgesehen von phänomenologischen Ähnlichkeiten wie einem Instinkt für Stil und Trends verbindet, ist aber vor allem eines: es ist ein Milieu des Übergangs, das sich dann ausbreitet, wenn das Alte überlebt ist und etwas Neues entsteht, ohne dass man schon genau weiß, was daraus wird.

 

Die Tagebücher des deutschen Schriftstellers Oskar A. H. Schmitz, gehoben aus den antiquarischen Tiefen des Marburger Literaturarchivs, erlauben nun einen faszinierenden Blick in die Welt der frühen Bohème. Schmitz, eine seltsame Figur, befreundet mit Thomas Mann, in der engeren Umlaufbahn des Stefan-George-Kreises, gepriesen von Hugo von Hofmannsthal, war um die vorletzte Jahrhundertwende eine große Nummer. Ein „sympathischer, hell und bewegt redender, gescheiter Kerl“ (Thomas Mann), der Gedichte schrieb, eine Benjamin-Disraeli-Biographie verfasste, zudem Reiseberichte, kleine Abhandlungen und ein Buch über Haschisch. Der sich für alles Neue interessierte, seine Zeit aufsaugte, Weltmann, polyglott, selbstbewusst.

 

Ein bisschen aristokratische Allüren, ein bisschen Snobismus, ein bisschen Reaktionär, ein bisschen Revolutionär driftete er durchs Leben, fegte er durch die Schwabinger Szene in München und die Nächte am Pariser Montmartre. Ein kluger, wacher Beobachter, schrieb er auch viel haarsträubenden Unsinn, er interessierte sich für den Wandel der Sitten ebenso wie für neue okkulte Praktiken. Kurt Tucholsky beschrieb ihn als jemanden, „der sich unverblümt mit den unglaublichsten Ansichten hervorwagt“. Sein Liebesleben war sagenhaft bewegt. Er lebte in einer Welt, in der die jungen Frauen schon aus der behüteten Welt der Familie ausbrachen, in der wirklich emanzipierte Frauen aber auch die Bohème-Männer noch aus der Fassung brachten (und die das, anders als heute, nicht einmal verschwiegen). Sehr fasziniert war er auch von der Halbwelt. Schmitz war, kurzum, rührend modern und erschütternd altmodisch zugleich. In den Tagebüchern kann man eintauchen in die Abenteuer, die diese Zeit bereit stellte, auch dank der Beobachtungsgabe des Autors. So kann er in wenigen Sätzen ein Mädchen skizzieren, „welches aussah, als wäre es ohne Mund geboren und als habe man später mit einem dünnen Messer eine kleine kurze Spalte in das Fleisch geritzt“ und ein paar Seiten weiter bekunden, er liebe das Einfach-Animalische und das Verfeinerte gleichermaßen, „nie das Mittlere“. Der erste Band behandelt die Jahre 1896 bis 1906, insgesamt ist die Ausgabe auf drei Bände angelegt.

 

Was an Schmitz’ Betrachtungen fasziniert, ist freilich nicht ihre Klarheit, sondern im Gegenteil ihre Verwirrtheit. Man sieht retrospektiv deutlich, wie eine rasante Zeit die Zeitgenossen hin und her beutelt. Auch das hat die neue Bohème mit der alten gemein – diese quälende Identitätssuche, den Mangel an Orientierungen, die Zweifel, ob das richtige Leben nicht das Falsche ist.

 

Oskar A. H. Schmitz: Das wilde Leben der Bohème. Tagebücher 1896-1906. Herausgeber: Wolfgang Martynkewicz. Aufbau-Verlag, Berlin, 2006. 541 Seiten, 58.- €

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