Der arabische Frühling

Wider die mieselsüchte Rede von den „Gefahren“ des arabischen Aufstandes für die Stabilität. Wenn Gesellschaften, wenn freie Bürger ihre Dinge in die Hand nehmen und neu regeln wollen, dann ist das immer ein Schritt ins Ungewisse. Und das Ungewisse birgt auch Risiken. Das war immer so in der Geschichte, und ohne dem hätte es nie Fortschritt gegeben, und Demokratie wäre nie irgendwo eingeführt worden.

Ich verbringe in diesen Tagen, wie viele andere auch, viele Stunden am Tag vor dem Live-Stream von „Al Jazeera“, wo man bisher jedenfalls in Echtzeit dabei sein konnte, wie Geschichte geschrieben wird (hoffentlich finden die Kollegen und Kolleginnen einen Weg, ihre Berichterstattung aufrecht zu erhalten, trotz der Repressalien des ägyptischen Regimes). Mit der Umsturzbewegung in Ägypten erleben wir – nach der demokratischen Revolution in Tunesien – den zweiten Akt des erstaunlichen „arabischen Frühling“. Oder des „1989 der Araber“. Und das ist packend und begeisternd: Bürgerrevolutionen in wichtigen arabischen Ländern hatte doch kaum jemand von uns auf den Radar. Man hat die Bevölkerungen als frustriert und apathisch beschrieben oder gar als leicht manipulierbar von Autokraten und Islamisten. Und jetzt das. Über die Gründe, warum jetzt alles so anders kam, kann ich hier nur Andeutungen verlieren. Die junge Generation in den Städten ist wohl nicht so viel anders als 18-, 19-jährige Oberschüler oder Studentinnen im Westen. Sie haben die selben Wünsche. Und sie leben dank dem Internet auch tatsächlich im selben Orbit. Vielleicht haben das Web und die Sozialen Medien eine viel dramatischere Auswirkung auf das allgemeine Bewusstsein, als wir bisher annahmen. Als Tool der Information in Gesellschaften, in denen man früher nur mit Gerüchten vorlieb nehmen musste. Als Forum, in dem sich eine Generation die freie öffentliche Rede antrainierte, während ihre Elterngeneration noch das Schweigen erlernte. Man kann da lange darüber räsonieren aber letztlich auch nur spekulieren und auch die sogenannten Experten wissen in Wirklichkeit gar nichts: Dann zu viel ist da offenbar in den vergangenen ein, zwei Jahren in Bewegung geraten, und das Expertenwissen bezieht sich oft auf lange, historische Erfahrungen, die aber möglicherweise von jüngsten gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen dramatisch überholt wurden, ohne dass die „Expteren“ das überhaupt bemerkt haben.

Mona Eltahawy hat das am Wochenende im Guardian sehr toll formuliert:

Ben Ali’s fall killed the fear in Egypt. So imagine what Mubarak’s fall could do to liberate the region. Too many have rushed in to explain the Arab world to itself. „You like your strongman leader,“ we’re told. „You’re passive, and apathetic.“

But a group of young online dissidents dissolved those myths. For at least five years now, they’ve been nimbly moving from the „real“ to the „virtual“ world where their blogs and Facebook updates and notes and, more recently, tweets offered a self-expression that may have at times been narcissistic but for many Arab youths signalled the triumph of „I“. I count, they said again and again.

Most of the people in the Arab world are aged 25 or are younger. They have known no other leaders than those dictators who grew older and richer as the young saw their opportunities – political and economic – dwindle. The internet didn’t invent courage; activists in Egypt have exposed Mubarak’s police state of torture and jailings for years. And we’ve seen that even when the dictator shuts the internet down protesters can still organise. Along with making „I“ count, social media allowed activists to connect with ordinary people and form the kind of alliances that we’re seeing on the streets of Egypt where protesters come from every age and background.

Aber worüber ich mich wundere, ja, mehr: was mich regelrecht empört, ich kann mich da richtig aufregen darüber, ist da so eine Stimmung in nicht wenigen Milieus bei uns im Westen, die lautet: Um Gottes Willen, aber wie gefährlich ist die Instabilität? Da wird doch eh nichts draus bei den Arabern! Die handeln sich wahrscheinlich jetzt nur eine Mullah-Diktatur ein! Waren doch eh kommod die säkularen Autokraten!

Das ist moralisch so verkommen, als hätte man 1989 Vaclav Havel, Jens Reich und den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die ihre verrotteten Regimes satt hatten, geraten, sie sollten sich doch bitte weiter Honecker, Husak und den anderen graugesichtigen Herren unterwerfen, man wisse doch nicht, was da rauskommt – wer weiß, vielleicht sogar ein böser Kapitalismus oder ein kriegsgeiles wiedervereinigtes Deutschland (tatsächlich haben ja auch damals einige Leute so reagiert).

Aber eine solche Haltung zeugt nicht nur von Verkommenheit, sondern auch von völligem Desinteresse an der realen Wirklichkeit. Denn wer sich nur ein bisschen mit der gegenwärtigen arabischen Bürgerbewegung befasst, der stellt schnell fest, dass irgendwelche „Islamisten“ eine viel geringere Rolle spielen, als man annehmen konnte. Die Leute wollen Demokratie und Freiheit, keine Mullahs. Ja, manches deutet sogar darauf hin, dass der Einfluss der Islamisten, wie etwa der ägyptischen Moslembrüder, geschwunden ist. Bisher waren sie die einzigen Stimmen der Zivilgesellschaft in geknebelten Gesellschaften. Insofern haben die Autokraten die Islamisten sogar stark gemacht. Aber jetzt sind neue Akteure entstanden, und das schafft eine ganz neue Situation.

Die Dinge sind dramatisch in Bewegung, und das ist eine historische Chance. Menschen ändern sich, wenn sie erstmals in Freiheit atmen. Und das heißt ganz simpel auch: Kein Mensch weiß natürlich, wie das ausgeht. Jetzt sehen wir eine urbane Mittelschicht, die die Autokraten hinwegfegt. Möglich, dass freie Wahlen dann zur Ernüchterung führen. Wer weiß schon, wie die einfachen Bauern im Nildelta ticken. Aber wie gesagt, kein Mensch weiß es. Es ist eine große Chance. Gewiss, Chancen können auch scheitern. Aber nur, weil dieses Scheitern auch eine Möglichkeit ist, soll man sich an die Stabilität klammern, die stets das beste Argument ist, das die Diktatoren für sich ins Treffen zu führen wissen? Nein, aber wirklich nicht.

Woran es unseren skeptischen Misepetern fehlt, ist politische Vorstellungskraft, Möglichkeitssinn. Aber dies ist nicht nur Folge simpler Phantasielosigkeit, sondern er hat auch einen rassistischen Kern. Von der Art: Demokratie bei den Arabern, das klappt ja nie. Die sind zu blöd dazu oder sonst wie unfähig. Die Moslems lieben es, wenn man sie drangsaliert. Sie laufen gerne den Autokraten nach.

Wie mies das alles ist.

Wenn Gesellschaften, wenn freie Bürger ihre Dinge in die Hand nehmen und neu regeln wollen, dann ist das natürlich immer ein Schritt ins Ungewisse. Und das Ungewisse birgt auch Risiken. Das war immer so in der Geschichte, und ohne dem hätte es nie Fortschritt gegeben, und Demokratie wäre nie irgendwo eingeführt worden.

Denn dass die Demokratie gefährlich ist, dieser Einwand ist so alt wie das Freiheitsstreben der Menschen. Er kam immer von denen, die sich an die Stabilität klammerten. Hätten unsere Vorfahren auf sie gehört, wir würden immer noch in Leibeigenschaft leben, geknebelt vom Klerus, unter der Knute der Fürsten.

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