Klepto-Kapitalismus

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz beklagt in seinem neuen Buch, dass wir aus der Krise bislang nicht allzu viel gelernt haben. Berliner Zeitung, 9. September 2010

Die Krise ist auch nicht mehr ganz jung. Nach Bankenrettung und teuren Konjunkturprogrammen sind nun in einer dritten Phase die Staaten an der Reihe, die so überschuldet sind, dass sie an den Finanzmärkten keine Kredite mehr bekommen, mit denen sie ihre Zahlungsverpflichtungen aus früherer Kreditaufnahme nachkommen könnten. Dies ist dann der Punkt, an dem ein Staat „bankrott“ ist. Da die Staaten ja bei Banken verschuldet sind, reißt das dann wieder Löcher in deren Bilanzen, womit das traurige Spiel wieder, wenngleich auf erweiterter Grundlage, bei seinem Ausgangspunkt angelangt ist.

Die Bücher zur Krise füllen mittlerweile kleine Bibliotheken. Und zunehmend stellen sie auch die Frage: Was wurde eigentlich seit dem ersten Herzinfarkt an den Finanzmärkten im Herbst 2008 getan? Und wurde das Richtige getan? Ganz und gar nicht – so ließe sich, salopp, die These verknappen, die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz in seinem neuen Buch „Im freien Fall“ vertritt.

Finanzkrisen entstehen durch Überschuldung. Im Boom wittern Anleger überall „einmalige Geschäftsmöglichkeiten“ und investieren ihr Geld. Angesichts phantastischer Renditeaussichten investieren sie auch immer mehr geliehenes Geld. Bei Krediten mit geringem Zinssatz scheint sich das ja angesichts großer Profite zu lohnen. Wenig Eigenkapital steht sehr viel Fremdkapital gegenüber – ein hoher „Hebel“ oder, wie das in der Fachsprache heißt, „Leverage“. Wenn dann der Rückschlag kommt und die Renditen ausbleiben, sind alle so weit überschuldet, dass einer den anderen mit in die Grube reißt. Dann stürzen die Vermögenswerte in den Keller, die Konjunktur schmiert ab, die, die sich bisher über alle Ohren verschuldeten, müssen plötzlich sparen – gezwungenermaßen, weil sie pleite sind, oder noch relativ freiwillig, weil sie plötzlich die Angst packt.

In der gegenwärtigen Krise haben die Staaten den Banken im Grunde ihre Schulden abgenommen – und damit die Vermögen der Investoren gerettet. Bezahlen dürfen das normale Bürger mit ihren Steuergeldern oder indirekt, indem der Staat künftig weniger Geld für Sozialleistungen, Renten, Gesundheitswesen, Kultur usw. zur Verfügung hat. „Dies ist eine der größten Umverteilungen von Vermögen innerhalb so kurzer Zeit, die es jemals in der Geschichte gab“, urteilt Stiglitz. Beinahe 40 Prozent aller Unternehmensprofite der USA hat die Finanzindustrie vor der Krise auf sich vereinigt – und die Maßnahmen nach Ausbruch der Krise haben wenig daran geändert. Die Banken wurden gerettet, aber weder wurde ihnen verboten, arglose Anleger durch Gebührenschinderei und sonstige Tricks auszunehmen, die großen Banken sind weiter Megainstitute, die praktisch eine Rettungsgarantie haben. Stiglitz geht hart mit der Obama-Regierung ins Gericht.

Dabei hat die Krise all die schönen Theoreme der neoklassischen Ökonomen von der „Effizienz“ freier Märkte und ihrer produktiven „Kapitalallokation“, die idealistischen Modelle von „vollständiger Transparenz“ und „reziproker Information“ aller Marktteilnehmer vollständig in Stücke zerhauen. Eine ineffizientere Kapitalallokation als die Ersparnisse von Millionen Menschen in überbewertete US-Immobilien zu versenken ist schlichtweg nicht vorstellbar. Stiglitz: „Die Innovativität, auf die die Wall Street letztlich so stolz war, bestand darin, neue Produkte zu konzipieren, die auf kurze Sicht zusätzliche Erlöse in die Kassen der Wall-Street-Firmen spülten… Andererseits waren Finanzinstitute in keiner Weise an Innovationen interessiert, die Eigenheimbesitzern vielleicht geholfen hätten, ihre Häuser zu behalten, oder die sie gegen das Risiko plötzlicher Zinssteigerungen abgesichert hätten.“ An vielen atemberaubenden Beispielen zeigt der Star-Ökonom, wie sehr dieser Klepto-Kapitalismus einem schieren Raubzug korrupter Betrüger gleichkam.

Um ein funktionstüchtigeres Finanzsystem zu etablieren, schlägt Stiglitz eine Reihe von Maßnahmen vor. Die wichtigste: Die großen Megabanken müssen in kleinere Banken zerlegt werden, damit von einem kollabierenden Institut keine systemischen Risiken für die Weltwirtschaft mehr ausgehen können. Zweitens braucht es mehr Transparenz – viele der raffinierten Finanzinstrumente, die in den letzten Jahrzehnten erfunden wurden, hatten ja nur das Ziel, so undurchschaubar zu sein, dass individuelle Sparer überhaupt nicht mehr zwischen verschiedenen Produkten vergleichen konnten. Dies garantierte den Finanzmarktakteuren exorbitante Gewinne aus Gebühren und Transaktionskosten. Verbraucherschutz müsse deshalb ein wichtiges Element von Regulierung werden. Drittens müssten die Regulierungsbehörden mit Personen besetzt werden, die keinerlei privates Interesse an Banken, Investmenthäusern, Fonds haben: „Eine wirksame Regulierung erfordert Aufsichtspersonen, die vom Sinn und Zweck der Regulierung überzeugt sind.“ Keine dieser erforderlichen Maßnahmen wurde bisher getroffen. Stiglitz: „So sind die Aussichten gering, dass das neue System, das aus der Asche des alten aufsteigen wird, … bessere Dienste leisten wird als das alte.“

Stiglitz, seit Jahren die Kassandra der Wirtschaftswissenschaften, die immer recht behält, will aber nicht nur die Finanzmärkte regulieren. Er will viel mehr: Eine Wirtschaft, die den Menschen dient, statt eine System, in dem die Menschen der Wirtschaft dienen. Und in diesem Kontext eben Finanzinstitutionen, die der Wirtschaft dienen – statt einer Wirtschaft, die den Finanzinstitutionen dient. Seine Kapitelüberschriften lauten dementsprechend: „Eine neue Marktwirtschaft“, „Die Wirtschaftswissenschaften erneuern“, „Aufbruch zu einer neuen Gesellschaft“.

Vergangenes Jahr hat Stiglitz einer Kommission vorgesessen, die im Auftrag von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy Vorschläge für eine neue Wirtschaftsordnung entwickeln sollte. Ein zentraler Vorschlag ist, die Maßeinheit des BIP, um die sich alles dreht, durch einen neuen Index zu ersetzen, der gerechte Wohlstandsverteilung, Lebenserwartung, die ökologische Nachhaltigkeit, allgemeines Bildungsniveau und andere „Lebensqualitäts-Parameter“ berücksichtigt, da nach Stiglitz‘ Überzeugung Maßeinheiten auch Anreizsysteme sind – wie wir messen beeinflusst unser Handeln.

So ambitioniert die Ziele, die Stiglitz formuliert, so maßvoll ist sein Vertrauen, dass sie erreicht werden können. Sein neues Buch ist, wie der Titel schon vermuten lässt, von durchaus beschränkter Zuversicht.

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Siedler-Verlag, 2010, 448 Seiten, 24,59 Euro

 

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