Gerechtigkeit heißt Gleichheit

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Ist beim diesjährigen „Momentum-Kongress“ ab Donnerstag in Hallstatt „Track-Leiter“. Das Generalthema ist diesmal „Gleichheit“. Und bei der Vorbereitung habe ich diesen Essay gefunden, den ich vor mehr als zehn Jahren in der „Frankfurter Rundschau“ geschrieben habe, also in einer Zeit, als das Ideal egalitärer Gesellschaften so Out of Fashion schien wie nur was. Also, vielleicht interessiert es ja noch jemanden, wie man für mehr Gleichheit argumentierte, bevor uns die Ungleichheit in eine Finanzkrise stürzte und bevor wir noch so gute Argumente bei der Hand hatten, sie etwa jene, die uns Richard Wilkinson und Kate Pickett lieferten.  
I.
Die Idee der Gleichheit ist ganz gehörig aus der Mode gekommen. Dies ist kein bloß sekundäres polit- und ideengeschichtliches Phänomen, sondern von unerhörter Brisanz fÜr „die Linke“ jedweder Coleur, für die – nach dem Wort des italienischen marxistischen Philosophen Norberto Bobbio – „das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern war, den sie angeschaut hat und weiterhin anschaut“. Für ihn blieb, auch in Zeiten der modischen Relativierung des Gegensatzes „Rechts und Links“, das egalitäre Prinzip konstitutiv für jede Linke – wenn auch nicht als Utopie einer Gesellschaft „der Gleichen“, so doch in Form des Strebens, „die Ungleichheiten etwas gleicher werden zu lassen“ . Doch schon Bobbio mußte sich in einer Kontroverse von seinem britischen Freund und Mitstreiter Perry Anderson fragen lassen, ob es denn wirklich „der Fall ist, daß die Linke, so wie sie aktuell in Europa heute existiert, alle Funktionaltität der sozialen Ungleichheit bestreitet?“ 

Tatsächlich repräsentieren die europäischen Sozialdemokratien die Gerechtigkeitsideale breiter Gesellschaftsschichten, die immer auch und vor allem Gleichheitsideale sind, allenfalls in höchst subtiler Weise. In Wahrheit hat die Sozialdemokratie – vor allem in Deutschland und Österreich – das Gleichheitssprinzip still sterben lassen (interessant ist in diesem Zusammenhang, daß selbst Tony Blair formulierte, es sei die Herausforderung für die Parteien der linken Mitte, „Gleichheit neu zu denken“). Im Geheimen messen viele führende Sozialdemokraten sozialen Ungleichheiten längst eine positive Funktion in dynamischen Gesellschaften zu. „In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität“ – diese laute Selbstdenunziation ist die Schlüsselformel des einschlägigen „Schröder-Blair-Papiers“. Die österreichische Sozialdemokratie brachte es gar zuwege, in ihrem neuen Parteiprogramm, das 1998 verabschiedet wurde, den „Grundwert“ Gleichheit noch als Kapitelüberschrift beizubehalten, in dem entsprechenden Abschnitt aber nur mehr von „Chancengleichheit“ zu reden. Der Abschied vom Gleichheitsideal materialisiert sich auf der Ebene der Programmatik somit zuerst in Form einer Revision, der Verschiebung von Begriffen. Zwar dürfe, formulierte schon der britische Soziologe Anthony Giddens, Stichwortgeber aller sozialdemokratischen „Modernisierer“, in seinem Büchlein „Der Dritte Weg“, die Idee der „Umverteilung nicht von der sozialdemokratischen Tagesordnung genommen worden“, doch müsse sie künftig als „Umverteilung der Chancen“ interpretiert werden. Giddens: „Die Förderung menschlicher Kreativität und Möglichkeiten sollte, soweit es geht, eine nachträgliche Umverteilung ersetzen.“ 
Auf dem Rücken des Begriffs der „Chancengerechtigkeit“ schleicht sich das marktliberale Leistungscredo tief in die sozialdemokratischen Lagen hinein. Er ist von der marktliberalen Selbstillusion freier und gleicher Märkte, auf denen alle Akteure die gleichen Chancen haben sollen, zu Gewinnern (und damit auch: zu Verlierern) werden zu können, praktisch ununterscheidbar geworden. Aus dieser Perspektive ist kaum mehr zu argumentieren, wie bereits einmal realisierte Ungleichheiten noch korrigiert werden könnten (und warum dies geschehen sollte), sieht man von zwei Einschränkungen ab. Erste Einschränkung: jeder soll auch in modernen Marktökonomien überleben können. Zweite Einschränkung: Ungleichheiten sollen sich über die Genealogie der Generationen wenn möglich nicht zu neuen „Chancenungerechtigkeiten“ verfestigen, eine Einschränkung, die zuletzt auch Giddens machen mußte. Ohne Umverteilung würde „aus der Ungleichheit im Ergebnis der einen Generation die Ungleichheit der Chancen der nächsten“ . Dies ist freilich alles, was vom alten Gleichheitsideal geblieben ist. 
II.
Es gehört zur Ironie dieser Geschichte, daß die sozialdemokratischen Modernisierungsrhetoriker der ehrlichen Überzeugung sind, mit dieser Revision auf allgemeine Bewußtseinslagen der Bevölkerung zu reagieren. Es könnte dies aber ein eindrucksvoller Fall ideologischer Selbstüberlistung sein. Weil angesichts der ideologischen Hegemonie des Marktliberalismus und des kapitalistischen Konkurrenzprinzips die Gleichheitsideale der Mehrheiten weder politisch noch medial repräsentiert sind, – ja, weil gleichsam die Sprache und die Kategorien fehlen, die neuen Klassen-Spaltungen auch nur angemessen zu beschreiben -, sitzen selbst jene, denen es traditionell gegeben ist, diese Gleichheitsideale zu verkörpern, dem Trugschluß auf, diese würden nicht (mehr) existieren. Selbst von den eigenen Parolen lassen sich die sozialdemokratischen Parteiführer dabei übertölpeln. Dabei werden die Gleichheitsideale vor allem deshalb nicht zur politisch materialisierten Gewalt, weil sie politisch nicht vertreten sind, weil die sozialdemokratischen Führungen dem, was der US-Politologe Philip Green in seinem Buch „Equality an Democracy“ den „Angriff auf die Gleichheit“ nennt, keine Alternative entgegenstellen. Die brach liegenden Glreichheitssentiments werden – im schlimmsten Fall – dann auf deformierte Art von populistischen Führern wie Jörg Haider, Christoph Blocher und anderen repräsentiert. 
In Deutschland ist es soweit zwar bisher nicht gekommen. Doch: „Wie ist es möglich, daß der neue Kanzler die Neue Mitte so wenig kannte?“, kann auch der Politikwissenschaftler Michael Vester den Realitätsverlust Gerhard Schröders kaum fassen . Tatsächlich besteht die „Neue Mitte“, die der SPD 1998 zum Sprung über die 40 Prozent verholfen hat (das Gros der Stimmen von etwa 30 Prozent stellen bei erfolgreichen Sozialdemokratien ohnehin die traditionellen Stammwähler) keineswegs aus den jungen, urbanen Ellbogen-Gegenwartsmenschen, die auch in modernen Dienstleistungsgesellschaften nicht mehr als 10, 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Die wirkliche Neue Mitte ist anders“, interpretiert Vester die Forschungsergebnisse seiner Studiengesellschaft „agis“. Hierzu gehören aufgestiegene und „moderne Arbeitnehmer“, die „soziale Kälte“ nicht ertragen, und einen „starken Sinn für soziale Gerechtigkeit“ haben, „leistungsorientierte Arbeitnehmer“, für die Solidarität immer noch „ein hoher Wert“ ist. Sie haben die Sozialdemokratie gewählt, weil sie Repräsentant des sozialen Gerechtigkeitsideals ist. So brach die SPD bei allen Wahlen im Herbst 1999 ein, weil 53 Prozent derer, die sie ein Jahr zuvor gewählt haben, die Partei nicht mehr mit sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen . Die Sozialdemokratie ist drauf und dran, „ihr eigenes Egalitätsideal zu verraten“, zürnt – ebenfalls in der „Zeit“ – der Philosoph Hauke Brunkhorst folgerichtig . Weil die SPD verliert, wenn die Stammwähler wegbleiben, ortet Gunter Hofmann in der Zeit eine „Wahlverwandtschaft der Macht- mit der Gerechtigkeitsfrage“ .
Die Sozialdemokratie schlittert nicht in die Krise, weil ihre klassischen Leitideen in der Bevölkerung aus der Mode gekommen sind, sondern weil sie diese im Zuge modernistischer Selbstdistanzierung von der eigenen Geschichte und Identität nicht mehr zu verkörpern versteht. Dieses Urteil wird selbst vom konservativen Institut für Demoskopie Allensbach gesprochen. Eine Mehrheit der Bevölkerung ist, folgt man der Allensbach-Forscherin Renate Köcher, „für einen Ausbau des Sozialstaats auch um den Preis einer verstärkten Reglementierung und höherer Steuern … 53 Prozent sprechen sich dafür aus, nur noch 25 Prozent dagegen.“ Den modernen Formeln von der Freisetzung von Eigenintiative im Marktwettbewerb mögen zwar eine Mehrheit der Leitartikler frönen, ihnen folgt aber nur eine verschwindende Minderheit der Bevölkerung. „Nur knapp ein Fünftel der Bevölkerung verbindet mit mehr Eigenverantwortung und weniger Staat größere Entscheidungsfreiheit für den einzelnen“. Eine relative Mehrheit ist zudem der Überzeugung, „daß sich ein Land besser entwickelt, in dem nicht nur die Chancengleichheit gewahrt wird, sondern das auch nach Gleichheit im Ergebnis strebt“ . Vergleichbares ist aus Untersuchungen über die öffentliche Meinung in Großbritannien herauszulesen, obwohl die New-Labour-Führung jeden Anschein zu vermeiden sucht, sie könnte zur alten „Tax-the-rich“-Politik zurückkehren. Vier von fünf Befragten sind der Meinung, daß die Unterschiede zwischen Reich und Arm zu groß sind – eine Mehrheit ist zudem der Ansicht, daß es die Aufgabe der Regierung wäre, die Differenz zu verringern. Über die Jahre stabil, so ergab eine Studie der renommierten „London School of Economics“, ist eine deutliche Mehrheit die zusätzliche Ausgaben für Gesundheitssysteme, Bildung und Wohlfahrt befürwortet, selbt wenn dies höhere Steuern bedeutet. Eine deutliche Mehrh
eit plädiert für höhere Steuern für die Wohlhabenden, um die Wohlfahrtsausgaben für die Bedürftigen anzuheben. 
In Österreich, wo die Sozialdemokratie im Oktober 1999 ein historisches Wahldebakel erlitt, liegen die Dinge ähnlich. Von den früheren SPÖ-Wählern, die ihrer Partei diesmal die Gefolgschaft versagt hatten, führten 54 Prozent als Grund für ihr Verhalten an, „weil die sozialdemokratischen Grundsätze vernachlässigt wurden“ . 42 Prozent gaben zu Protokoll, daß „die Partei nichts zu bieten hat, wofür man sich begeistern kann“. In einer anderen Umfrage klagen 42 Prozent der Österreicher, daß Leistungs- und Gewinnstreben zunehmend „unmenschliche Züge“ bekommen, immerhin jeder fünfte Österreicher wünscht sich, „daß alle gleich viel verdienen“ . Dies ist es, was Oskar Lafontaine den „Sozialdemokratismus des Volkes“ nennt, der weit über die sozialdemokratischen Kernschichten hinausreicht. 
III.
Die Gleichheit ist ein vertracktes Ding. Als Ideal führte sie in der linken Theoriegeschichte – wie jedes Ideal, das in Hinblick auf das Prinzip des historischen Materialismus unter immerwährenden Moralitätsverdacht steht – ein Leben im Schatten, im Nebel der Werte. Ein Umstand, der sie besonders verletzbar macht. Anthony Giddens hat sicher nicht unrecht, wenn er in seinem Buch „Jenseits von Links und Rechts“ schreibt, daß das Prinzip der Herstellung von Gleichheit „nie zur Gänze in die Kernannahmen des sozialistischen Denkens integriert worden“ ist. Denn „die >intelligente Kontrolle<, des sozialen Lebens – die Unterwerfung der Marktkräfte unter eine zentrale Steuerungsinstanz – steht in keinem besonderen Verhältnis zum Ethos der Gleichheit, außer vielleicht insofern sie die Verfügungsmacht schafft, die den Reichen etwas nehmen könnte, um es den Armen zu geben.“ 
Selbst Karl Marx hatte in seinen späten Tagen hochgradig gereizt reagiert, als die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Gothaer Programm die Forderung nach „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheiten“ erhob. „Anstatt der unbestimmten Schlußphrase“, bekrittelte der Stammvater der modernen Linken verärgert aus seinem Londoner Exil, „war zu sagen, daß mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringenden sozialen und politischen Ungleichheiten verschwinden“.
Tatsächlich ist das Ideal der Gleichheit älter als jede sozialistische Theorie und nährte sich aus vielerlei Traditionen. Schon mit dem Entstehen der modernen Staatstheorie gewann nicht nur die Vorstellung der formalen, rechtlichen Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz an Boden, sofort wurde die Frage aufgeworfen, ob der Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht die relative soziale Gleichheit seiner Bürger voraussetze. „Seiner Natur nach strebt der Wille des einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit“, wußte Rousseau in seinem „Contrat social“, und auch, „daß den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur so lange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zuviel hat“. Der Drang nach mehr Gleichheit wurde gar in den Rang eines Objektiven gehoben, wird nach Tocqueville doch „der Wunsch nach Gleichheit um so unersättlicher, je größer die Gleichheit ist“.
Einen immerwährenden Impuls erfuhr das Gleichheitsideal auch durch die „plebejische Kultur“, die täglichen Praxen der Unterklassen, die ihrerseits Teils in sedimentierten Erinnerungsspuren, rechtlichen Gleichheitsvorstellungen, einem moralischen Rechtsempfinden, Vorstellungen eines „gerechten Preises“ und eines „angemessenen Lohnes“ ruhten, Teils durch die Alltagserfahrungen von Handwerkern und Fabrikarbeitern genährt wurden. So war noch die fordistische Fabrikorganisation, die individuelle Fertigkeiten entwertete und insofern die Arbeiter „immer gleicher“ machte eine mächtige Verbündete der Gleichheitsvorstellungen. Auch in Gestalt eines mehr oder weniger diffusen „Gemeinschaftsgefühls“ war uns die Gleichheit bekannt.
So war in der „marxistischen“ Arbeiterbewegung zwar die Gleichheit ausgeblendet, doch auf seltsame Art – wie jeder „Wert“ – als abwesend-anwesender „am Werke“. Dem Ideal der Gleichheit haftete als „bloß“ Utopisches das Odeur des Moralischen an, wohingegen der „wahre“, weil „wissenschaftliche“ Sozialismus seine Macht ja auf den Widersprüchen des Kapitalismus selbst und weniger auf den Wünschen und Empörungen seiner Opfer begründen wollte. Andererseits war das Ideal der Gleichheit immer stillschweigend vorausgesetzt. Die Ungleichheit war ein Indiz im Prozeß, den Marx dem Kapitalismus machte, das in der Anklageschrift freilich fehlen sollte, während die Empörung Über die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten immer primärer Antrieb der „real-existierenden“ Arbeiterbewegung war. 
IV.
Derart zentral und periphär, anwesend und abwesend zugleich, politisch still repräsentiert und stumm vorausgesetzt, sind die Gleichheitshoffnungen der Mehrheiten nie vordergründig sichtbar gewesen und sie sind es heute weniger denn je. Und auch das kollektivistische Motiv des Gleichheitsideals und das Versprechen auf Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und somit kollektiven Zwängen lagen immer in einem Spannungsverhältnis, wie es von Marx in der berühmten Formulierung des „Kommunistischen Manifests“ aufzulösen versucht wurde, wonach im Kommunismus „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. 
So müssen die Gleichheitshoffnungen in ihrer oft paradoxen Gestalt gesehen werden. Schon die immer genervte Rechtfertigung der Ungleichheit als sozial funktional durch die Ideologen des Konkurrenzprinzips verweist auf einen tief sedimentierten Begriff der Gleichheit. Auch der Egalitarismus selbst tritt oft nur auf subtile Art, sozusagen negativ auf: nicht als Forderung nach „mehr Gleichheit“, sondern als waches Sensorium für jedwede Gefährdungen der Gleichheit, die auch in Neid und Ressentiments ihren Ausdruck finden können. So mag zwar jeder das Bedürfnis nach Distinktion verspüren, ist gleichzeitig aber Adressat der Distinktionsbedürfnisse anderer, die dann aber „Überheblichkeit“ und „Arroganz“ heißen, auf die der Einzelne leicht allergisch reagiert. 
Nur soviel ist klar: Auch unsere modernen Gesellschaften verfügen über stark wirksame Gerechtigkeitskulturen, doch die sind „so kompliziert wie das Leben selbst“ , wie Angela Krebs formuliert. So kompliziert, daß, wenn die Rede auf Gerechtigkeitsideale kommt, eher Ahnungen referiert werden als gesicherte Sachverhalte. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger denn unwichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (‚Wieso glaubt er, etwas besseres zu sein, als ich?‘; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?‘), sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“  
Bei allen Unsicherheiten – über eines dürfte Klarheit bestehen: Die Feststellung, daß Ungleichheit einer besonderen Gerechtfertigung bedarf, wohingegen dies für die Gleichheit nicht gilt, ist ohne Zweifel immer noch richtig und ein gewichtiges Indiz für die starke Verwurzelung eines die Gleichheit betonenden Gerechtigkeitsideals. Diesen Gedanken hatte auf eindringliche Weise der russisch-angloamerikanische Philosoph Isaiah Berlin entwickelt: „Die Behauptung ist, daß Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person ein Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“ 
In dieses Bild d
er Paradoxien fügt sich übrigens, daß ausgerechnet die Epoche „gleichmacherischer“ Massendemokratien die Ideologie des „Individualismus“ entwickelte, und just im Zeitalter kapitalistischer Uniformierung und Standardisierung die feinen Unterschiede zwischen den Massenexistenzen immerwährend betont werden. „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an“, beobachtete Siegfried Kracauer schon in den zwanziger Jahren in seinen berühmten Studien der modernen Angestelltenwelt . Es hat schon etwas groteskes, daß ausgerechnet die kapitalistischen Funktionseliten, denen ihre Austauschbarkeit in Gestalt ihrer „Business-Suites“ auf den Leib geschrieben steht, gegen die „Gleichmacherei“ der Sozialdemokraten wettern – und daß die längst ebenso angetanen sozialdemokratischen Parteiführer angesichts dieser Rede gar auch noch verschreckt verstummen. In der standardisierten Produktion schließlich erweist sich der Kapitalismus als die große Gleichmachermaschine. Die einzige Distinktion, zu der diese Produktion noch fähig ist, ist die der Einteilung in Güteklassen. Doch selbst dieses Prinzip ist noch egalitär, insofern als innerhalb der notwendig begrenzten Zahl an solchen Klassen jedes Produkt „gleich“ sein muß. 
V.
„Ideale“ und „Utopien“ hatten, dies ist die Erbschaft des „historischen Materialismus“, in den linken Gedankengebäuden nur soweit Platz, als sich in ihnen Wünsche und Interessen und Objektives, das „real Mögliche“ (Ernst Bloch) kreuzten. Das materialistische Prinzip war insofern immer anti-utopisch und anti-ethisch, als es darauf beharrte, daß die Utopie im Horizont des Möglichen sich bewegen müsse. Genaugenommen postulierte die materialistische Theorie freilich, daß sich aus dem, was Marx die „wirkliche Bewegung“ der kapitalistischen Struktur nannte, immer eine Reihe verschiedener historischer Möglichkeiten, historischer Tendenzen ergeben (wohingegen manches außerhalb der Reichweite des aktuell Möglichen sich befindet, und in solchen Fällen jede Ethik in saurem Moralismus umschlägt, da dann alles Wünschen nichts hilft). An diesem Punkt kommt selbstverständnlich die Ethik ins Spiel (ebenso wie konkrete Klassen- und Schichteninteressen), wenn Subjekte sich entscheiden, welche dieser Möglichkeiten in die Wirklichkeit transformiert werden soll. 
Der Kapitalismus der fordistischen Epoche, des genormten und standardisierten Lebens, trug weitgehende Gleichheit als Tendenz in sich, mündete aber ebensowenig notwendig in einer Gesellschaft der Gleichen, wie der Kapitalismus der dritten technologischen Revolution – der „Postfordismus“ – zwangsläufig zu mehr Ungleichheiten führen muß. 
Die Linke muß freilich das Vertrauen auf historische Gesetzmäßigkeiten aufgeben, weil sie nur so wieder zur „Partei der Hoffnung“ (Richard Rorty) werden kann, muß die schlummernden „Leidenschaften der Menschen am unteren Ende der Hierarchien“ wecken (Michael Walzer ). Das Eintreten für sozialistische Werte läßt sich „nur noch aus der ethischen Überzeugungen heraus (rechtfertigen), daß so die Gerechtigkeit befördert werde“ (Stephen Bronner). Sie muß ihr altes Gleichheitsideal nicht verwerfen, sondern im Gegenteil, sie muß dieses neu entdecken. 
VI. 
Anlaß hierfür gibt es genug. In den USA sind die Reallöhne in den 90er Jahren unter das Niveau der 70er Jahre gefallen. In der BRD hat die Lohnquote 1998 den niedrigsten Stand seit 1949 erreicht. Sie liegt in Deutschland „und in Europa insgesamt heute niedriger als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Heiner Flassbeck). Selbst detailierte Studien belegen auch für angeblich „sozialdemokratisierte“ Wohlfahrtsgesellschaften wie Österreich und die Bundesrepublik ein dramatisches Wachstum der Ungleichheiten in der Einkommensverteilung. So ist die „Armutsquote“ in der BRD „zwischen 1962/63 und 1978 kontinuierlich zurückgegangen“, rechnet etwa der Sozialwissenschaftler Richard Hauser vor. „Mußte 1962 noch etwa jeder zehnte Bundesbürger mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens auskommen, so war es 1978 nur mehr jeder Fünfzehnte … bis sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre die Entwicklungsrichtung umkehrte. 1988 erreichte die Armutsquote wieder 8,8 Prozent und lag damit deutlich Über dem Wert von 1969, 1993 lag sie mit 10 Prozent sogar wieder auf dem Ausgangsniveau von 1962.“  Welche Zahlen man immer zur Grundlage nimmt, unumstritten ist, daß sich „in allen westlichen Industrieländern der Trend zu einer immer egalitäreren Einkommensverteilung seit den achtziger Jahren markant umgekehrt“ hat (Paul Nolte).  Noch während der ersten Jahre der Blair-Regierung öffnete sich die Schere zwischen arm und reich dramatischer, als dies selbst in den zehn davorliegenden Jahren konservativer Herrschaft der Fall war, und auch in der BRD ergab der erste „Reichtums- und Armutsbericht“ der Bundesregierung, daß sich die Ungleichheiten in den Jahren 1992 bis 1998 rasant ausbreiteten: so hat sich die Zahl der D-Mark-Millionäre versiebenfacht, indes sich die der Sozialhilfeempfänger in der gleichen Zeit vervierfachte .
Doch während die sozialphilosophische Literatur über kulturalistische Gerechtigkeitsnormen (zwischen den Geschlechtern, zwischen Ethnien etc.) in den vergangenen Jahren Bibliotheken anwachsen ließ, findet die Debatte, welches Ausmaß an sozialer Ungleichheit sich eine Gesellschaft leisten kann und will paradoxerweise nicht statt. „Während die Sozialhilfe für den gesamten Lebensunterhalt einer Sechsjährigen einen Regelsatz von 273 Mark im Monat gewährt, steht dem Haushalt eines Selbständigen pro Kopf vom Säugling bis zur Oma monatlich 7.550 Mark an ausgabefähigem Einkommen zur Verfügung. 28-mal mehr“, rechnet Martin Künkler, Koordinator verschiedener gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, in der „taz“ vor vor. Und er stellt die selten gehörte, gleichsam verbotene Frage: „Warum soll nicht, wer das zwei-, drei- oder vierfache des Durchschnitts verdient oder besitzt, als so ausreichend reich gelten, daß darüber hinaus gehender Reichtum zu größeren Teilen abgeschöpft oder wieder für die Gesellschaft nutzbar gemacht werden darf?“ 
Wobei die zunehmend nicht-egalitäre Verteilung der Einkommen nur ein Element der Klassen-Spaltung westlicher Industriestaaten ist. 
Der Historiker Paul Nolte hat in einem bemerkenswerten Aufsatz die neuen Trennungen nicht nur als „ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne ihre Realität beseitigen zu können“ , beschrieben, sondern auf neue Phänomene der Klassen-Spaltung hingewiesen. So habe der „private Konsum … eine größere Bedeutung für die Selbststilisierung des Einzelnen“ gewonnen, haben „Konsum und Lifestyle soziale Unterschiede nicht eingeebnet, sondern vergrößert“. Die Chancen, die etwa der technologische Fortschritt bietet, verringern gleichzeitig die Möglichkeiten derer, die – aus welchen Gründen immer – diese nicht wahrnehmen können. Die „Internet-Linie“ spaltet alle, die die neuen Technologien beherrschen, von jenen ab, die dies nicht tun. So spielen die Kategorien „Alter und Generation in den sozialen Verteilungskämpfen eine größere Rolle“. Bei der Rede über „Individualisierung“, „Risiko“ und „Optionen“ fällt selten auf, „daß die einen mehr Optionen haben, die anderen größere Risiken tragen“. Wenngleich auch, trotzdem sich die Schere zwischen Oben und Unten öffnet, durch den sozialen „Fahrstuhleffekt“ sich der allgemeine Lebensstandard erhöht haben mag (was ohnehin bei weitem nicht für alle gilt), so wuchsen die Abstände und haben sich „neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung herausgebildet“. Völlig unbeachtet, so Nolte, sei etwa der Umstand, daß sich zunehmend das „Premium-Segment“ gehobener Gütermärkte vom Massenkonsum abhebt, während „am anderen Ende der Preiskampf der ‚Discounter‘ imme
r härter wird.“ Anstelle einer „nivellierenden Massengesellschaft“, wie uns allgemein glauben gemacht wird, schaffen diese „Optionen“ eine Kultur, die der Demonstration und Verfestigung von Klassenunterschieden dient“. Nolte: „Das Fernsehen ist das beste Beispiel: Der Aufstieg der Privatsender hat ja nicht einfach zu einer ‚Bilderflut‘ geführt, er hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, daß sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3sat oder Arte etablierten.“
VII.
Wir können das Netz nunmehr zuziehen. Die Gerechtigkeitsfrage, die heute jeden politischen Diskurs – von der Steuergesetzgebung bis zur Globalisierungsdebatte – dominiert, ist nicht zu klären, solange um die Frage der „Gleichheit“ wie um einen heißen Brei herumgeredet wird. Der öffentliche politische Diskurs der Eliten über die Sachzwänge moderner, dynamischer, globalisierter Ökonomien und der Alltagsverstand breiter Bevölkerungsschichten klaffen dramatisch auseinander. Bei allen Unwägbarkeiten der Demoskopie – zumindest eine gewichtige Minderheit, wenn nicht die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung in den (kontinental-)europäischen Ländern ist der Überzeugung, daß mehr Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung gut täte und daß es in diesen Gesellschaften nicht mehr gerecht zugeht. Eine große Mehrheit der Bürger geht davon aus, daß die Sozialdemokratien jene Parteien sein müßten, die Ungerechtigkeiten bekämpfen – und sind offenbar zumindest in höchstem Maße skeptisch, ob die Sozialdemokraten diese ihre Aufgabe auch zu erfüllen vermögen. Dies führt teils zu schmerzhaften Krisenerscheinungen oder gar zu einem dramatischen Kollaps des traditionellen Parteiensystems (wie in Österreich) – und in jedem Fall zur Sklerose der hergebrachten sozialdemokratischen Parteiorganisation. Indes tobt in den europäischen Sozialdemokratien ein Streit um die falsche Alternative zwischen sogenannten „Modernisierern“ und sogenannten „Traditionalisten“ – erstere nehmen Abschied von der Gleichheit, letztere verteidigen sie auf verquere Art, durch das Prisma Überholter Institutionen und schnüren ihr nicht selten ihre „vested interests“ auf den Rücken. 
Da freilich, wie wir oben gesehen haben, die Gleichheitskultur in unseren Gesellschaften „so kompliziert wie das Leben selbst ist“, wäre es überheblich, so zu tun, als wäre es eine einfache Sache, moderne linke Politik zu formulieren. Den deutschen Sozialdemokraten ist immerhin zugutezuhalten, daß sie sich dieser Angelegenheit letztlich mit der (ihnen?) angemessenen Ernsthaftigkeit in einer Programmdebatte stellten. 
Denn selbstverständlich gibt es Modernisierungsbedarf, und sei es bloß in der Hinsicht, daß es ein Irrtum wäre, daß „die Instrumente, die wir in der Vergangenheit zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit gefordert und angewandt haben, schon gleichbedeutend wären mit dem Grundwert der Gerechtigkeit selber“, wie dies Gerhard Schröder formuliert hat. 
Daß die Frage der Gleichheit – oder, im Umkehrschluß, der Berechtigung und Funktionalität von Ungleichheit -, „der archimedische Punkt“ sei, und zugleich „auch der wundeste Punkt, liegt auf der Hand“, bekundete sein Parteifreund Wolfgang Clement, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Clement nimmt Abschied vom Gleichheitsideal, nicht ohne daß das Dilemma spürbar würde: „Verordnete Gleichheit – das lehrt die Geschichte – ist der Tod von Gerechtigkeit und Freiheit. Moderne Marktwirtschaften hingegen können die Chancen auf Gleichheit erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis zu sichern oder zu versprechen. Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten.“ Entscheidend sei, ergänzt Wolfgang Thierse, der Bundestagspräsident, die Frage „nach dem in unserer Gesellschaft tatsächlich vorhandenen Gerechtigkeitsverständnis“. 
Schließlich werden ja nicht alle Formen der Ungleichheiten von den Menschen abgelehnt. Dem Gleichheitsprinzip stehen auch Ungleichheitsprinzipien entgegen: daß besondere Kenntnisse, eine gediegene Ausbildung, große Erfahrung zu höheren Einkommen oder mehr Einfluß „qualifizieren“, wird selten in Abrede gestellt; auch wird das Prinzip von freiem Tausch – das freilich die Akkumulation von Reichtümern zur Konsequenz haben kann – kaum bestritten; nicht jede Differenz an Chancen wird gleich als Folge von ungerechten Privilegiertheiten allgemeiner Kritik unterzogen. Zudem kommen zu all diesen Prinzipien, die in Widerspruch zueinander treten können und einen Raum der „komplexen Gleichheit“ (Michael Walzer) eröffnen, auch noch Erwägungen des Nutzen hinzu. Wenn die Durchsetzung von mehr Gleichheit zwar zur Verringerung der Privilegien der Oberen beiträgt, den Unteren aber allenfalls in ihrer relativen Position nützt, keineswegs aber in ihrer absoluten Wohlfahrt, so hat das Gleichheitsprinzip zweifellos schlechte Karten – insbesondere also, wenn umverteilende Maßnahmen tatsächlich die allgemeine Prosperität beeinträchtigen würden. Darum sollte der Egalitarismus zumindest moderat genug sein, „um im Konfliktfall ‚Gleichheit versus Wohlfahrt‘ nicht immer Gleichheit Trumpf sein zu lassen“.  All diese Einschränkungen führen nicht wenige Gesellschaftstheoretiker dazu, das Gleichheitsprinzip vollends fallen zu lassen: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“ (Harry Frankfurter) .
Doch es wäre irreführend, diese Einschränkungen und Dillemata zu übertreiben, insbesondere, wenn ihre theoretische Begründung von zweifelhaften Prämissen ausgeht. Im Gegenteil: Es wird konstitutiv für die Linke bleiben, die Verringerung sozialer Ungleichheiten anzustreben und es wird über ihren Erfolg entscheiden, ob es gelingt, dieses Streben nach sozialer Gerechtigkeit auch sichtbar zu machen. 
Totale Gleichheit der Einkommen ist nicht möglich, und die meisten Menschen halten sie wahrscheinlich auch nicht für erstrebenswert. Aber eine mindestens ebenso große Mehrheit hält dramatische Einkommensunterschiede für gleichsam verwerflich; kein Mensch kann darüber hinaus die totale Durchökonomisierung und -monetarisierung der Gesellschaft begrüßen. Zudem sind große Ungleichheiten auch ökonomisch kontraproduktiv. Alle Erfahrung zeigt, „daß ein höherer Grad an Ungleichheit“ wirtschaftlichem Wachstum „ungünstiger ist als ein geringerer Grad an Ungleichheit“ (Philip Green) . Weit davon entfernt, daß eine Gesellschaft, die große Ungleichheiten zuläßt, leistungsstärker wäre, „ist wachsende Ungleichheit selbst eine Ursache wirtschaftlicher Ineffizienz“ (Will Hutton) . Sicherlich mag es eine Linie des Grenznutzens geben, ab der wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen die Prosperität eines Gemeinwesens einschränken und damit ihrem eigenen Ziel – allgemeiner Wohlfahrt – abträglich werden; doch viel mehr als solchen eher theoretischen Fällen sollten wir uns der ganz und gar praktischen Erfahrung zuwenden, daß es gerade die generösesten Wohlfahrtsstaaten in Europa sind, die im internationalen Wettbewerb bestehen; insbesondere die These, ein starker Sozialstaat behindere Innovation, erweist sich, wirft man einen Blick auf alle empirische Evidenzen, als geradezu absurd. „Finnland und Schweden sind gegenwärtig die am meisten fortgeschrittenen Länder in Europa und vielleicht, stellt man ihre Größe in Rechnung, in der Welt“, verweist der Sozialwissenschaftler Göran Therborn auf die Innovationsleistungen der skandinavischen Länder – und er hat auch eine Erklärung bei der Hand: „Weniger Ungleichheit bedeutet größere Mobilität.“ Seine Kollegin Sheri Berman sekundiert: „Die jüngsten Erfolge von Län
dern wie Schweden oder den Niederlanden zeigt, daß generöse Wohlfahrtsprogramme und eine dynamische Wirtschaft sich gut ergänzen.“   
Auch wenn man die Notwendigkeit ökonomischer Anreize nicht bestreiten mag, so sind diese nie „natürlich“, sondern in ihrer praktischen Ausformung „erlernt“ – und auch moralisch eingefärbt. Jede Gesellschaft verfügt über Codes darüber, „was man tun kann“ und was man „nicht tun kann“. Was als legitime Verfolgung egoistischer ökonomischer Interessen in einer konkreten Gesellschaft gilt, ist immer begrenzt. Jenseits dieser Grenze beginnt jener Grad an Gewinnstreben, den die Gesellschaft als „kriminell“ oder als „unmoralisch“ definiert – oder als beides. Das marktliberale Credo, daß sich der Wert eines Gutes an dessen monetärer Bewertung mißt, ist in der gesellschaftlichen Praxis nicht zu verteidigen. „Daß heutzutage Babies gekauft und verkauft werden, gilt nicht als Ausweis dessen, daß wir den Wert menschlichen Lebens so hoch schätzen, sondern ist Ausdruck für das Ausmaß sozialer Verwahrlosung“, schreibt Philip Green in seiner Studie „Equality and Democracy“ – wer wollte ihm widersprechen? „Die alte Maxime, der zufolge es Dinge gibt, die für Geld nicht zu haben sind ist nicht nur normativ, sondern auch sachlich nach wie vor richtig“, argumentiert Michael Walzer. „Was käuflich sein soll und was nicht, ist etwas, worüber stets und zu allen Zeiten die Menschen entschieden… Der Markt war niemals – und er ist es auch heute nirgendwo – ein allumfassendes Verteilungssystem.“ 
Wer große Ungleichheiten in Kauf nimmt, akzeptiert zudem, daß viele Menschen in wirtschaftlich und sozial deklassierten Verhältnissen leben; diese Menschen werden, wenn das gesellschaftliche Versprechen auf mehr Gerechtigkeit nichts mehr trägt, träge, perspektivlos, wenn nicht kriminell… Sie erzeugen soziale Kosten. Damit es auch der letzte Marktprophet versteht, sei hier in der Sprache der Wirtschafttheorie formuliert: Wenn es für diese Menschen keine Wahrscheinlichkeit für sozialen Aufstieg gibt – wenn also von rationalen Erwartungen auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr gesprochen werden kann -, dann werden diese Erwartungen notwendigerweise reduziert (möglicherweise auf einen Wert nahe null) und diese Menschen werden weit weniger zum allgemeinen sozialen und ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft beitragen als sie ansonsten täten.
Aber selbst wenn sie ihr bescheidenes Leben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Chancen so gut als möglich meistern, so wird eine solche Gesellschaft nicht jene – auch soziale – Mobilität inspirieren, die sie, gemeinsam mit der Flexibilität, zu ihrem beliebtesten Slogan gemacht hat: sie wird chancenlose Unterklassen verfestigen und auf dem anderen Ende der sozialen Leiter zu zunehmender Abschottung der Eliten führen. 
Wir sehen also: nicht nur sind in unseren Gesellschaften sedimentierte Gleichheitsideale lebendig und am Werke, es gibt auch gute Gründe, die Gleichheit gegen ihre Feinde zu verteidigen. 
VIII.
Unterprivilegierte haben ein Interesse an mehr „Gleichheit“, das „Ethos der Gleichheit“ ist aber auch eine jener politischen Leidenschaften, ohne die „keine politische Partei oder Bewegung, die gegen die auf Reichtum und Macht gegründeten, etablierten Hierarchien antritt, … jemals erfolgreich sein können“ wird, wie der US-Sozialphilosoph Michael Walzer schreibt. Nur die Empörung Über die Ungleichheit kann jene politischen Leidenschaften mobilisieren, die nötig sind, um mehr Gleichheit zu realisieren. Insofern ist nur folgerichtig, daß der Abschied vom „Gleichheitsideal“ von Seiten eines modernistischen Technokratismus verkündet wird, dem die politische Aktivierung der Menschen – der Objekte technokratischer Politik – seit jeher störend ist. Ein solcher Modernismus kommt der Abwicklung der Sozialdemokratie in jenem Moment gleich, in dem Ungleichheiten dramatisch wachsen. Er zerstört zudem das Vertrauen in jede demokratische Politik, als er sich selbst als logische und notwendige Konsequenz ökonomischer Transformationen deklariert, welche entschiedene Intervention der Politik ins Marktgeschehen künftig nicht mehr möglich mache. Doch wenngleich er das alte Gleichheitsversprechen der Sozialdemokratien fahren läßt, so ist er doch immerhin auch der Versuch einer Antwort auf neue Gefährdungen der Gleichheit, insofern seine Betonung auf „Bildung“, darauf, die Menschen „beschäftigbar“ (employable) zu machen, wenigstens modernen und radikalisierten Exklusionsprozessen entgegenwirken will. 
Die „Traditionalisten“ geben zwar vor, die traditionellen Werte der Sozialdemokratie zu verteidigen, repräsentieren aber allzu oft bloß „vested interests“ – in mehrfacher Hinsicht. Im besten Falle werden die gewohnten Mechanismen des traditionellen Sozialstaates verteidigt, was manche „unintendierten Folgen“ des sozialstaatlichen Regimes (relative Bevorzugung der Mittellagen gegenüber den bedürftigsten Unterschichten) zementiert und auf neue Exklusionprozesse keine sinnvolle Antwort gibt. Nicht selten werden auch bloße Apparatinteressen verteidigt (was wiederum freilich noch nichts darüber aussagen muß, ob eine Position in der Sache falsch oder richtig ist). So verschließt, beispielsweise, die Verteidigung der „Flächentarifverträge“ durch die Gewerkschaften zwar da und dort Einfallstore gegen Lohndumping, nimmt aber den Belegschaften ebenso die Möglichkeit, auf der Ebene der betrieblichen Mitbestimmung spezifische Antworten auf ihre spezifischen, aktuellen Probleme zu finden – und dient vor allem Apparatinteressen der zentralen Gewerkschaftsbürokratie, ohne deshalb notwendigerweise ein Mehr an Gleichheit zu realisieren. 
Moderne sozialdemokratische Politik ist beides nicht. Modern ist: Eine neue Politik der Gleichheit, die alte Ungerechtigkeiten und neue Ungleichheiten bekämpft. Eine Politik, die jene Minderheit der Neuen Mitte und der Oberklassen, die sich aus der gesellschaftlichen Solidarität verabschieden, nicht noch mit den modernen Stichworten versorgt, sondern die die Ideologie der „Ungleichmacherei“ bekämpft – ein zunächst ideologischer Kampf. Modern ist ein Bündnis aus Unterklassen und Deklassierten einerseits und den Gleichheitsidealen und dem Unbehagen der Mittellagen andererseits. Modern ist, eine Mehrheit für eine Politik die Umverteilung zu gewinnen. 
„Das Argument dafür wäre“, um hier den unverdächtigen Michael Prowe das Wort zu geben, „daß jeder, auch die Wohlhabenden, letztendlich von einer größeren sozialen Kohäsion profitiert, und daß diese nur durch eine Beschränkung des individuellen Profitmotivs zu haben ist.“ Im Übrigen verdanken auch die Wohlhabenden und Reichen „ihren Wohlstand nicht nur ihren Talenten und ihrer harten Arbeit, sondern auch dem Set sozialer Institutionen, Gesetze und Regeln die das Funktionieren des kapitalistischen Marktsystems erst möglich machen.“ 
Bei aller Komplexität sind somit doch einige Elemente einer solchen Politik einer modernen Linken absehbar. 
Sie muß nicht nur regulierend in das Marktgeschehen eingreifen, um dramatisch wachsende Ungleichheiten, aber auch systemische Störungen, die krisenhafte Unsicherheiten zur Folge haben, zu mildern – es scheint auch an der Zeit, ins Bewußtsein zu rufen, daß die Bereitstellung öffentlicher Güter, die für jedermann und jederfrau auf gleiche Weise zugänglich sind, ein Wert an sich ist. 
Die Frage der Organisation des Gesundheitsystems, beispielsweise, ist zwar auch eine Frage der Effizienz und der Finanzmittel des Staates, aber sie ist dies eben nicht nur: eine Differenzierung in eine Grundversorgung und einen „Überbau“, der auf privater Vorsorge gründet, hat nicht nur zur Folge, daß bestimmte Leistungen für Unterprivilegierte unter Umständen nicht meh
r zu haben sind (was alleine schon schlimm genug wäre), sondern sie produziert auch einen Raum mehr, in dem sich die Bürger nicht mehr als Gleiche begegnen. Sphären zu erhalten und auszuweiten, die dem Marktgeschehen und der Frage, ob man sie bezahlen kann oder nicht, entzogen sind, ist und bleibt ein Projekt, das nicht nur ein soziales, sondern auch ein demokratisches ist. Wenn die Reichen und die Armen die gleichen Schulen besuchen, die gleichen Spitäler aufsuchen, den gleichen Zugang zur Kunst haben, dann hat dies mindestens einen ebenso großen Einfluß auf die „Gleichheits- und Gerechtigkeitskultur“ einer Gesellschaft wie die Frage der Einkommensverteilung. Stadtplanung kann das Ziel fördern, daß Gruppen unterschiedlicher sozialer Stellung in der gleichen Nachbarschaft wohnen oder sie kann diesem Ziel abträglich sein; die Qualität des öffentlichen Verkehrssystems hat wesentlichen Einfluß darauf, ob es von den Wohlhabenden und den Unterprivilegierten auf gleiche Weise benützt wird. Es sind dies, kurzum, Fragen, die über mehr entscheiden als über die relative Gleichheit von Bürgern eines Gemeinwesens, sondern letztlich darüber, ob dieses seinen Namen verdient, ob sich in ihm Bürger welchselseitig als Ihresgleichen begegnen.
Wir sehen also: Es gibt Gründe genug, daß das Ideal der Gleichheit der „Polarstern“ (Bobbio) für eine modernisierte Linke bleibt – auch, wenn es nicht immer nützlich und auch nicht immer möglich sein mag, alle Ungleichheiten auszugleichen. In unsere heutige Realität übersetzt heißt das Prinzip: Gleiche Rechte für alle und impliziert, gleichen Zugang für alle, in öffentlichen Sphären, deren Raum sich wenn möglich erweitern, mit Sicherheit aber nicht reduzieren sollte.
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