Der sozialdemokratische Realist

Zur Physiognomie eines Menschenschlags, der stets an der Wirklichkeit scheitert. Standard, 5./6. Juli 2008

 
Unter den Sozialdemokraten trifft man nicht selten jene „praktische Männer“, die sich für „Realisten“ halten. Es ist nicht so, dass der „Realist“ Treue zu politischen Werten grundsätzlich ablehnt. Es ist auch nicht so, dass der „Realist“ nicht selbst den Werten der Sozialdemokratie „grundsätzlich“ anhängt. Der „Realist“ wäre auch durchaus für eine Politik, die mehr soziale Gerechtigkeit herstellt, er meint auch keineswegs, dass gut integrierte Immigranten und deren hier geborene Kinder abgeschoben werden sollen, auch er findet es unschön, wenn Abgeschobene bei ihrer Außerlandesschaffung ersticken und auch der „Realist“ schürt die niederen Instinkte der Menschen nur mit Widerwillen, ja, er würde sich ehrlich freuen, wenn es solche niederen Instinkte nicht gäbe und wenn er es nicht nötig hätte, ihnen zu schmeicheln. „Eigentlich“ ist er ja auch für die EU, „eigentlich“ ist er ja auch für ein liberales Strafrecht, „eigentlich“ ist er ja auch für eine lebendige Demokratie.
 
Denn der „Realist“ ist ein guter Mensch. Was ihn von den „Nicht-Realisten“ mit seinen Meinungen unterscheidet, ist, dass er meint, diese sollten doch bitte schön die Realität zur Kenntnis nehmen.
 
Denn der „Realist“ ist auch ein kluger Mann. Er hat privilegierten Zugang zu einem Wissen, das den Menschen, die den „Realisten“ stets kritisieren, nicht gegeben ist. Es gibt nämlich neben dem „Realisten“ noch einen anderen Menschenschlag, und den kennt der „Realist“ sehr gut: Das ist der „einfache Mann“, gelegentlich auch „die Menschen draußen“ genannt, manchmal auch „die Basis“.
 
Der „Realist“ weiß, was der „einfache Mann“ will. Der „Realist“ ist auch ein Held, denn er passt seine Überzeugungen den Meinungen des „einfachen Mannes“ an. Aus der Sicht des „Realisten“ ist es leicht, ein „Idealist“ zu sein, das verlangt einem nichts ab, aber „Realist“ zu sein, das ist eine tragische Herausforderung, und der „Realist“ nimmt sie gerne an. Er ist bereit, den Schimpf seiner Freunde auf sich zu ziehen, zum Wohle der Gemeinschaft.
 
Da es seit längerer Zeit vor allem „Realisten“ dieses Schlages an die Spitze der Sozialdemokratie schaffen, steht die Sozialdemokratie in voller Blüte. Sie schmiegt sich an an die Meinungen der „Menschen da draußen“ und da die einfachen Männer mit ihren Vorurteilen und ihren nicht immer schönen Meinungen die erdrückende Mehrheit des Elektorats stellen, eilt die Sozialdemokratie von Sieg zu Sieg. Früher wurde sie zwar gelegentlich auch schon von realitätsklugen Männern geführt, aber die hatten ein paar Ideale, die sie sich nicht nehmen lassen wollten. Das stand einer Verbreiterung der sozialdemokratischen Wählerbasis natürlich immens im Wege, sodass die Partei zu ihrer Zeit meist in der Minderheit blieb, höchstens eine knappe relative Mehrheit erzielte. Einstmals, in dieser noch frühreifen Phase ihrer Existenz, erzielte die Partei höchstens Wahlerfolge von 30 oder 33 Prozent, wohingegen sie heute, durch die Hilfe der „Realisten“, satt über der Marke der absoluten Mehrheit landet.
 
Halt. An dieser Geschichte stimmt doch etwas nicht? Aber was? Etwas, das so offensichtlich ist, dass es uns kaum mehr auffällt. Warum wollen eigentlich, je mehr die Sozialdemokratie  sich mit den angenommenen Instinkten der „Menschen da draußen“ arrangiert, immer weniger von diesen Menschen etwas von ihr wissen? Das ist doch erklärungswürdig. Haben die Menschen vielleicht gar nicht die Meinungen, von denen die Realisten denken, sie würden sie haben? Denken die Menschen vielleicht sogar exakt das Gegenteil von dem, was die „Realisten“ annehmen? Schließlich würden das die gloriosen „Erfolge“ der „Realisten“ nahelegen. Aber auch das ist natürlich nicht der Fall. Der sprichwörtliche Mensch „draußen“ hat jene Meinungen und diese auch, und die widersprechen sich nicht selten. Aber nicht nur die „Meinungen“ zu einzelnen zentralen Fragen der politischen Debatte sind bei den meisten uneindeutig, auch die Werthaltungen, das Rahmenwerk der Weltdeutung, sind durchaus unscharf. Mal tickt derselbe Mensch „solidarisch“, während er bei anderer Gelegenheit dem „Recht des Stärkeren“ applaudiert; mal hasst er alles, was anders ist, mal freut er sich, wie „malerisch“ eine bunte Welt ist; mal schimpft er über Wien, mal über Brüssel; mal bewundert er die Reichen und Schönen, mal verteufelt er ihre Gier; mal beklagt er, dass alles zur Ware wird, mal ärgert er sich, dass er nicht alles zum Schnäppchenpreis kriegt; mal erwacht in ihm der Kooperationsgeist, mal fährt er seine Ellbogen aus; mal schimpft er über Emanzen, mal bewundert er Hillary; mal kommt er seinen Kindern autoritär, mal lässt er sich auf Debatten mit ihnen ein.
 
Wenn sich der „Mensch da draußen“ widerspricht, dann zieht ihn höchstens sein Kumpel am Stammtisch auf (meist auch das nicht, weil man sich gemeinsam in den einander widersprechenden Meinungen bestätigt). Passt sich der „Realist“ aber den erratischen Meinungen an, die da so kursieren, dann fällt das bald auch noch dem stumpfsinnigsten „Menschen da draußen“ auf. So ungerecht ist die Welt: Der „Realist“ verbiegt sich, und der „einfache Mann“ lacht sich bestenfalls schief. Meistens zeigt er mit dem Finger auf den „Realisten“ und fällt sein Todesurteil: der ist „nicht echt“.
 
Vor allem aber: Was die „Menschen da draußen“, auf die der „Realist“ so viel gibt, an einem Politiker aufstößt, ist wohl nicht, dass der das eine oder andere Mal eine andere Meinung vertritt, als er und seine Freunde. Was ihn abstößt, ist, dass ihm keine Geschichte, kein überzeugendes Setting an Werten, kein schlüssiges moralisches Ethos angeboten wird, in das sich diese Meinungen fügen. Im Gegenteil: Der „Realist“ kommt den „Menschen draußen“, mit den erratischen Meinungen, von denen er glaubt, sie hätten sie. Aber je mehr sich der „Realist“ an den „einfachen Mann“ ranschmeißt, umso deutlicher wird für den, dass der „Realist“ nichts ernst meint. Ihretwegen wirft der „Realist“ seine Überzeugungen über Bord und wie danken es ihm die „Menschen draußen“? Sie werfen ihm vor, er stehe für nichts.
 
Freilich, der „Realist“ erkennt dies nicht als Undank des „einfachen Mannes“, sondern als Forderung, noch weiter zu gehen: Man müsse den „Menschen da draußen“ dann eben noch ein paar Schritte mehr entgegen gehen. Der sozialdemokratische „Realist“ ist nicht nur ein unsympathischer Mann, er ist auch ein realitätsfremder, und eine seiner skurrilsten Eigenschaften ist, dass ihm nicht einmal auffällt, dass er andauernd, stets und fortgesetzt an der Realität scheitert.

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