„Mit Schulden muss Schluss sein“

SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel über den umstrittenen Fiskalpakt, die Euro-Krise und die Frage, ob es den Sozialdemokraten heute an „Killerinstinkt“ fehlt. Falter, 5. Juni 2012
Sigmar Gabriel, 52, war Ministerpräsident in Niedersachsen, Umweltminister in der Großen Koalition und ist seit drei Jahren Parteivorsitzender der SPD. Die führt er allerdings in einer „Troika“, zu der auch Ex-Finanzminister Peer Steinbrück und der Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier zählen. Wer von ihnen nächstes Jahr als Kanzlerkandidat Angela Merkel herausfordert, wird demnächst von den dreien ausgepokert werden müssen. 
Nach dem Ausbruch der Finanzkrise hätte man eigentlich annehmen können, dass neoliberale und konservative Politik abgewirtschaftet haben. Stattdessen wurden aber vor allem Sozialdemokraten abgewählt. Woran lag’s?
Gabriel: Sie sind vor allem in jenen Ländern abgewählt worden, wo sie in der Regierung versuchen mussten, mit umstrittenen Maßnahmen ihre Länder vor dem Kollaps zu bewahren. Sie haben den Preis für unpopuläre Maßnahmen bezahlen müssen. Aber zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Sozialdemokraten in den vergangenen 15 Jahren den Marktradikalen zu viel nachgegeben haben. Wir sind in Teilen mitverantwortlich für die Deregulierung und Entfesselung der Finanzmärkte. Wenn wir heute sagen, wir haben aus den Fehlern gelernt und wollen zurück zu einer fairen Balance in den Marktwirtschaft, dann begegnet uns Skepsis. Es gibt keine Veranstaltung, bei der nicht ein Sozialdemokrat oder ein Gewerkschafter aufsteht und fragt: ‚Warum sollen wir Euch jetzt glauben?‘ Darüber hinaus gibt es eine so dramatisch gewachsene Enttäuschung über die Politik allgemein, dass sich die Menschen komplett abwenden. 

Eine fundamentale Glaubwürdigkeitskrise?
Gabriel: Ich erlebe ein Ohnmachtsgefühl, das es uns schwer macht. Die erste Ausprägung lautet: Geld regiert die Welt. Die zweite ist für uns Sozialdemokraten noch gefährlicher: Viele Menschen gehen davon aus, dass Politik sich nur noch um sich selbst dreht und sich die Politiker, wir inklusive, ohnehin nicht für ihre Probleme interessieren. Wenn die Leute von uns nichts erwarten, brauchen wir uns nicht wundern, wenn sie uns nicht wählen. 
Könnte der Erfolg von Francois Hollande in Frankreich eine Trendwende bringen, wie manche hoffen? 
Gabriel: Europa ist ein Kontinent mit dramatischen wirtschaftlichen Ungleichgewichten, der eine gemeinsame Währung und einen Binnenmarkt etabliert hat. Damit ist den schwächeren Volkswirtschaften die Möglichkeit genommen, sich durch Währungsabwertung wieder auf Augenhöhe mit den stärkeren zu bringen. Eigentlich gibt es nur zwei Lösungen: Entweder man reduziert Löhne und finanziert Sozialleistungen über Schulden, oder man ist bereit zu einem sehr langfristigen Transfer von den Stärkeren zu den Schwächeren. Letzteres war in den vergangenen Jahrzehnten in der deutschen Politik praktisch undenkbar. Wir sind dieser absurden „Nettozahlerdebatte“ aufgesessen: Deutschland zahlt zwar netto mehr nach Brüssel, als es zurückbekommt. Aber wir sind als Exportnation natürlich die großen Nettogewinner der Europäischen Union. Der Wahlsieg von Hollande zeigt, dass es zu einer Politik, die den europäischen Binnenmarkt nur als Konkurrenz zwischen Staaten begreift, eine Alternative gibt und dass man dafür auch Mehrheiten gewinnen kann.
Ist diese Alternative nicht noch ein bisschen unartikuliert? Die Konservativen haben ein klares Programm: „sparen“, oder wie sie das nennen: „gesunde Staatsfinanzen“. Die Sozialdemokraten antworten darauf immer mit, „Ja, aber“, und unter „aber“ kommen zehn wichtige Punkte. Damit können sie die „Wirtschaftskompetenz“, die den Konservativen zugeschrieben wird, aber offenbar nicht gefährden. 
Gabriel: Konservative haben, aus welchen Gründen immer, in den Augen vieler Leute einen Kompetenzvorsprung in Fragen „solide Finanzen“ und „wirtschaftlicher Erfolg“. Die Realitäten sprechen aber eine andere Sprache. Die Schulden steigen und die Wirtschaft bricht unter der Last der Sparpolitik zusammen. Ich würde aber auch gar nicht versuchen, in einen Wettbewerb um die ökonomische Kompetenz zu gehen. Ich würde in einen Wettbewerb gehen um die Frage: Wie wollen wir eigentlich zusammenleben? Wollen wir wirklich ein Eliten-Europa? Wie wollen wir eigentlich eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft gestalten? Die SPD hat in Bremen Wahlen gewonnen mit nur einem Wort auf den Plakaten: „Miteinander“. Das hat etwas zum Schwingen gebracht, was in den Augen vieler Leute verloren gegangen ist, seit wir in der neoliberalen Welt leben, in der das Motto vorherrscht, ‚wenn jeder an sich selber denkt, dann ist an jeden gedacht‘. Dafür sollten wir auch symbolische Auseinandersetzungen suchen, wie etwa um die Frage, warum eigentlich die Finanzmärkte für die Schulden, die sie verursacht haben, bis heute keinen Cent zahlen. 
Vielleicht sind die Sozialdemokraten nur einfach zu wenig selbstbewusst und aggressiv. Der Wirtschaftspublizist Wolfgang Münchau hat unlängst geschrieben, „der SPD fehlt der Killerinstinkt“. 
Gabriel: Ach, diese Leute haben Spaß an knackigen Formulierungen. Ich halte von dem Quatsch nichts. Es geht doch nicht um Killerinstinkt. Es geht doch nicht darum, die Frau Merkel politisch zu killen, sondern um eine tragfähige Politik, die übrigens hinterher auch einhalten kann, was sie vorher versprochen hat. 
Naja, aber man kann doch sagen, beispielsweise, der Fiskalpakt ist falsch und muss verhindert werden und es reicht nicht, vorsichtig ein paar Abschwächungen vorzunehmen.
Gabriel: Ja, wenn man das meint, dann kann man das so sagen. Aber dieser Meinung sind wir nicht. Ich bin persönlich der Überzeugung, dass mit der Staatsfinanzierung über Schulden Schluss sein muss, weil uns das in immer stärkere Abhängigkeit von den Finanzmärkten bringt und außerdem nur die stärkt, die reich genug sind, ihr Geld an die Staaten zu verleihen. Das ist ja eine Umverteilung vom normalen Steuerzahler zu den Vermögenden. Allerdings bin ich auch der Überzeugung, dass der Fiskalpakt ohnehin ein Papiertiger bleibt, wenn es uns nicht gelingt, in Europa zu Wachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit zu kommen. Weil dann der Schuldenabbau nicht klappen wird. 
Den Kurswechsel bringen sie nur in Bündnissen zusammen. Aber die werden auch immer komplizierter. In Deutschland haben Sie demnächst wohl vier Mitte-Links-Parteien im Bundestag. Ist dann nicht die Große Koalition die einzige realistische Regierungsform? 
Gabriel: Nein, absolut nicht. Aber Sie haben Recht: Die Linke in Deutschland ist immer in die reine Lehre verliebt. Wenn ein Katholik mit der Kirche unzufrieden ist, tritt er aus. Wenn ein Protestant mit der Kirche unzufrieden ist, tritt er aus und gründet eine neue. So ähnlich ist es mit der deutschen Linken auch. Das trägt zur Zersplitterung der politischen Landschaft bei. Aber diese Zersplitterung ist auch eine Folge der Individualisierung, der Auflösung fester Milieus, die wir an sich ja alle gut finden. Aber damit lassen auch die Bindekräfte der großen Parteien nach. Das ist schwer zu verhindern. Wir haben aber in den Bundesländern schon auch gezeigt, dass es uns gemeinsam mit den Grünen gelingen kann, klare Mehrheiten zu gewinnen. Das wollen wir 2013 auch schaffen. Jedes Liebäugeln mit einer großen Koalition schadet da nur, weil wir mit der Union nie einen ordentlichen Richtungswechsel hinkriegen. 
Und eine Dreierkoalition mit den Piraten? 
Gabriel: Die Piraten werden sich das nicht vorstellen können. Die sind eine junge Partei, die erstmals in den Bundestag einziehen will. Es wäre eine ziemliche Zumutung, würde man von denen sofort einen Eintritt in die Regierung erwarten. Aber wenn es eine glaubwürdige Chance gibt, dass Rot-Grün die Merkel-Regierung ablöst, dann werden hoffentlich die Wähler auch so agieren, dass die Piraten gar nicht in den Bundestag einziehen. 
Letzte Frage: Sie sind neuerdings ja ganz lebhaft auf Twitter unterwegs. Macht das Spaß? 
Gabriel: Oja!
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie ausreichend Tagesfreizeit für solche Hobbys haben… 
Gabriel: Ach, auf langen Autofahrten klappt das prima. 
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