1/2013 – die Woche, in der Währungsfonds und EU neoliberale Weisheiten zertrümmerten!

Schon vor ein paar Wochen hat der Internationale Währungsfond IMF in einer kleinen, versteckten Infobox eine spektakuläre Bemerkung gemacht: Man habe sich seit 30 Jahren systematisch verrechnet und deshalb falsche Politikvorschläge gemacht. Jetzt hat der Fonds ein umfassendes „Working Paper“ nachgeschoben, das sehr technisch und mathematisch daher kommt, aber eine kleine Sensation ist. Es trägt den nüchternen Titel: „Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers“ („Wachstumsprognose-Fehler und Fiskal-Multiplikatoren“) und stammt aus der Feder zweier Forscher, worunter einer, Olivier Blanchard nämlich, nicht irgendjemand ist, sondern der Chefökonom des Fonds. 
Dabei geht es um eine zunächst technische Vorannahme, die aber für die Politikempfehlungen des Fonds und anderer Akteure (etwa der EU-Troika, die heutzutage besser unter dem Namen „Destroika“ bekannt ist), wichtig ist. Diese Vorannahme lautet etwa so: Wenn Regierungen harte Sparprogramme fahren, wird das die Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaften reduzieren, aber nicht sehr. Wenn eine Milliarde an Staatsausgaben reduziert werden, sinkt das Nationaleinkommen nicht um eine Milliarde, sondern beispielsweise nur um 500 Millionen. In diesem Fall ist der „Fiskal-Multiplikator“ eben 0,5. Ein eingesparter Euro bringt keine BIP-Reduktion von einem Euro, sondern nur von 0,5 Euro. Wenn also eine Regierung eine Milliarde an Staatsausgaben kürzt, reduziert sich das BIP um 500 Millionen, damit fallen natürlich auch Steuereinnahmen von, beispielsweise, 200 Millionen aus. Die Netto-Reduktion des Defizits beträgt aber immerhin noch 800 Millionen und die Einkommen der Bürger haben sich auch nicht gar so extrem reduziert, sondern eben nur um 500 Millionen. 

Die Erfahrung zeigte, schrieben nun die Ökonomen, dass über viele Jahre ein Multiplikator von 0,5 eine realistische Annahme war. Seit Ausbruch der Finanzkrise hat sich die Lage aber verändert. Nun ist, insbesondere in krisengebeutelten Ländern wie Griechenland und anderen, aber nicht nur in diesen, von einem Multiplikator „signifikant über 1“ auszugehen. 
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Was heißt das aber nun, ein Multiplikator „signifikant über 1“? Das heißt, dass, wenn der Multiplikator beispielsweise in Wirklichkeit bei 1,2 liegt, für jede Milliarde eingesparter Staatsausgaben das Nationaleinkommen um 1,2 Milliarden sinkt. Angenommen, dann sinken auch die Steuereinnahmen um 600 Millionen Euro – dann wurden die Staatsausgaben um 1 Milliarde gesenkt, die Bürger signifikant ärmer, aber das Defizit der öffentlichen Haushalte ist gerade einmal um 400 Millionen Euro gesunken. 
Die Sparpolitik führt dann zu sehr viel menschlichem Leid, scheitert aber an ihrem Ziel, die Defizite zu reduzieren, von substantiellem Schuldenabbau ganz zu schweigen. „Wir haben herausgefunden, dass die Prognosen den Anstieg der Arbeitslosigkeit signifikant unterschätzten, ebenso den Rückgang der privaten Konsumausgaben und der Investitionen“, bilanzieren die Ökonomen.
Na Bumm, die gesamte Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre basierte auf falschen Vorannahmen. 
Das Ganze ist aber auch noch aus einem anderen Grund spektakulär. 
Ein niedriger Multiplikator impliziert ja die Annahme, dass der Staat in der Wirtschaft keine allzu große Rolle spielt. Denn der Multiplikator wirkt ja nicht nur bei Sparprogrammen, sondern auch bei Ausweitung staatlicher Aktivität. Wird ein niedriger Multiplikator angenommen, spielt das in die Hände der Neoliberalen, die dann etwa so argumentieren: Der Moloch Staat erhebt Steuern, gibt Geld aus, aber es hat nur wenig Wirkung. Legt er Investitionsprogramme von 1 Milliarde auf, verpuffen sie weitgehend: Der Anstieg des Volkseinkommens ist gerade einmal 500 Millionen, dafür werden aber einige negative, unerwünschte Folgen in Kauf genommen (etwa ein Ansteigen der Zinsen für private Investoren, da ja der Staat Kapital abschöpft und damit das Angebot verknappt). 
Liegt der Multiplikator aber bei 1,2 funktioniert die gesamte neoliberale Argumentationsreihe nicht mehr, weil staatliche Aktivitäten einen signifikanten Wachstumsschub auslösen können.
Insofern markiert die Korrektur des Fiskal-Multiplikators einen vollkommenen Kurswechsel des IMF. Natürlich darf man das nicht übertreiben: Der IMF empfiehlt natürlich nicht, den Konsolidierungskurs zu stoppen oder in Griechenland mit massiver weiterer Schuldenpolitik die Wirtschaft anzukurbeln. Das kann er auch gar nicht, da ja niemand Griechenland Geld leihen würde. Aber die Philosophie hinter der Sparpolitik ist zertrümmert. 
Diese Kehrtwende kommt übrigens nur für jene überraschend, die die Politik des IMF in den vergangenen Jahren nicht allzu genau im Auge hatten. 
So hatte der IMF schon vor einigen Monaten für Aufsehen gesorgt, indem er in einer Reihe von kritischen Untersuchungen darlegte, dass die wachsende Ungleichheit das Hauptproblem der westlichen Ökonomien ist und vor allem auch für die Finanzkrise mitverantwortlich ist. Ich habe hier in diesem Blogeintrag darüber bereits berichtet. Hier deshalb nur ein kurzer Abriss, in welche Richtungen im Währungsfonds heute gedacht wird: 
In einem tollen Interview, das das Web-Kulturmagazin „Eurozine“ veröffentlichte, erklärt jetzt IMF-Forscher Michael Kumhof, wieso die gewachsenen Ungleichheiten auch die Ursache für die Finanzkrise waren. Das Erklärungsmodell der IMF-Forscher sieht so aus:
It is based on the idea that the wealthiest five per cent have increased their incomes to the extent that they cannot possibly spend it all. You can only own so many Armani suits. Neither can the very rich find enough companies that are sufficiently profitable for them to invest in. The only thing left for them to do is to lend the money through the banking sector. Meanwhile, the remaining 95 per cent get a smaller slice of the pie. They have to borrow money to keep up the consumption they feel entitled to. They still believe that they are going to get a larger slice of the pie in the long run and want to even out their spending. A great supply of money from the richest five per cent and a great demand to borrow among the remaining 95 per cent creates the type of debt burden we are seeing right now. The state has borrowed money, at home or abroad, to finance the consumption of the less affluent. 
Wachsende Ungleichheit bedeutet also, dass die Top-5-Prozent mehr Geld – und zwar viel mehr Geld – zur Verfügung hatten, als sie ausgeben oder auch nur gewinnbringend investieren konnten; und dass die unteren 95 Prozent immer weniger Mittel hatten, ihr Konsumniveau aufrecht zu halten. So floss das überakkumulierte Vermögen der Reichen in Form von Krediten an die weniger Begüterten. Die Schuldenspirale drehte sich. 
Sind mehrere Volkswirtschaften im Spiel und leihen die einen den anderen Geld – was sich dann als Leistungsbilanzüberschuss bzw. -defizit darstellt, dann macht das das Modell gewiss komplizierter, aber die Ursachen sind die gleichen: Ungleichheit pumpt die Schuldenblase auf, bis sie platzt. 
Deshalb ist grobe Ungleichheit auch vom Standpunkt einer kapitalistischen Marktwirtschaft ein großes Problem – oder umgekehrt formuliert: Je egalitärer, also gleicher die Verteilung in einem Gemeinwesen, umso stabiler und prosperierender ist die Wirtschaft. 
Eine weitere bemerkenswerte Aussage kam dieser Tage übrigens auch aus Brüssel. In einem Gutachten der EU-Kommission (unter Federführung des Kommissars für Soziales und Beschäftigung, des großartigen Laszlo Andor, den ich vor kurzem im Kreisky-Forum in Wien zu Gast hatte), das die fürchterliche soziale Lage in Südeuropa und die Rekordarbeitslosigkeit in der EU thematisierte, wurde auch die Einführung von Mindestlöhnen empfohlen. 
In der Zusammenfassung heißt es: 
„Die Ergebnisse der Analyse der Mindestlöhne zeigen, dass Geringqualifizierte in Ländern mit höheren Mindestlöhnen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt nicht
eingebüßt haben, sondern dass ihre Beschäftigungsquote in diesen Ländern sogar tendenziell höher ist. Mindestlöhne können auch dazu führen, dass das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern geringer ausfällt.“
Das ist nun, angesichts der Common Senses, mit dem man uns in den vergangenen Jahren in Europa traktierte, schon starker Tobak. Denn bislang hat man uns ja eingeredet, „Lohnflexibilität“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ (was de fakto heißt, Lohnkürzungen im Niedriglohnsegment), würden zu mehr Beschäftigung führen. Jetzt nimmt man endlich die empirischen Belege ernst, dass genau das Gegenteil der Fall ist – je niedriger die niedrigsten Löhne, desto höher die Arbeitslosigkeit. Auch das wusste bisher schon jeder, der nicht völlig ideologisch verbohrt ist, aber jetzt haben wir es quasi offiziell. 
Kleines Update: 
Hier noch ein Stück meines Freundes Jens Berger von den Nachdenkseiten zum selben Thema.
Wer sich die Frage genauer stellen mag, warum der Fiskalmultiplikator plötzlich so deutlich höher ist, als von den IMF-Forschern angenommen – hierzu zwei kurze Erklärungen. Erstens kann in normalen Zeiten, wenn eine Regierung mit Sparmaßnahmen die wirtschaftliche Entwicklung verdunkelt, die Notenbank beispielsweise mit Zinsreduktionen gegensteuern. Dann werden Investitionen billiger, und Unternehmen, die ansonsten ihre Ausgaben eingeschränkt hätten, schränken sie nicht so stark ein. Den Umstand, dass das in der Eurozone heute ohnehin schwierig ist, einmal beiseite gelassen, sind wir aber heute in einer Situation, wo das gar nicht mehr funktioniert. Die Zinspolitik der Notenbanken stößt an ihre Grenze, wenn die Zinsen ohnehin bei nahe Null liegen. 
Ein zweiter Grund ist offensichtlich: Nehmen wir an, in ansonsten wirtschaftlich prosperierenden Zeiten beschließt Österreich, seine Defizite zu reduzieren. Dann wird zwar die wirtschaftliche Aktivität inländischer Wirtschaftssubjekte betroffen sein, aber nicht die von ausländischen. Der Export, beispielsweise, macht dann einiges wett. Deshalb können sich auch einzelne kleine Volkswirtschaften in ansonsten weltwirtschaftlich problemlosen Jahren aus Krisen heraussparen, wie etwa Schweden in den neunziger Jahren. Aber das funktioniert natürlich überhaupt nicht in einer globalen Krise, in der praktisch alle sparen. 

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