Europas Askaban, ein Tagestrip entfernt

Begegnungen in Röszke: Menschen voller Angst, ein Zaun, ein Loch und eine Handvoll „Hells Angels“ besonderer Art.

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„Extrem Pizza“, sagt Christine ins Telefon. „Bei Extrem Pizza sitzen wir rum.“ Der Name ist wie ein Witz, hier am hintersten Ende von Ungarn, in Szeged. Hier, wo die Autobahnaufschriften schon ein bisschen nach Ende der Welt klingen, ein bisschen wie nach einem Harry-Potter-Roman. Arad, Asotthalom – da kommt einem gleich instinktiv das Wort Askaban in den Kopf. Und, ja, so ein bisschen ist diese Gegend an der serbisch-ungarischen Grenze das Askaban der Europäischen Union. Ein Unort, Nadelöhr einer Massenflucht und gleichzeitig einer ihrer unwirtlichsten Orte. Aber davon ist an diesem Sonntag gerade recht wenig zu spüren. Es ist wie eine doppelte Realität.

Mit Christine Schörkhuber, Josef Hofer, Alexander Baulesch, Bartak Kubiak, Roger Winandy und anderen fahren wir im Konvoi zurück zum Lager Röske. Die fünf sind nur ein paar der Helden der vergangenen Woche – seit Montag harren die meisten von ihnen hier aus. Innerhalb weniger Tage haben eine Handvoll Einzelpersonen, gemeinsam mit Leuten Rund um den „Geheimen Kunstsalon“ und einer Grazer Partie eine funktionstüchtige Organisation geschaffen, da lagen die Profi-Organisationen alle noch im Tiefschlaf. Geschlafen haben dafür die Helfer kaum in den vergangenen Tagen. Sie haben dafür gesorgt, dass das, was eine Art Vorhölle war, vier, fünf Tage später zumindest nicht mehr ganz so unwirtlich ist.

Schon an der Einfahrt erwarten uns Helfer in gelben Jacken, die uns, die wir das erste Mal hier sind, mit den Worten empfangen: „Welcome to hell, welcome to Woodstock.“

Doppelte Realität: Mittlerweile ist dieses erste Lager, das eigentlich kein Lager mehr ist, sondern eine Art Camping auf freiem Feld an der EU-Außengrenze, fast so gut organisiert wie ein Festival. Hunderte freiwillige Helfer haben innerhalb weniger Tage eine Struktur aus dem Boden gestampft, es gibt Essenszelte, Kleidungszelte, Spendenabgabe, hallenartige Großzelte für die Güterabgabe, Medical Tents ohnehin und neuerdings sogar ein Zelt für die Kinderbetreuung, wo Helfer mit kleinen Kindern zeichnen, spielen, ihnen einfach ein paar kindergerechte Minuten oder Stunden verschaffen, bei der kinderungerechtesten Sache der Welt: Dem Fluchtmarsch von Syrien quer durch Europa.

IMG_1864Selbst die Großorganisationen wie UNHCR lassen sich mittlerweile zumindest symbolisch sehen – mit einer Handvoll Leuten und ein paar Zelten mit ihrem Logo drauf.

Aber vor wenigen Tagen sah es hier noch ganz anders aus: Eine Art Auffangpunkt für alle, die über die Grenze kamen. Ein Feld, tausende Menschen, darum ein Polizeikordon, und ein Zaun. Sonst nichts. Der ungarische Staat hat praktisch keinerlei Anstalten gemacht, die Menschen auch nur irgendwie zu versorgen. Wäre die Zivilgesellschaft nicht eingesprungen, anfangs vor allem Freiwillige aus Ungarn und Österreich, später Helfer aus vielen Ländern, die Leute hätten hier nicht einmal Wasser oder Essen gehabt. Von trockener Kleidung und Zelten ganz zu schweigen. Und das teilweise bei Starkregen und bei Temperaturen unwesentlich über Null.

„Das Schlimmste für die Leute ist, dass man sie ohne Information lässt. Sie wissen nicht, wie es mit ihnen weiter geht. Sie wissen nicht, was mit ihnen in Ungarn passiert. Das einzige, was sie wissen, ist: Sie sind hier noch nicht in Sicherheit.“ – Josef Hofer, freiwilliger Helfer

„Das hier war Vorhölle“, sagt Christine Schörkhuber. Ich gehe mit den Helfern, die allesamt selbst schon weit jenseits ihres Leistungslimits sind, die Schienen entlang zur Grenze. Die ganze Zeit kommen uns Kolonnen von Fliehenden entgegen, die gerade die Grenze überquert haben. Familien mit kleinen Kindern, Männer, die Babies tragen, Jugendliche, die ihre Omas in Rollstühlen durch die ungarische Pampa schieben. Es hat etwas Pittoreskes: In der Septembersonne wirkt das alles ein wenig wie ein eigentümlicher Sonntagsausflug. Seltsam entspannt.

Aber es ist nur ein Bild, und es täuscht auch jetzt. „Zu Beginn habe ich mir gedacht, das Wichtigste ist, die Menschen mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen“, erzählt mir Josef, während wir über den Bahndamm gehen. „Aber dann war mir schnell klar: Das Schlimmste für die Leute ist, dass man sie ohne Information lässt. Sie wissen nicht, wie es mit ihnen weiter geht. Sie wissen nicht, was mit ihnen in Ungarn passiert. Das einzige, was sie wissen, ist: Sie sind hier noch nicht in Sicherheit.“

IMG_1853Plötzlich ist er vor uns: Der Zaun, der jetzt schon berüchtigt und legendär zugleich ist, der Stacheldrahtzaun den Ungarn an der Grenze zu Serbien errichtet hat. Dieses Symbol der Schande Europas, errichtet von der Regierung eines Landes, das vor 25 Jahren einen anderen Zaun aufgeschnitten hat.

An der Grenze, zwischen den Schienen, stehen zwei Helfer, die die Fliehenden im Empfang nehmen, ihnen Wasser geben, und sie mit Informationen versorgen. Immer wieder reden ganze Pulks von Fliehenden auf Wojo und Zaynep ein. „Do they arrest us? Do they take our Fingerprints? Are we forced to Hungarian Camps?“ Auf Englisch und Arabisch versuchen die beiden den Leuten erstmals die unmittelbare Angst zu nehmen. „Ihr könnt jetzt hier rüber gehen. Das ist ein offenes Lager, ohne Zaun, ihr könnt hineingehen und es auch wieder verlassen. Aber was danach ist, das können wir Euch nicht sagen, es gibt keine Garantie, dass ihr weiter kommt, ohne dass Euch die Ungarn in Aufnahmelager bringen.“

Es hat sich herumgesprochen, dass die ungarischen Behörden die Fliehenden wie Vieh behandeln. Alle kennen die Bilder vom Stammlager bei Röszke, in das die Leute zur Registrierung gebracht werden, in dem völlig überforderte Polizisten viel zu wenige Essenstüten und Flaschen in die Menge werfen, so dass sie sich darum raufen wie Tiere im Zoo bei der Fütterung. „Was denkt ihr eigentlich, dass wir keine Menschen sind? Dass wir Tiere sind?“, diese Sätze höre man hier immer wieder, sagt Josef.

Man sieht den Menschen die Angst an. Die Angst vor Ungarn, die Angst vor dieser letzten Etappe ihrer Flucht. Die Angst in den Augen der Kinder. Die Angst vor allen Uniformierten. Sogar die freiwilligen Helfer, von denen sich viele gelbe Signaljacken angezogen haben, machen ihnen Angst – mit diesen Jacken sehen sie irgendwie offiziell aus. Irgendwie nach Staat. Irgendwie nach undefinierbarer Gefahr.

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Ich gehe ein paar hundert Meter den Bahndamm entlang auf serbisches Territorium. Hier campieren die, die noch nicht entschieden haben, ob sie sich auf ungarisches Territorium wagen sollen. Aber welche Alternative haben sie. „Wie sieht es da drüben aus? Wie kommen wir von hier weiter?“, fragen sie mich. Die Nachricht, dass Deutschland die Grenzen zu Österreich schließt, verbreitet sich in Windeseile. Jederzeit kann auch das kleine Loch im Zaun zugehen, hier, ein paar hundert Meter nordöstlich. Was soll man Ihnen sagen? „Rush, as good as you can.“ Oder doch besser eine Route über Kroatien versuchen?

Nein, heute ist es gerade nicht so, dass kranke Menschen, Kinder, die schreien vor Schmerzen, weil ihre Füße mit Wunden und Blasen übersät sind, auch noch im Schlamm und Morast bei Kälte in freiem Feld sitzen wie noch vor ein paar Tagen. Aber es ist nichts gut hier. Auch nicht für die Helfer, die nicht nur an ihren physischen, sondern auch an ihren emotionalen Grenzen sind. Anders als die Helfer am Westbahnhof können sie nicht in leuchtende Kinderaugen sehen, ihnen sagen: „You are safe“, ihnen Klamotten und Teddys überreichen im sicheren Wissen, dass die Gefahr jetzt hinter diesen Menschen liegt. Sie können die unmittelbare Not der Leute lindern, doch sie können ihnen im besten Fall ein paar „Happy Hours“ verschaffen. Aber zwischen der Happy Hour und dem Happy End – oder dem Unhappy End -, steht der ungarische Staat, der irgendetwas tut, irgendetwas tun wird, aber von dem man in keinem Augenblick genau weiß, was er tun wird. Er wird auch die unterschiedlichsten Dinge tun. Die Leute in Bussen zur österreichischen Grenze bringen. Wieder andere in Camps, in denen die Menschen gedemütigt werden. Wieder andere einfach in Gemeindeknäste werfen, wo Kinder dann auf Holzpritschen ohne Decken schlafen.

IMG_1859Kolonnen von Autobussen stehen im Lager, in langen Reihen stellen sich die Menschen an. Keiner weiß, was ihn erwartet. Werden sie die Busse zur Grenze bringen? Oder doch in irgendein Flüchtlingslager, umzäunt mit Stacheldraht, zur erkennungsdienstlichen Behandlung und Erstregistrierung? Und was nachher? Wenn die Lager voll sind, schaffen die Ungarn meist ohnehin Platz für die Neuankömmlinge, indem sie diejenigen wieder auf die Straße setzen, die schon ein paar Tage da sind. Klar, man kann sagen: Da muss man eben durch. Die Chance der Fliehenden besteht ohnehin darin, dass die ungarischen Behörden überhaupt nicht mehr in der Lage sind, die Lage zu beherrschen. Aber für die Menschen ist es ein Schritt in eine Nebelwand hinein.

Spätabends dann an der Tankstelle in Röszke. Die Schleppertanke, wie sie alle nennen. Hier sorgen hunderte Autos für einen Stau, Menschenschmuggler, die die Leute für ein paar hundert oder eher tausend Euro fahren – meistens einfach bis nach Budapest. Der Parkplatz ist ein einziger Blechsalat, und es war keine so gute Idee, da rein zu fahren. Da wieder raus zu kommen aus dem Autogewirr ist gar nicht so einfach. Die Polizei scheint die Schmuggler zu tolerieren. Wer weiß, vielleicht ist viel Schmattes im Spiel, denn gerade im Raum Röszke wurden humanitäre Fluchthelfer schon mehrmals gestoppt und über Nacht im Polizeigewahrsam gehalten. „Guaranty, no Razzia bis Budapest“, verspricht ein Schmuggler seinen Kunden mit etwas pathetischer Geste.

Danach schauen wir noch bei Asotthalom vorbei, einem zweiten, kleineren Ankunftspunkt. Ein paar Zelte, ein paar LKWs mit Gütern, ein paar Dixi-Klos. Menschen schlafen, zugedeckt mit Isomatten, auf nacktem Boden. Es ist empfindlich kalt und das Woodstockfeeling ist mit der Abendsonne untergegangen. Ein Flutlichtmast taucht die Szenerie in kaltes Licht. Vor einem Zelt sitzt ein syrisches Paar mit ihrem kleinen Kind. Anja, die mit mir diese Reise unternahm, hat am Vortag noch schnell Kinderzeug, Essen, Kleidung, Hygieneartikel gekauft. Wir geben die Säcke einfach ab, drehen eine Runde durch das Lager. Als wir wieder zurück kommen, hat das kleine Kind, es ist vielleicht vier, fünf Jahre alt, den grünen Anorak an, den Anja gestern gekauft hat. Es ist unser kleines Erfolgsgefühl für diesen Tag.

IMG_1873Viel mehr können wir, hier jedenfalls, nicht tun.

Man sieht den Menschen die Angst an. Die Angst vor Ungarn, die Angst vor dieser letzten Etappe ihrer Flucht. Die Angst in den Augen der Kinder. Die Angst vor allen Uniformierten.

Wir packen die Helfer ein und fahren mit ihnen nach Wien, es ist längst Zeit. Es sind schwankende Helden, die sich kaum mehr auf den Beinen halten können nach fünf Tagen. Hells Angels, die hier raus müssen, bevor sie selber Hilfe brauchen.

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MIT VIDEO. Das Loch, der Zaun, die Helfer und die Fliehenden: 

3 Gedanken zu „Europas Askaban, ein Tagestrip entfernt“

  1. Ich habe RÖSZKE verlassen, da seit gestern Militär vorort. Nachdem ich vorige Woche erstmals in R. war und die unerträglichen Zustände erlebt habe, kam es mir bei meiner sonntätigen Ankunft wie ein „Luxuscamp“ vor, die erste NGO war „Ärzte ohne Grenzen“ es war gut zu sehen, dass es mittlerweile andere NGO´s auch nach RÖSZKE geschafft haben. Während meines Kurzaufenthaltes in Wien habe ich eine gezielte private Spendenaktion gestartet, die „autofreie Siedlung“und FreundInnen haben es mir ermöglicht Desinfektionsmittel,Handschuhe, Mundschutz (danke an die Vogelgrippe) Bananen, Müsliriegel,Malstifte,Papier und Stofftiere nach R. zu bringen. Simone und Christian hatten es während meiner Abwesenheit geschafft das Kinderzelt aufzubauen und wie auf deinen Foto erkennbar, die Kinder haben sich gefreut und waren sofort „aktiv“ – nach all den Strapazen die sie erlebt haben und noch weiter erleben werden. Jetzt muss ich aufhören zum schreiben, kann meine Tränen nicht stoppen, ..

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