Optimismus und Pessimismus sind private, persönliche Charaktereigenschaften? Aber nein! Sie entscheiden darüber, ob die Wirtschaft brummt oder absäuft und sind auch in der Politik wichtig: Denn nur Optimisten können die Welt verbessern. Der Standard, 6./7. August 2011
„In den vergangenen Monaten und Jahren“, beklagte unlängst
eine gute Freundin etwas verwirrt, „werde ich andauernd mit den Emotionen der
Finanzmärkte belästigt“. Ob „die Märkte“ eher optimistisch gestimmt sind oder
doch eher depressiv, ob sie voll des Vertrauens sind, oder skeptisch und
übelgelaunt, das entscheidet über Bankbilanzen und Staatsbankrotte. Nachsatz
meiner Bekannten: „Aber was interessieren mich die Gefühle von Märkten?“
Dabei haben wir das doch mit unserer rationalistischen
Muttermilch aufgesaugt: Fakten entscheiden, nicht Gefühle. Fakten sind
unbestreitbar, Gefühle unberechenbar und trügerisch. Aber jetzt lernen wir
plötzlich: Fakten übersetzen sich in Gefühle – manchmal auf recht eigentümliche
Weise, vor allem aber beeinflussen die Gefühle die Fakten. Wenn wir nur lange
genug pessimistisch sind, dann geht es uns am Ende wirklich schlecht.
Gefühle wie Optimismus und Pessimismus würden wir spontan
als personale Charaktereigenschaften ansehen. Als Gemütsstimmungen, die der
Einzelne hat, oder gar langfristige Einfärbungen des Charakters. Der eine ist
eher eine optimistische Frohnatur, der andere ein ewig unglücklicher Pessimist.
Aber diese Gefühle haben gewissermaßen auch ihre öffentliche Seite. Ganze
Gesellschaften können eher optimistisch oder eher pessimistisch sein, das
Gedeihen ganzer Volkswirtschaften hängt vom „Wirtschaftsklima“ ab, also davon,
wie zuversichtlich die Bürger in die Zukunft blicken.
Dass uns einzelne Firmen mit Emotionen an die Angel kriegen
wollen, daran sind wir in einem Maße gewöhnt, dass es uns nicht einmal mehr
auffällt. Die gesamte Marketing- und Branding-Branche lebt davon, Waren mit
Gefühlen aufzuladen. Sie versprechen: Wer dieses und dieses Ding kauft, kriegt
das Glückgefühl dazu.
Aber auch das Auf und Ab von Konjunktur und Krise ist selbst
nicht unwesentlich von Gefühlen bestimmt, wie wir seit John Maynard Keynes
wissen. Wenn die Wirtschaft brummt und die Menschen annehmen, dass es stets
weiter bergauf geht, dann wächst die Zuversicht, das Vertrauen. Die Bürger
kaufen ein, die Investoren investieren, worauf die Wirtschaft noch mehr brummt.
Der Aufschwung ist ein von Gefühlen getriebener Aufschwung. Im Abschwung ist es
genau umgekehrt. Die Krise gebiert Krisengefühl, was die Krise wieder
verschärft. „Hat der Verfall einmal eingesetzt, ist er nur sehr schwer zu
stoppen“, konstatierte Keynes, weshalb er auch im Radio den Aufruf absetzte:
„Darum, ihr patriotischen Hausfrauen, brecht gleich morgen früh auf und geht zu
den wundervollen Ausverkäufen, die überall angezeigt sind.“
Man kann noch weiter gehen: Dass in einer kapitalistischen
Marktwirtschaft überhaupt etwas produziert wird, verdanken wir Frohnaturen von
überbordendem Optimismus, das war jedenfalls die Ansicht des großen Ökonomen
Joseph Schumpeter, der gleichzeitig die allerschönsten Hymnen auf die
„Unternehmer-Mentalität“ gesungen hat. Der Unternehmer, so Schumpeter, ist ein
„Neuerer“. „Zuversichtlich außerhalb der vertrauten Fahrrinne zu navigieren und
Widerstand zu überwinden, verlangt Fähigkeiten, die nur in einem kleinen Teil
der Bevölkerung vorhanden sind“, schreibt Schumpeter in seinem späten,
populären Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“. Die
Unternehmerpersönlichkeit, so kann man das salopp zusammenfassen, ist also ein
wenig auch ein optimistischer Narr, der überall Chancen wittert, wo die meisten
anderen nur Widrigkeiten sehen.
Aber nicht immer hat Optimismus bloß positive Wirkungen. Im
Gegenteil. Im Aufschwung „bekommen auch ökonomische Theorien Rückenwind, die
übertriebenen Optimismus legitimieren“, sagt der amerikanische Spitzenökonom
Robert Shiller. Zugleich kann ein Übermaß an Optimismus die Wirtschaft aber
auch an die Wand fahren, wie die jüngste Wirtschaftskrise zeigte: Wenn alle
glauben, dass es ewig bergauf geht, dass es eine Kleinigkeit ist, den heutigen
Wohlstand morgen verdoppelt zu haben, dann kaufen die Leute auf Pump ein, sie
schauen bei Verträgen nicht auf das Kleingedruckte. Dann wächst sogar die
Korruption und die Betrügerei: Man sieht, wie viele ohne Anstrengung reich
geworden sind, und es ist ja nichts dabei, ein bisschen zu tricksen. In den
Firmen gewinnen die Abenteurer die Oberhand über die skeptischen Zahlenhengste
und Erbsenzähler. „In der Hochkonjunktur steigt die Korruption und Betrügerei
an, es kommt zu unsauberen Geschäften, die aber erst im Nachhinein ans Licht
kommen“, erklärt Yale-Professor Shiller: „Später, wenn alles zusammengebrochen
ist, wird der Betrug entdeckt und steht dem Wiederaufschwung im Wege, weil die
Leute kein Vertrauen mehr haben. Sie wollen mit ihrem Rechtsanwalt sprechen und
das Kleingedruckte lesen, bevor sie irgendetwas unterschreiben. Und das
unterbindet die Wirtschaftsentwicklung.“
„Wie das positive Denken die Wirtschaft zerstörte“, hat
deshalb die amerikanische Autorin Barbara Ehrenreich ein ganzes Kapitel ihres jüngsten
Buches „Smile or Die“ überschrieben, das als ganzes dem „Massenwahn“ des
positiven Denkens gewidmet ist.
Wenngleich sich die Bedeutung des Optimismus in der
Wirtschaft schwer messen und auch nicht in mathematische Modelle pressen lässt,
so ist sie heutzutage doch relativ gut erforscht. Die Bedeutung des Optimismus
in der Politik dagegen ist dagegen vergleichsweise unterbelichtet. Dabei weiß
jeder, und sei es nur instinktiv, wie wichtig er ist. Große gesellschaftliche
Reformen gelangen in der Geschichte meist eher in Epochen, die auch grundsätzlich
von optimistischem Geist durchdrungen waren. Es waren auch eher selten die
depressiven Miesepeter, die die Welt verbessert haben. Es waren immer Optimisten,
die gesagt haben: Yes, we can. Und wir haben ja unlängst gesehen, dass das auch
heute noch ansteckend sein kann.
Wenn eine ganze Ära von Aufbruchstimmung geprägt ist, und
wenn dann noch Politiker hinzu kommen, die Schwung haben und Optimismus verkörpern,
dann werden ganze Gesellschaften angesteckt vom Gefühl, dass vieles möglich
ist. Und umgekehrt, wenn Gesellschaften in Lethargie verfallen, wenn sich kaum
jemand vorstellen mag, dass etwas besser, und viele sich einig sind, dass doch
immer alles schlechter würde, wenn dann auch Politiker nur verwalten und selbst
verzagt sind, dann macht sich pessimistische Stimmung breit, sie dringt in alle
Poren der Gesellschaft. Es macht sich dann eine eigentümliche Art von
Konservativismus breit, der kein ideologischer ist, aber ein Konservativismus
der Angst und der Verzagtheit, einer der „sich vor dem Kommenden fürchtet“, wie
das Gustav Seibt formuliert, der Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung.
Es lässt sich kaum bestreiten, dass sich eine Übellaunigkeit
dieser Art heute breitgemacht hat. Manche Beobachter, wie etwas Brigitte
Seebacher-Brandt, die Witwe des früheren SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, sind
der Meinung, dass das nicht zuletzt mit der demographischen Entwicklung
zusammenhängt: dass alternde Gesellschaften automatisch eher weniger zum
Optimismus, dafür mehr zum Pessimismus neigen. Junge Leute haben das Leben noch
vor sich und meinen daher meist, dass dieses Leben für sie Aufregendes und
Spannendes bereithält. Ältere Menschen haben eher weniger Sturm-und-Drang-Gefühle.
Wenn ganze Gesellschaften überaltern, beeinflusst das dann ihren
Gefühlshaushalt ins Dunkelgraue? Aber womöglich ist das selbst so eine
zappendustere Geschichte, die sich selbst erfüllt, wenn man sie nur lange genug
erzählt: dass Optimismus und Zuversicht leider nicht mehr zu haben sind in
Gesellschaften mit „Altenbergen“, wie das gelegentlich frivol heißt.
Wenn heute viele Menschen meinen, dass Parteien wie etwa die
der Sozialdemokraten „ihren Schwung verloren haben“, dann ist da wohl durchaus
auch gemeint, dass sie diesen eigentümlichen Optimismus verloren haben, der
früher progressive Bewegungen jeder Schattierung charakterisierte. Als
Weltverbesserer braucht man, formulierte einst der unorthodoxe italienische
Kommunist Antonio Gramsci, „Pessimismus des Verstandes und Optimismus des
Willens“. Soll in etwa heißen: Ohne Optimismus kann man überhaupt nichts in
Bewegung bringen, aber blind darf der Optimist auch nicht sein, setzt er die
rosarote Brille auf, dann sieht er die Welt nicht, wie sie ist. Kurzum, er muss
gewissermaßen schielen: Optimist sein, weil er Energie braucht, und eine
bisschen Pessimist, um nicht unrealistisch zu werden. Von Walter Benjamin,
diesem eigenwilligen Autor, stammt das ebenso eigentümliche Diktum: „Nur der Einverstandne
hat Chancen, die Welt zu ändern“. Damit war gewiss nicht gemeint, dass nur
jener, der ohnehin alles prima findet in der Welt, in der Lage ist, Änderungen
zu bewirken – das wäre ja absurd, denn weshalb sollte ein solcherart
Zufriedener überhaupt etwas ändern wollen? Der Einverstandene, das ist für
Benjamin jemand mit positivem Weltbezug, einer, der das Großartige und auch die
Chancen sieht, selbst wenn er Kritikwürdiges kritisiert. Dieser Einverstandene
ist also ein Optimist und, auch wenn er kritisiert, eben kein bloßer Nörgler,
sondern, im Gegensatz zu diesem, ein zupackender Änderer.
Übrigens, „der Nörgler“ und „der Optimist“, das sind die
beiden großen Antipoden, die Karl Kraus in „Die letzten Tage der Menschheit“
auftreten lässt.
Optimismus und Pessimismus sind ansteckend, und die
Ansteckung hat Folgen. „Ich habe einen Traum“, sagte einst Martin Luther King.
Hätte er gesagt: „Alles ist ein Alptraum“, aus der amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung wäre wohl nicht recht etwas geworden.