Man hat ja nicht immer Glück im Leben. Als ich 1994 eine Sammlung von Reportagen und Essays als Buch herausbringen wollte, im Verlag der Berliner „Weltbühne“, war eigentlich schon alles abgemacht. Der Erscheinungstermin stand, die Texte waren gesetzt und in der Korrektur. Dann ging der Verlag pleite. Ich hakte die Sache ab und vergaß sie auch. Das Manuskript war irgendwo unter Papierbergen, ich dachte bald nicht mehr daran. Unlängst habe ich es wieder gefunden. Da es zum Teil ganz schöne Stücke sind (auch wenn ich noch jung und schreiberisch ungelenker war, als ich das heute bin), und da die Ereignisse, die sie beschreiben, auch schon Zeitgeschichte sind, werde ich sie hier in unregelmäßiger Reihenfolge veröffentlichen. Vielleicht interessiert es ja jemanden. Ich starke mal mit meinen Notizen aus der tschechischen Revolution des Jahres 1989.
Von der Weisheit des Volkes. Prag, 1989
Jeder hat es schon gehört in den vergangenen Tagen, das Gerücht: Alexander Dubcek werde sich an die Seite der Oppositionsbewegung stellen. Das werde dieser eine Kick sein, der der Bewegung zum Sieg verhelfe werde. Ganz sicher, er werde sprechen. Und dann kam er doch tagelang nicht. Auch an diesem Abend wieder zog es Kreise, das Gerücht, während sich die Menschenmenge am Prager Wenzelsplatz versammelte. Ich blickte vom Balkon, von dem jeden Abend Vaclav Havel spricht, über den Platz. Irgendwann musste ich aufs Klo, und auf dem Weg dahin war ich etwas zu schnell, man will ja nichts versäumen, wenn Geschichte gemacht wird, man stelle sich vor, es geschehe etwas historisch Denkwürdiges und man würde es am Pissoir versäumen, und wie sich so auf dem Weg zum Klo bin, da übersehe ich den alten Mann beinahe, der da die Treppe hochgeht, knapp, dass ich ihn nicht über den Haufen laufe. Und dann erkenne ich ihn. Dubcek. Erstmals seit der Niederschlagung des Prager Frühlings wieder auf dem Weg, zu einer Menschenmenge zu sprechen.
Vor mehreren hunderttausend Tschechen sprach der große alte Slowake am Prager Wenzelsplatz und gab damit der „samtenen Revolution“ jenen letzten Impuls, den diese zum Erfolg brauchte.
Danach kamen er und der andere, der junge Held, Vaclav Havel, auf Schleichwegen in das zur „Revolutionszentrale“ umfunktionierte Theater „Laterna Magika“, um sich dort der versammelten Presse zu stellen. Nach wochenlange Demonstrations- und Organisationsmarathon hatten die Protagonisten tiefe dunkle Ringe unter den Augen. Havel sah noch zerknautschter aus, als üblich, in seinem speckigen grünen Parka. Später dann, auf der Bühne, Havel im weißen Hemd, Dubcek im feschen Anzug, der den Chic der sechziger Jahre hatte, auch der frühere Außenminister des Prager Frühlings war dabei, Jiri Hajek. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, wollten an die Vision eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz anknüpfen, die vor 20 Jahren unter das Kettengeschepper der Panzer geraten war, da kam ein Vierter auf die Bühne, zaghaft, als wolle er nicht stören, ohne Eile, aber doch sichtbar aufgewühlt. Er flüstert Havel ins Ohr, der unterbricht Hajek, sagt ins Mikrofon, man müsse eine wichtige Mitteilung machen: In der abendlichen Nachrichtensendung sei eben bekanntgegeben worden, das Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei wäre geschlossen zurück getreten. Revolution live. Die Presseleute und die Revolutionäre werden gleichzeitig vom Sieg der Revolutuion unterrichtet. Alles springt auf, Akteure und Beobachter. Berichterstatter, die Tränen in den Augen haben. Akteure und Chronisten, in dem Moment nicht leicht unterscheidbar.
Sofort werden die selbst überraschten Sieger mit Fragen bombardiert. Die Ereignisse abwarten, schlägt Dubcek vor, „denn morgen sind wir klüger“, keine Illusion habe er, sagt Havel, in die Menschen, die die jetzt abgetretenen ersetzen werden: „Dennoch ist das ein wichtiges Ereignis“. Und in all dem Jubel kommt die Rede schnell, überraschend schnell, auf den Sozialismus.
„Ich“, sagt Dubcek, „habe nie verborgen, und verberge es auch jetzt nicht, dass ich für einen demokratischen Sozialismus in einer pluralistischen Gesellschaft stehe“.
„Der Sozialismus hat seine Glaubwürdigkeit verloren“, fällt ihm Jiri Hajek ins Wort. „Das ist eine der Folgen der totalen Verwüstung unserer Gesellschaft. Wir werden hart arbeiten müssen, um das rückgängig zu machen.“
Untauglich seien doch all diese Begriffe, sagt Havel: „Ich habe mich immer als Sozialist gefühlt, doch vor 15 Jahren habe ich aufgehört, dieses Wort zu gebrauchen. Es taugt heute nicht mehr. Es ist zu einem Synonym für bürokratische Herrschaft geworden.“
Für kommenden Montag ist ein Generalstreik angesetzt. Bis zuletzt wagte kaum jemand eine Prognose, welcher Erfolg dem Ausstand beschieden sein würde. Für viele war Erfolg und Misserfolg des Streiks mit der Person Dubceks verbunden. „Dubcek ist ein Mythos in unserem Land“, erklärte die Studentenführerin Monika Pajerova nur wenige Stunden vor dem Auftritt des Führers von 1968. „Wenn er sich tatsächlich einschaltet, dann steht hier alles.“ Doch das Machtmonopol der KP könnte nicht einmal ein Parteichef Dubcek – ohnehin ein grotesk spekulativer Gedanke – retten. Pajerova: „Die führende Rolle der Kommunistischen Partei muss weg. Das würde auch für eine KP unter Alexander Dubcek gelten.“
„Würden Sie denn abermals als Chef der tschechoslowakitschen Kommunisten zur Verfügung stehen?“, fragte ein westlicher Journalist Alexander Dubcek, nachdem wieder etwas Ruhe eingehrt ist in der Laterna Magika.
Dubcek: „Das zu entscheiden ist Sache des Zentralkomitees.“
Auch eine Antwort.
In der überfüllten Laterna Magika, wo langsam die Atemluft schlecht wird, bestimmen die mittel-jungen Dissidenten das Bild, die Revolutionäre in ihren Parkas und Rollkragen-Pullovern. Einer, der der Stimmung von Wildheit und Aufgeregtheit zum Trotz immer in Anzug und Krawatte kommt, ist der Ökonom am Prager Prognostischen Institut, Vaclav Klaus. Er will vom Philosophieren der Alten über Sozialismus – mit welchem Antlitz auch immer – nichts hören. Seine Heiligen sind nicht Marx, nicht Keynes, sondern die radikalen Marktwirtschaftler der „Chikago-Boys“ des Milton Friedman. „Ich glaube“, sagt er verdrossen, „dass die alten, 1968 aus der Partei ausgeschlossenen Kommunisten, die weiter vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz träumen, die Mehrheit auf ihrer Seite haben“. Er habe, klagt er, im Oppositionsbündnis ‚Bürgerforum‘ beinahe „die gleichen Probleme wie in der KP“.
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Der junge Arbeiter Milan Machat will gar nichts mehr vom Sozialismus wissen. „Ich gehöre zu einer Generation, die diese Slogans nur aus den Erzählungen der Eltern kennt“, sagt der junge Automobilarbeiter. Wir sitzen in einem grauen Hinterzimmer in einem verkommenen Verwaltungsgebäude des traditionsreichen Automobilwerks CKD. Hier, im 8. Bezirk der Hauptstadt, schlägt das Herz der angeblich herrschenden Klasse im Arbeiterstaat. Traditionell eine Hochburg der KP, sind mit den drei Buchstaben die bedeutendsten Epochen der jüngsten tschechoslowakischen Vergangenheit verwoben. In der Montagehalle tagte 1968 symbolecht der Reformparteitag unter Alexander Dubcek.
Im November 1989 sind die CKD-Arbeiter wieder an vorderster Front – diesmal jedoch im Kampf gegen das Monopol der KP. Milan Machat, selbst Mitglied der Partei, ist einer der 21 Organisatoren des Streikkomitees. Noch spricht er von einem „pluralistischen Sozialismus“, weiß aber selbst nicht genau, was das sein soll. Genau weiß er nur, wogegen er ist: „Gegen die Führungsrolle der Partei.“
Eine Woche ist es her, da hat eine neuentstandene Sammlungsbewegung namens „Bürgerformu“ als Reaktion auf die brutale Niederschlagung einer Studentendemonstration die Arbeiter zum Generalstreit aufgerufen. Als dann am 27. November für zwei Stunden alles im Land still steht, da ist das beinahe nur mehr eine Siegesfeier – das Schicksal der KP war schon vorher besiegelt.
Das gibt den Tschechen auch die Möglichkeit, diese Kraftprobe, die keine mehr ist, auf zwei Stunden zu beschränken. Alle hier schreckt das polnische Beispiel, wo die ohnehin marode Industrie durch die Massenstreik-Bewegungen zusätzlich geschwächt wurde. „Ja, wir haben Angst“, bestätigt Jiri Jergl, ein Mitstreiter Milan Machats: „Wir wollen nicht, dass der Streik zu Verlusten führt“.
Das „Bürgerforum“, ohnehin dem bekannten Vorwurf aus dem Repertoire aller Despoten ausgesetzt, es würde das Land in den Ruin treiben, versucht sich selbst so verantwortungsbewußt wie nur möglich zu präsentieren: „Der für den 27. November 1989 erklärte Generalstreik ist ein politischer Proteststreik und verfolgt keine anderen politische Ziele“, heißt es in dem Aufruf. „Der Beginn des Generalstreiks ist einheitlich: am 27. November um 12 Uhr. (…) Der Streik sollte höchstens bis 14 Uhr dauern“. In manchen Branchen soll der Streik nur „erklärt“ und in „geeigneter Form zum Ausdruck gebracht“, die Arbeit aber fortgesetzt werden.
„Jetzt ist definitiv Schluss“, sagt lachend ein Arbeiter, als um Punkt 12 Uhr die Belegschaften vieler Industriebetriebe vor das Tor des CKD-Werks strömen. „Hoch leben die Studenten“ – Hoch lebe das Bürgerforum“. „Kommunismus kaputt“, versucht ein Taxichauffeur den ausländischen Gästen die Bedeutung des Geschehens auf einfache Art zu deuten. Geistig hatte die Partei ohnehin schon vor diesem letzten Schlag abgedankt. Das Prager Parteiaktiv, das zuvor im Kulturpalast eine zweitägige Konferenz abgehalten hatte, tat das mit einer abschließenden Elf-Punkte-Erklärung, deren ersten Absatz lautet: „Das Volk der CSSR ist weiser als seine Führung“.
Der verbale Schlagabtausch dieser Parteikonferenz wurde Stundenlang im Rundfunk übertragen. Auf einer Fahrt durch Prag hört der Taxichauffeur gespannt die Berichterstattung. Plötzlich lacht er laut auf. „Haben Sie das verstanden?“ – „Nein“ – „Der Kommunist hat siene Parteichefs gerade ‚zittrige, kranke Greise‘ genannt“. Nochmals lacht er brüllen auf, lässt für einen Augenblick das Lenkrad los, schlägt sich klatschend mit Handflächen auf die Oberschenkel.
„Kommunist kaputt“, ruft er lachend.
Revolution, eine große Hetz.
Trotz der Spannung, die sich erst durch die Nachricht vom Rücktritt des ZK-Präsidiums auflöste, war die Woche der Revolution in Prag ohnehin ein einziges großes Fest. Tag für Tag reihen sich mehr und mehr Fahrzeuge in den allabendlichen Autokorso ein, der sich die Washingtonova, am oberen Ende des Wenzelsplatzes, entlang der Front des Nationalmuseums vorbeischiebt. Hupend fuhren sie durch das enge Spalier aus tausenden Pragern, die fröhlich die blau-weiß-roten Fähnchen der Nationalfarben schwengen. Eine Miniaturvariante der tschechischen Trikolore hatte ohnehin jeder in diesen Tagen ans Revor geheftet. Ausgelöst wurde all dies – abgesehen von der brutal aufgelösten Demonstration der Studenten, die gleichsam das Signal zum Aufstand gab – durch den Fall der Berliner Mauer. „Das war ein unglaubliches Symbol“, erzählt die frühere Sprecherin der Charta 77, Anna Sabatowa. Und der 23jährige Physikstudent Jiri war schon in den ersten Kampftagen gewiss, allen Gerüchten und Ängsten vor einer „chinesischen Lösung“ zum Trotz: „Was die schafften, wird uns doch auch gelingen“. Beinah einen Anflug von gekränkter Ehre spürte man im Gespräch mit vielen Tschechen: Die preußischen Sozialisten, diese Musterknaben des Ostens, waren den immer so regimeskeptischen und rebellischen Tschechen zuvorgekommen und hatten ihre Herren abgeschüttelt und die Mauer umgeworfen, während Milos Jakes, der starke Mann in Prag noch sicher in seinem Stuhl saß. „“Die Republik gehört uns“, rief ein hagerer, gebrechlicher Schauspieler in der Laterna Magika, dem Podium des Bürgerforums, das „binnen vier Tagen zur Stimme des Volkes wurde und dabei selbst noch ein Baby ist“ (Vaclav Havel).
Der schnelle Aufstieg der Bürgerbewegung, für deren Akteure selbst das größte Problem, bereitete auch manchem Gegner Wahrnehmungsschwierigkeiten. „Das ist“, machte sich Milos Jakes selbst Mut, „doch nur eine Revolte der Studenten und Intellektuellen. Die Arbeiter stehen fest hinter der Partei.“
Wie man sich täuschen kann.