Lateinamerika. Venezuelas Präsident Hugo Chávez, Darling der Globalisierungskritiker und Modell neugewählter linker Regierungen in Lateinamerika, rüstet sich für eine weitere Amtszeit. Aber was können Chávez & Co. wirklich? profil, 4. Dezember 2006
Der Mann hat sichtlich Spaß an der Provokation. Entspannt sitzt Hugo Chávez an seinem Schreibtisch, vor sich unzählige Papiere und ein aufgeschlagenes Buch. Wie jede Woche in seiner TV-Show „Aló Presidente“ trägt er das rote Kurzarmhemd, das längst schon die Offiziersuniform und das rote Barett als sein Erkennungsmerkmal abgelöst hat. „You are a donkey, Mister Danger“ – „Sie sind ein Esel, Herr Gefährlich“ – legt er los. Das Publikum tobt, wie immer. „Mr. Danger“ ist der verächtliche Name, den der venezuelanische Präsident seinem US-Amtskollegen George W. Bush verliehen hat, als dessen härtesten Gegenspieler sich Hugo Chávez inszeniert. Und Chávez, eine eigentümliche Mischung aus Revolutionär, Machtpragmatiker und postmodernem Showman, ist ein Meister der Inszenierung.
Erst vor wenigen Wochen lieferte der 52jährige vor der UN-Generalversammlung einen dieser denkwürdigen Auftritte, nur einen Tag, nachdem dort George W. Bush gesprochen hatte. „Der Teufel war gestern hier“, ulkte Chávez, und bekreuzigte sich mit großer Geste. „Es riecht noch nach Schwefel.“ Die Weltdiplomaten zerkugelten sich vor Lachen.
Auch Hugo Chávez wird, danach sieht es aus, das Lachen so schnell nicht vergehen. Kaum jemand zweifelte zuletzt an einem Sieg des einstigen Fallschirmjäger-Comandante bei den Präsidentschaftswahlen vergangenes Wochenende. Zwar hatte sich die Opposition auf einen einzigen Gegenkandidaten geeinigt, auf den liberalen Sozialdemokraten Manuel Rosales. Sogar einer der weltberühmtesten Spin-Doctoren wurde für die Kampagne organisiert – Dick Morris, der einstige Berater von Bill Clinton. Aber der hatte, nach kurzer Begutachtung des Herausforderers, schnell wieder die Heimreise angetreten: „Ich bin daran gewöhnt, Wunder zu vollbringen“, sagte Morris, „aber hier ist einiges mehr nötig“.
Gewinnt Chávez, kann er bis 2013 im Miraflores-Palast regieren. Seit seinem Amtsantritt 1999 gelang es dem caudillohaften Ex-Militär nicht nur, sich zum neuen Heroen der globalen linken Szene zu stilisieren, auch das Antlitz Lateinamerikas hat sich verändert – teils mit gehörigem Zutun des venezuelanischen Präsidenten. Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien werden von moderaten linken Präsidenten regiert, Venezuela, Bolivien und Ecuador erlebten eine scharfe Wendung nach links – hinzu kommt noch die kommunistische Langzeit-Bastion Kuba. Hugo Chávez und sein bolivianischer Companero Evo Morales wollen nichts weniger als ein neues, alternatives Entwicklungsmodell vorexerzieren.
Der Aufstieg der moderaten und populistischen Linken hat das internationale Gleichgewicht erheblich verändert. Kaum jemand bestreitet, dass es gute Gründe gab, die zum Pendelschlag nach links geführt haben: die Korruption der lokalen Eliten, die bittere Armut der Mehrheit der Bevölkerung, die Schocktherapien, die die Institutionen wie der Internationale Währungsfond (IWF) den Ländern aufzwangen. Umstrittener freilich ist, ob die Konzepte der neuen Linken etwas zum Besseren wenden können. Da wird nichts daraus, sagt, sinngemäß, etwa Jorge Castaneda, Politikprofessor und einstiger mexikanischer Außenminister. Während sich paradoxerweise die Linksradikalen in Brasilien, Chile und Uruguay zu Sozialliberalen wandelten, „hat die populistische Linke nichts dazugelernt“. Die sei unmodern wie eh und je. „Unsinn“, sagt Tariq Ali, der legendäre britisch-pakistanische Radikale, der gerade ein Buch über die neuen Linken in Lateinamerika geschrieben hat und ein enger Freund von Chávez ist: „Was Chávez und Morales machen, ist das gleiche, was Bruno Kreisky, Willy Brandt und Olof Palme in Europa machten – sie bauen einen Wohlfahrtsstaat auf.“ Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, sicher kein linksradikaler Heißsporn, sieht das im profil-Interview (profil 47/2006) ganz ähnlich: Chávez setze den Reichtum seines Landes ein, „um ein Bildungs- und Gesundheitssystem in den Armenviertel einzuführen“. Das sei „eine Investition in die Menschen“ und damit genau das, was für nachhaltige Entwicklung nötig ist – ohne qualifizierte Arbeitskräfte, so Stiglitz, habe schließlich keine Volkswirtschaft die Chance, sich aus der Unterentwicklung zu befreien.
„Sehen Sie sich hier um“, sagt Arturo Ferron, einer der vielen hunderttausenden Bewohner der Armenviertel am Rande von Caracas. Hier hat die Chávez-Regierung in den vergangenen zwei Jahren mit ihren „Missiones“-Programmen beträchtliche Erfolge gehabt. Es gibt Schulen für die Kinder, Lehrprojekte für die Analphabeten, Ausbildungsstätten, die die Leute bis zur Hochschulreife bringen wollen. Wer eines der Bildungsprogramme besucht, erhält bis zu 100 Dollar Stipendium pro Monat. Dazu gibt es Kliniken, Gratis-Augenoperationen und Läden, wo die Armen subventionierte Lebensmittel kaufen können. „Wir sind das einzige Land der Welt, das so viel verändert hat“, sagt Ferron. Finanziert wird all das durch die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft. Die Ärzte kommen aus Kuba – Castros Insel erhält im Gegenzug gratis Benzin. Ohne Öl-Boom wäre all das zwar nicht möglich, doch, so Ferron, „es gab vor 20 Jahren auch einen Öl-Boom, aber damals haben wir hier nichts von dem Geld gesehen“.
Heute ist die Analphabetenrate offiziell bei Null angelangt, und auch die Weltbank lobte in ihrem jüngsten Bericht die „substantiellen Fortschritte“ im Kampf gegen die Armut. In den Barrios, den Armenviertel, sitzen deshalb die treuesten Anhänger von Chávez. Sie waren 2002 auf die Straße gegangen, als die rechtsliberale Opposition gemeinsam mit dem Militär Chávez aus dem Amt putschen wollte und hatten den Präsidenten, der schon im Gewahrsam der Generalität war, wieder zurückgeholt; sie haben 2004 massenhaft für Chávez gestimmt, als die Opposition ein Abwahlreferendum gegen den Präsidenten anstrengte.
Freilich, noch macht Chávez’ Regierung nicht viel mehr, als die Ölerlöse, die früher von den Eliten auf Konten ins Ausland verschoben wurden, umzuleiten. Evo Morales, seit Jahresbeginn Präsident von Bolivien, hat ähnliches vor. Anfang Mai dekretierte Morales die Nationalisierung der immensen Gasvorkommnisse seines Landes. Was zunächst wie eine kommunistische Enteignungsaktion wirkte, von der es hieß, sie würde westliche Investoren aus dem Land treiben, entpuppte sich als großer Erfolg. Die Gasfirmen, darunter Konzerne aus den USA, Spanien und Frankreich, blieben im Land und verhandelten die Schürfrechte neu. Bisher mussten die Firmen nur 18 Prozent des geförderten Gas an den Staat abliefern, 82 Prozent konnten sie verkaufen – und das auch noch steuerfrei. Morales hat die Quoten einfach umgekehrt.
Doch was den „neuen Sozialismus“ erst ermöglicht – der Rohstoffreichtum und die exorbitant hohen Energiepreise – könnte sich auch als ein Fluch erweisen. Allein in diesem Jahr schwemmt das Öl 85 Milliarden US-Dollar in die venezuelanische Staatskasse. Die Regierung investiert in Sozialprogramme und Infrastruktur, aber sehr wenig in die Entwicklung der Industrie. Seit jeher schon exportiert Venezuela Öl und Gas – und ansonsten praktisch nichts. Die Armen erhalten Geld, Essen, Bildung, medizinische Versorgung – wichtige Dinge, gewiss. Aber noch immer gibt es für sie nur sehr selten Jobs. „Die Abhängigkeit vom Öl hat sich eher noch verstärkt“., sagt Julia Baxton, Expertin für internationale Zusammenarbeit an der Bradford University. Venezuelas Wirtschaft ist eine Öl-Monokultur, wie es sie ansonsten außerhalb des Nahen Ostens nicht gibt.
Was die Linken in Lateinamerika versuchten, sei ein „protektionistischer Staatskapitalismus“ von der Art der asiatischen Tigerstaaten, verteidigt der Soziologe Heinz Dietrich, ein deutscher Berater Chávez, diese Politik – „die einzige Entwicklungsstrategie, die in der modernen Geschichte erfolgreich aus der Unterentwicklung geführt“ habe. Freilich, erfolgreiche asiatische Ökonomien wie Südkorea oder auch China haben zielstrebig in die Entwicklung wettbewerbsfähiger Industrien investiert.
Nicht, dass die venezuelanische Regierung dieses Problem nicht sehen würde – Chávez reiste nach China und schloß Verträge mit High-Tech-Firmen, auf seinem Indientrip machte er ausgiebig in Bangalore Station, dem IT-Paradies des Subkontinents. Kredite sind spottbillig, was innovative Investitionen begünstigen sollte – doch noch fließt der wachsende Wohlstand vorwiegend in den Konsum.
Noch aus einem anderen Grund sind die Einnahmen aus dem Ölgeschäft womöglich ein Fluch: der Staatsapparat wird aufgebläht, gespart muss nicht werden. Das Resultat ist Korruption. Die NGO Transparency International setzte Venezuela zuletzt auf Platz 130 von 159 Ländern auf ihrem Korruptionsindex. Zwar misst das Institut nur, ob mehr Korruption „wahrgenommen“ wird – weshalb ein Anstieg auch dadurch erklärt werden kann, dass Korruption heute offensiver bekämpft und nicht einfach totgeschwiegen wird -, aber das Problem selbst wird von der Regierung durchaus eingeräumt. „Die Regierung hat nicht genügend Regeln erlassen, wie die Verwendung der Gelder kontrolliert und ihr Nutzen überwacht werden soll“, sagt Domingo Maza Zavala, der Direktor der venezuelanischen Zentralbank, der immerhin selbst von Chávez ernannt wurde. Und wo die Bedeutung des Staates als Geld- und Arbeitgeber so groß ist, da wachsen nahezu automatisch die autoritären Versuchungen.
Dass Kritik dieser Art auch lautstark aus dem Staatsapparat selbst kommt, ist eine der vielen Ambivalenzen des „Chavismo“. Chávez, der gerne den Caudillo gibt, das polternde Rauhbein, ist die Verkörperung dieser Ambivalenzen. Einen „Paradiesvogel aus einer fremden, tropischen Galaxie“, nennt ihn der deutsche Autor Christoph Twickel in einer jüngst erschienenen Biographie. In seinem Gebaren ruft Chávez Erinnerungen an die autokratisch-populistischen Caudillos wach, die Lateinamerika mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt – jener Chávez, der selbst vor zehn Jahren beklagte: „Der Virus des caudillismo, des Personenkults ist überall präsent.“ Er stilisiert sich zum Nachfolger Castros, begegnet seinem Volk mit der pädagogischen Attitüde des Erziehers – Chávez Eltern waren beide Lehrer – und nicht wenige fürchten, wie so viele sozialistische Experimente zuvor werde auch Chávez Regierung zu einer autoritären Diktatur entarten. Seine Tete-a-Tetes mit Autokraten wie dem weißrussischen Präsidenten Aleksander Lukaschenko oder den iranischen Hitzkopf Mahmud Ahmadineschad tragen wenig dazu bei, derartige Sorgen zu zerstreuen. Andererseits: in Chávez Regierungspraxis gibt es für diktatorische Allüren bisher eher wenig Indizien. Die übergroße Mehrheit der Zeitungen und privaten TV-Sender überziehen ihn mit geradezu gehässiger Kritik – ohne dass der Präsident sie daran hindern würde. Politische Gefangene gibt es in Venezuela nicht – die Putschisten, die ihn 2002 absetzen wollten, wurden größtenteils nicht einmal aus der Armee entlassen. Als die Opposition das Abwahlreferendum gegen Chávez anstrengte, ließ er sie gewähren – und gewann haushoch. Mit ihrer fatalen Fehlentscheidung, die Parlamentswahlen zu boykottieren, hat die Opposition selbst dazu beigetragen, dass Chávez Gefolgsleute die Nationalversammlung dominieren. Zwar gibt es Klagen, Chávez setze die Höchstrichter unter Druck und Leute, die für seine Abwahl unterschrieben hätten, würden keine Jobs im Staatsdienst bekommen – aber das ist es im Wesentlichen schon.
„Die venezuelanische Politik scheint vom Surrealismus ergriffen zu sein“, so der kolumbianische Historiker Medófilo Medina. Die Opposition erklärt Chávez zum Tyrannen, während der sich selbst zum Revolutionär und Welterlöser stilisiert – mit der Realität habe beides nichts zu tun. Wenn irgendetwas nach Sozialismus riecht, dann die Partizipationsmodelle von der Art der Bürgerbeteilung und lokaler Selbstverwaltung sowie die Experimente mit Arbeitselbstverwaltung, die neuerdings in 100 kleinen Unternehmen erprobt werden. Doch sehr weit über zentraleuropäische Mitbestimmungsregeln gehen auch die nicht hinaus. Allerdings haben diese Modelle positive homöopatische Effekte: die unteren Schichten haben den Eindruck, sie haben im Staat etwas mitzureden.
Ganz gewiss jedenfalls ist Chávez ein begnadeter Showman, der seine Gegnerschaft zu US-Präsident George W. Bush mit Genuss pflegt. Womöglich ist er seinem großen Gegenspieler insgeheim vielleicht sogar dankbar. Hat doch der Irakkrieg des US-Präsidenten nicht unerheblich zum Anstieg des Ölpreises in jene schwindelnden Höhen beigetragen, die es Chávez erlauben, seinen „bolivarischen Sozialismus“ zu finanzieren. Den zahlen – buchstäblich – die US-Amerikaner. Schließlich gehen mehr als 55 Prozent der venezuelanischen Ölexporte in die USA.