So etwas wie Stuttgart 21?

Bei den Protesten von Istanbul geht es längst um mehr als um Bäume. 

taz, 4. Juni 2013
Was geht da vor sich in Istanbul? Ein Aufstand, nur wegen ein paar Bäumen? Wegen eines Parks, der einer Shopping Mall weichen soll? Ist das also so etwas wie Stuttgart 21? 
Nicht ganz. Die Proteste entzündeten sich tatsächlich an einem kleine, überschaubaren Protest, auf den die Polizei mit unverhältnismäßiger Brutalität reagiert haben. Was aber die Massenproteste auslöste, waren erstens diese Brutalität, und zweitens der Frust, der sich aufgestaut hat: der Frust über eine autoritär agierende Regierung, und der Frust über das, was diese Regierung unter „Modernisierung“ versteht. 
Natürlich ist die türkische Regierung keine Diktatur. Im Gegenteil: Erdogan hat mit seiner AKP-Partei drei absolute Mehrheiten in Serie erzielt. Aber gerade diese unangefochtene Führungsrolle führte zu einer Machttrunkenheit, zu einer Arroganz der Macht. Die Regierung agiert zunehmend autoritär und mit aggressiver Rhetorik. Die konservativ-islamischen Machthaber mischen sich in das Leben der Leute ein, gerade eben wurden weitreichende Alkoholverbote erlassen. Ganze Stadtviertel werden platt gemacht – Modernisierung mit der Dampframme. Dabei wird das Lebendige der urbanen Zentren zerstört, und die Viertel, in denen das blüht, was die Frömmler den „dekadenten westlichen Lebensstil“ nennen, gleich mit – womöglich ein erwünschter Nebeneffekt. 
Mit dieser Politik hat sich die Regierung weite Teile der städtischen Bevölkerung entfremdet – nicht nur die Freaks und die Kulturmilieus in der Stadt, die Bobos und Yuppies, sondern auch moderate Gläubige, moderate Konservative und Liberale, die natürlich auch längst die pluralen Lebensstile in den modernen Städten genießen. Somit geht es bei den Protesten um den Machtrausch einer Regierung, die ihre Werte und den von ihr präferierten Lebenstil anderen Leuten aufzwingen will. 
Gewiss, auch bei Stuttgart 21 ist es nicht nur um Bäume und einen Bahnhof gegangen, sondern um Demokratie, um Partizipation und einen Regierungsstil, der einfach über die Bürger drüberfährt. Doch die Demonstranten in Istanbul wenden sich gegen den autoritären Stil von Erdogans machttrunkener und korrupt-wirtschaftsfreundlicher Kamarilla, die der Zivilgesellschaft die Luft abschnürt. 


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