Unser „alltäglicher Kommunismus“, ohne den der Kapitalismus gar nicht existieren könnte

Warum bekommen auch die Armen sauberes Trinkwasser? Warum darf ich keine Babies verkaufen? Nicht der Markt trägt die Wirtschaft, sondern der Staat, der Gemeinwohlentscheidungen trifft.

Stellen wir uns für einen Augenblick eine junge Frau vor, die bei einem wirtschaftliberalen Think-Tank in der Medienabteilung arbeitet, und führen wir uns ihren Tagesablauf vor Augen. Morgens klingelt der Wecker, sie schaltet das Licht an, trottet ins Bad, nimmt eine Dusche. Danach macht sie das Essen für die Kinder fertig, checkt vielleicht noch etwas für die Pflegerin der hilfsbedürftigen Mutter, kurz darauf gehen alle aus dem Haus, die Kinder werden zur Schule gebracht, danach hüpft die Angestellte in die S-Bahn ins Stadtzentrum, geht ins Büro, schaltet den Computer ein und erklärt auf Social Media, dass der Staat immer ineffizient ist.

Dabei hat sie in den ersten zwei Stunden des Tages praktisch nur Dienste konsumiert, die auf irgendeine Weise öffentlich bereit gestellt werden: Sie hat das öffentliche Stromnetz benützt, die Wasserversorgung und die Abwasserwirtschaft, die staatlich organisierten Gesundheits- und Pflegedienste, das Schulsystem und den öffentlichen Personennahverkehr. Womöglich ist sie nur mit staatlichen Dienstleistungen (oder mit komplexen Hybriden aus Privat- und Staatswirtschaft) in Berührung gekommen, außer das morgendliche Müsli hat sie nichts konsumiert, was von der gefeierten Privatwirtschaft bereit gestellt wird. Dennoch glaubt sie vielleicht sogar wirklich, dass der Staat ein Moloch ist, der nur ineffizient ist und den Bürgern die Kohle aus der Tasche zieht. Weil sie höchstwahrscheinlich gar nicht wahr nahm, was sie so automatisch konsumiert.

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Die Energieversorgung nehmen wir ja erst dann wahr, wenn der Strom ausfällt.

„Die meisten Bürger in Europa (nehmen) zwischen sieben und neun Uhr morgens Güter und Dienstleistungen in Anspruch, die von mehr als sechs separaten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen abhängen, die zusammen die alltägliche Infrastruktur des zivilisierten Lebens ausmachen“, schreiben die Autoren des Buches „Die Ökonomie des Alltagslebens“, das eben im „Suhrkamp“-Verlag erschienen ist. „Stromversorgung, fließend Wasser, Abwasserkanalisation, vom Einzelhandel bereitgestellte Lebensmittel, ins Haus geliefertes Gas, Telekommunikation (Festnetz und mobil), Pflege, Bankdienstleistungen, die Wartung langlebiger Konsumgüter, Bildung und öffentlicher Nahverkehr.“

Dass „die Wirtschaft“ der privatwirtschaftliche organisierte Teil der Ökonomie sei, die, in der Innovation stattfindet, in der der Stachel der Konkurrenz zur Wohlstandsmehrung führt, würden die meisten Menschen so spontan annehmen – ist aber, wenn man es recht betrachtet, Unfug. Denn es sind zu einem ganz erheblichen Teil die öffentlichen Infrastrukturen, die die Wirtschaft tragen, oder kurz und knapp gesagt: die erst ermöglichen, dass im privatwirtschaftlichen Sektor irgendetwas Sinnvolles zuwege gebracht werden kann.

„Fundamentalökonomie“ nennen das die Verfasser, welche „die soziale Infrastruktur für ein sicheres und zivilisiertes Leben“ bereit stellt.

Nun ist es so, dass diese Fundamentalökonomien nach völlig anderen Gesichtspunkten funktionieren als die Privatwirtschaft. Zunächst einmal müssen sie gar nicht unbedingt gewinnbringend arbeiten – im Notfall kann man sie durch Steuern finanzieren. Und auch wenn es angebracht ist, sie aufkommensneutral zu führen, also die Kosten durch Abgaben und Gebühren hereinzubringen, wäre es keineswegs ein Indikator für ihr gutes Funktionieren, wenn sie gewinnbringend sind. Infrastrukturnetzwerke leisten ja nur dann ihren Dienst, wenn sie für alle Menschen zu bezahlbaren Preis und bei allgemeiner Zugänglichkeit zur Verfügung stehen. Könnten sich nur die Reichen die Abwassergebühren leisten, würden die Armen das Abwasser in die Straßen kippen, Seuchen würden sich ausbreiten und es wäre eben gerade nicht der Zweck erfüllt, den ein funktionierendes Gemeinwesen mit Recht erwartet. Das heißt: Gemeinwohl und Funktionstüchtigkeit der Systeme sind miteinander verbunden. Oder, gewissermaßen: Moral und Effizienz. Wolfgang Streeck nennt das die Sektoren, „die umso mehr zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, je weniger sie nach kapitalistischen Prinzipien organisiert sind und funktionieren“, oder, etwas ironisch, den „alltäglichen Kommunismus“, der den alltäglichen Kapitalismus trägt.

Die Autoren der Studie erinnern daran, dass diese Fundamentalökonomie „ursprünglich ein moralisches Unterfangen“ war. Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung hatten den Zweck darin, „die Gesundheit der Menschen zu gewährleisten“. Natürlich haben öffentliche Infrastrukturen, vom Bildungs- bis zum Gesundheits- und Rentensystem auch ihre ökonomisch nützliche Seite. Gerade in einer Marktwirtschaft entwickeln sie das „Humankapital“, halten es gesund, sie stabilisieren auch die Konsumnachfrage und haben damit „ökonomisch effiziente“ Auswirkungen. Aber das ist sehr selten der primäre Zweck ihrer Existenz und nie ihr alleiniger.

So gesehen ist erst ein Staat, der wegen irgendwelcher Dogmen wie der „schwarzen Null“ wichtige Infrastrukturinvestitionen unterlässt, ein „ineffizienter Staat“, nämlich einer, der wichtige Teile seiner Aufgaben nicht erfüllt.

Es ist wie mit den Vexierbildern, bei denen man, je nachdem wie man blickt, etwas völlig anderes sieht. Blickt man durch die Brille des neoliberalen Einheitsdenkens, dann sieht man nur privat organisierte Firmen, die tolle Innovationen schaffen, vom Handy bis zum Computer, vom Roboter, bis zum E-Auto und dem Windrad. Und man sieht die Helden des ökonomischen Alltags, die super smarten Forscher, Tüftler und Ingenieure, die dauernd tolles Zeug erfinden, welches dann die Märkte erobert (übrigens: praktisch immer mindestens staatlich anschubfinanziert). Blickt man aber aus einer anderen Perspektive, dann sieht man die reale menschliche Wirtschaft: Menschen, die putzen, Leitungen legen, die Infrastruktur aufrecht erhalten, die Kinder unterrichten, Kunden irgendetwas verkaufen, das Breitband-Internet in den fünften Stock durch die Kabelstränge ziehen, Menschen die alte Leute pflegen oder Kranke operieren. Letztendlich eine viel breitere, massivere Workforce, die aber nicht täglich etwas Neues erfindet, weil sie ja einfach nur den Betrieb des Vorhandenen aufrecht erhält und gelegentlich da und dort etwas modernisiert.

Es sind lauter falsche Vorstellungen im Umlauf. Dass der Markt für Effizienz und Innovation sorgt. Und: dass er das aber nur tun kann, wenn er weitgehend unreguliert ist. Denn der Markt sei auch Freiheit. Die Konsumenten müssen frei entscheiden, die Unternehmen müssen frei operieren können. Je weniger Regeln umso besser. Und neuerdings kommt auch noch dazu im wirtschaftsliberalen Dogmenfundus: all das sollte auch weitgehend ohne „Moralisieren“ abgehen, denn „Tugendterroristen“ wären drauf und dran eine „Erziehungsdiktatur“ zu errichten, die den Konsumenten irgendwie die Freiheit raubt, weil man ihnen das Fleisch, den Flugverkehr, das Auto schlecht redet, so dass sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie solche Güter oder Dienste am Markt konsumieren.

Mark Schieritz hat in der „Zeit“ in der „Steuer auf Fleisch“-Debatte unlängst auf erstaunliche ältere theoretische Grundlagen hingewiesen, mit denen sich solche vulgärökonomischen Vorstellungen vom Markt schnell zerlegen lassen. Diese ersann „in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Ökonom mit dem Namen Arthur Cecil Pigou. Er lehrte an der Universität Cambridge in Großbritannien und war ein Anhänger der Marktwirtschaft. In seiner Forschung interessierte er sich besonders für Situationen, in denen Märkte nicht richtig funktionieren. Um das Problem deutlich zu machen, wählte Pigou das Beispiel eines Fabrikanten, der eine Fabrik an einem Fluss errichtet. In diesen Fluss wird das bei der Produktion anfallende Schmutzwasser geleitet. Flussabwärts lebt in dem Beispiel ein Fischer, der weniger Fische fängt, wenn das Wasser verschmutzt ist. Ohne staatliche Eingriffe würde der Fabrikant seine Produktion erhöhen und den Fischer ruinieren, obwohl viele Menschen eigentlich gern den Fisch des Fischers essen. Es käme zu einer Überversorgung mit Fabrikwaren und zu einer Unterversorgung mit Fisch. Die Fabrikwaren wären zu billig, weil der Fabrikbesitzer die von ihm verursachten Produktionsausfälle des Fischers in seiner Kalkulation nicht berücksichtigen muss. Der Preis spiegelt nicht alle Kosten wider. Der Markt versagt. Pigous Lösungsvorschlag: eine Steuer auf das Abwasser, das in den Fluss geleitet wird. Das würde dazu führen, dass der Fabrikant die Preise erhöhen muss. Er würde weniger Waren absetzen können und entsprechend weniger herstellen. Die Höhe der Steuer bemisst sich an dem durch die Wasserverschmutzung angerichteten Schaden. So wird der Fabrikbesitzer gezwungen, diesen Schaden in seiner Kostenkalkulation zu berücksichtigen.“

Vergessen wir nicht: Man könnte die Entsorgung giftiger Abwässer auch einfach verbieten. Dass man überhaupt versucht, das mit „Steuern“ zu regeln, die Kostenwahrheit herstellen, aber nicht so stark in die Freiheit eingreifen wie ein Verbot, zeigt im Grunde, wie weit uns der „Wirtschaftsliberalismus“ in den Knochen steckt – in jeder Zeit. Heute ist es natürlich verboten, Gift in Flüsse zu leiten, und keiner würde sich darüber aufregen. Es ist sowieso eine der seltsamen Eigenschaften des (Wirtschafts-)Liberalismus, dass er immer gegen Verbote ist, außer gegen jene, an die er sich gewöhnt hat.

Bei all dem liegen „moralische“ Grundauffassungen der Regulierung zugrunde, oder weniger hochtrabend formuliert, eine Definition von Gemeinwohl, die eben nicht jede Marktentscheidung dafür feiert, bloß eine Marktentscheidung zu sein. Dass der Markt am besten „amoralisch“ funktioniere, also ohne irgendwie geartete ethische Prinzipien, ist ein ahistorischer Unsinn. Von Beginn an war er auch mit moralischen Vorstellungen vom „fairen Preis“ und „gerechten Lohn“ konfrontiert und durch Moral eingehegt. Von der „moralischen Ökonomie“ sprach der große Sozialhistoriker E.P. Thompson. Vergessen wir nicht, es gibt genügend Gesetze und Verbote, die mit starken moralischen Empfindungen verbunden sind. Die Kinderarbeit ist verboten und wir würden sie auch als moralisch verwerflich empfinden. Obwohl unsere Gesellschaft den freien Markt und das Spiel von Angebot und Nachfrage so feiert, kann man übrigens nirgendwo in unseren Städten Säuglinge kaufen. Komisch, oder? Man könnte doch auch argumentieren, gerade wenn man für Neugeborene einen hohen Preis erzielen kann, zeige das doch, welch hohen Wert wir dem menschlichen Leben zuschreiben. Aber trotzdem würden sogar die meisten Deregulierungs-Fanatiker den Vorschlag empört ablehnen, einen Baby-Markt zu etablieren. Senioren will auch niemand die Gesundheitsversorgung entziehen, obwohl die ja nur mehr Kosten verursachen. Und meine Niere darf ich auch nicht an den Bestbietenden verscherbeln.

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