Mehr Gerechtigkeit, weniger Krise

Warum die Progressiven Experten für die Wirtschaft sind und die Neoliberalen Spezialisten für Hokuspokus. – Ein Beitrag für das „Kurswechsel“-Portal der IG-Metall.

Seit zwei Monaten betreibt die deutsche IG-Metall den Blog „Kurswechsel für ein gutes Leben“, in dem in der Zeitspanne von einem halben Jahr wichtige progressive Politikkonzepte diskutiert werden sollen. Ich werde mich monatlich auf dem Blog äußern und meine Beiträge selbstverständlich auch hier veröffentlichen. Im ersten Monat ging es um betriebliche Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie als viel zu wenig genütztes Tool für stabile Prosperität. Im kommenden Monat stehen makroökonomische Fragen im Vordergrund. In der Folge hier mein Text zu diesem Themenkomplex.

In den vergangenen Jahrzehnten ist es neokonservativen und neoliberalen Kräften gelungen, für sich die Position der „Wirtschaftskompetenz“ zu reklamieren, während progressive Kräfte allenfalls „Sozialkompetenz“ zuerkannt wurde. So nach dem Motto: „Wir wissen, wie man eine prosperierende Wirtschaft schafft, wie man Wohlstand produziert, während ihr dauernd den Wohlstand verteilen wollt, ohne zu wissen, wie man den Wohlstand herstellt.“ Diese Argumentationsreihe wurde über mächtige Einflusslobbys und Medienkanäle in die Welt hinausposaunt und stützte sich auf einige gröbere oder ziseliertere Thesen und Postulate: dass Märkte umso besser funktionieren, je unregulierter sie sind; dass man, wollte man Marktergebnisse korrigieren, das optimale Funktionieren der Märkte beeinträchtigen würde; dass in freien Märkten das anlagesuchende Kapital dort hin fließt, wo es am Effektivsten eingesetzt würde; dass alle Versuche, mehr materielle Gleichheit unter den Bürger herzustellen, nur zu einem stockenden und stotternden Wachstumsmotor führen würden; dass deshalb alle staatlichen Interventionen ins Wirtschaftsgeschehen schädlich seien; dass man, wenn man das Konkurrenzmodell der Marktwirtschaft zum alles beherrschenden gesellschaftlichen Funktionsmodell mache, mehr Reichtum erwirtschaften würde, und dass das schlussendlich auch die Position der Unterprivilegierten verbessere, weil der Reichtum ja im berühmten „Trickle-Down“-Effekt zu diesen durchsickern würde; dass, kurzum, wenn alle nur aggressiv genug ihrem Eigennutz verfolgen würden, dies in einer mirakulösen Operation zum Nutzen aller umschlagen würde; dass vor allem freie Finanzmärkte eine mächtige Kraft sind, die Kapitalressourcen zu den „Effektiven“ zu leiten und die „Ineffektiven“ zu bestrafen; und dass man auf diesen Finanzmärkten mit den Mitteln der „Modern Finance“ alle Risiken berechnen und in Finanzvodoo-Produkten auflösen könnte.

Die Kollegen vom „Herdentrieb„-Blog haben gerade eben wieder schön zusammengefasst, dass die Hauptpfeiler dieses ideologischen Gebäudes allesamt zusammengekracht sind:

dass die Märkte effizient seien; dass sie stets zum Gleichgewicht tendieren; dass die finanziellen Risiken berechenbar sind; der Glaube, dass Finanzinnovationen eine gute Sache sind, weil sie das Geldwesen stabilisieren und den allgemeinen Wohlstand erhöhen; dass eine hohe Fremdfinanzierungsquote (leverage) nicht nur nicht schädlich ist, sondern aus steuerlichen Gründen auch ratsam; und so weiter.

Nichts von all dem ging auf. Der ökonomische Hokuspokus dieser Denkschule hat den Kapitalismus an den Rand des Kollaps gebracht. Oder korrekter gesagt: Er hat ihn zum Kollabieren gebracht, denn er wäre ja zusammengebrochen, wenn die Staaten ihn nicht gerettet hätten. Die krass angewachsenen Ungleichheiten haben nicht nur unter Gerechtigkeitsaspekten zu einer krisenhaften Entwicklung geführt, sie haben auch wirtschaftliches Wachstumspotential verschenkt. Und mit dem Trickle-Down-Effekt ist es ohnehin so ähnlich wie mit dem Yeti: dauernd haben alle von ihm geredet, aber gesehen hat ihn noch niemand. Und die „Effizienzmarkttheorie“ sollte sich, wie der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky schreibt, ohnehin

„für alle Zeiten diskreditiert haben“.

Eine moderne Marktökonomie tendiert, lässt man „die Märkte“ auf sich allein gestellt, nicht zum „Gleichgewicht“, sondern zu gravierenden systemischen Störungen, zu Instabilität. Kluge staatliche Wirtschaftspolitik untergräbt dagegen nicht das effektive Funktionieren von Märkten, sondern fördert dieses. Politische Maßnahmen, die Marktergebnisse im Nachhinein korrigieren oder schon prophylaktisch beeinflussen, sodass mehr materielle Gleichheit realisiert wird, machen eine Marktwirtschaft nicht dysfunktionaler, sondern, im Gegenteil, sie stärken sie. Reines einzelwirtschaftliches Denken kann die schwäbische Oma oder einen kleinen Kaufmann reich machen, ganze Gesellschaften können sich aber nicht reich sparen, sie können sich nur reich investieren – und sie funktionieren am besten, wenn sie die Potentiale jedes Bürgers ausschöpfen.

Die Wirtschaftskompetenz der Progressiven besteht darin, dass sie das verstehen. Und die gefährliche Wirtschaftsinkompetenz der Neoliberalen besteht darin, dass sie das genau nicht verstehen.

Etliche Gründe dafür wurden in diesem Blog schon wiederholt angeführt, und müssen deshalb nicht mehr extensiv wiederholt werden.

Wohlstand für alle stärkt die Kaufkraft und die Binnennachfrage, belebt die Wirtschaft und macht eine Volkswirtschaft unabhängiger von der Exportnachfrage.

Denn das Potential einer Volkswirtschaft hängt nicht nur von den Geschäftstüchtigkeit ihrer Unternehmer, der Qualifikation der Arbeitnehmer, dem Erfindungsgeist der Innovateure oder den Raffinessen der Kapitalallokation ab (all das ist natürlich wichtig), sondern zunächst einmal und primär von der Massenkaufkraft. Die besten Güter helfen nichts, wenn die Nachfrage chronisch unter ihrem Potential bleibt.

Grobe Ungleichheiten haben aber auch noch „sanftere“, schwerer messbare negative Effekte: Wenn alle Menschen in materiell sicheren Verhältnissen leben, können auch alle Menschen ihre Talente entwickeln. Mehr Menschen tragen dann zum Wohlstand bei. Menschen am Rande der Gesellschaft zu belassen, sodass ihre Möglichkeiten verkümmern, ist nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient.

Krasse Ungleichheiten resultieren aber auch in systemischen Störungen. Grob ungleiche Verteilung führt ja nicht nur dazu, dass die Unterprivilegierten und der breite Mittelstand zu wenig Geld in der Tasche haben, um die Güter, die bei optimalen Output-Niveau produziert werden (könnten) zu kaufen, sie führt ja im Gegenzug auch dazu, dass eine kleine Oberklasse viel mehr Geld auf der hohen Kante hat, als sie ausgeben kann. Diese Gelder suchen nach Veranlagungsmöglichkeiten, Kapital jagt nach Rendite um den Globus. Während also reales Wachstumspotential verspielt wird, sucht mehr Kapital kurzfristigen Profit. Und weil im Finanzvodoo mehr Geld verdient werden kann als durch Anlagen in der Realwirtschaft, sinkt das Wachstum noch einmal. Insofern gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der aufgehenden Ungleichheitsschere und der wachsenden Volatilität auf den Finanzmärkten. Es gilt nicht nur: Weniger Regulation, also: „Weniger Staat, mehr Krise“. Sondern auch: „Mehr Ungleichheit, mehr Krise.“

Was aber bedeutet all das letztendlich? Das heißt, dass all die wirtschaftspolitischen Vorschläge der Progressiven – von Finanzmarktregulierung bis Transaktionssteuern, von Vermögenssteuern, die den erreichten Grad an Ungleichheit korrigieren sollen bis zu Lohnerhöhungen -, nicht allein, ja nicht einmal primär unter Gerechtigkeitsaspekten die richtigen Vorschläge sind, sondern dass sie funktional sind für eine stabil prosperierende kapitalistische Marktwirtschaft. Es ist auch nicht einfach so, dass die wirtschaftspolitischen Vorschläge der Progressiven eher „den Interessen“ der Unterprivilegierten entsprechen und die der Konservativen eher denen „der Privilegierten“. Dies ist zwar zweifelsohne auch der Fall, aber die womöglich wichtigere Distinktion ist: die Vorschläge der Progressiven funktionieren, die der anderen führen ins Debakel. Fast wäre man versucht, aus dieser Perspektive den alten Schröder-Satz zu paraphrasieren: Es gibt nicht linke oder rechte Wirtschaftspolitik, es gibt nur gute und schlechte.

Simpel gesagt: Würde man den progressiven Vorschlägen folgen, würde die Wirtschaft besser funktionieren. Noch simpler gesagt: Das diskursive Setting, das die Neokonservativen hergesellt haben, nämlich, dass „sie“ wissen, wie die Wirtschaft funktioniert, und „wir“ die Experten für das Soziale sind, erweist sich als Chimäre. Die Progressiven sind Experten für die Wirtschaft und Experten für Gerechtigkeit gleichzeitig.

Neokonservative und Wirtschaftsliberale dagegen sind allein Spezialisten für Hokuspokus.

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