Karl Seitz war Victor Adlers „bestes Pferd im Stall“ und als Bürgermeister des Roten Wien eine Zentralfigur des europäischen Sozialismus. Heute wäre er 150 Jahre alt geworden.
Schon in den frühen 1890er Jahren schrieb Victor Adler, der legendäre Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, an Friedrich Engels: „Ich bin wirklich stolz darauf, dass ich mich selbst beinahe überflüssig gemacht habe.“ Adler hatte stets die sozialistische Bewegung nach Talenten abgesucht und sich brillante Mitarbeiter gesucht, bis er, wie er später an Bebel schrieb, „eine ganze Zahl ganz prächtiger Leute“ beisammen hatte, Otto Bauer etwa, Karl Renner und andere. Über Karl Seitz schrieb er einmal, dieser sei das beste Pferd „in meinem Stall“. Dieser Karl Seitz sollte eine Zentralfigur des europäischen Sozialismus werden, nämlich der legendäre „Baumeister des Roten Wien“ – und ist dennoch beinahe vergessen. Heute würde er seinen 150. Geburtstag feiern.
Geboren wurde er als Sohn eines leidlich wohlhabenden Brennstoffhändlers, der aber früh verstarb. Die Mutter konnte die Kinder kaum durchbringen, weshalb Seitz im Waisenhaus aufwuchs, weil da wenigstens Essen auf dem Tisch garantiert war. Er machte eine Schneiderlehre und weil er intelligent und talentiert war, ergatterte er ein Stipendium für das Lehrerseminar. Schon als Abgänger seines Jahrgangs tat er sich als kämpferischer Schulreformer hervor und hielt als Jahrgangssprecher einer radikale Rede vor den erzreaktionären Schulautoritären, womit er gleich mit einem dicken Minuspunkt ins Berufsleben startete. Danach engagierte er sich in der progressiven Lehrerbewegung, machte als mitreißender Redner auf sich aufmerksam und zog als einer der ersten sozialistischen Abgeordneten in den niederösterreichischen Landtag und den Reichsrat ein. Im Zirkel der wichtigsten Parteiführer war er der geerdete „Mann aus dem Volk“, aber zugleich Bücherwurm, der Goethe auswendig lernte, Kant studierte und immer akkurat gekleidet auftrat, schließlich hatte er ja eine Schneiderlehre hinter sich. Später werden ihn die Wiener ihren „schönen Karl“ nennen. „Durch seine warme, strahlende Liebenswürdigkeit und durch seine eiserne Unbeugsamkeit“, habe er die Herzen der Menschen gewonnen, schrieb das sozialistische „Kleine Blatt“ später zu seinem 80. Geburtstag.
Während Leute wie Bauer, Renner und andere sich als intellektuelle Flügelkämpfer betätigen, war Seitz immer der Verbinder, der sich persönlich nicht eitel hervor tat, aber zugleich der populäre Anführer mit natürlicher Autorität. Gerade das machte ihn zur Zentralfigur, wie sich dann nach 1918 erwies. Nach dem Tod Adlers übernahm er den Parteivorsitz (er wird ihn bis zum Ende der Demokratie behalten und faktisch erst nach 1945 abgeben), er wird Parlamentspräsident der Republik, einige Zeit hat er die Agenden des Staatspräsidenten. Die Todesstrafe wird abgeschafft, aber noch bevor es so weit ist, sollte Seitz ein Todesurteil unterzeichnen. „Ein Todesurteil unterschreibe ich nicht“, sagt er, und wirft den Akt zur Seite.
Und ab 1923 ist er dann der Bürgermeister des „Roten Wien“, dieses bis heute weit ausstrahlenden Leuchtturms eines kommunalen Sozialismus, der demokratischen und sozialistischen Reformpolitik, die einerseits reformistisch war, und zugleich radikal und transformativ. In seine Amtszeit fällt das bis heute viel beachtete Bauprogramm der Wiener Gemeindebauten, 60.000 Gemeindewohnungen mit teilweise spektakulärer Architektur für 220.000 Wienerinnen und Wiener werden errichtet. Der Rabenhof, der Victor-Adler-Hof, der Reumannhof und viele mehr. Im Oktober 1930 eröffnete Seitz den Karl-Marx-Hof mit den Worten: „Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen.“
Aber damit war es nicht getan: Schulreformen wurden durchgeführt, ein Programm für die Kinder, die Neugestaltung der Wasserversorgung, das modernste Fußballstadion Europas (das Praterstadion) wird gebaut, das größte und prächtigste Hallenbad des Kontinents, kostenloser Kindergarten eingeführt, die Tuberkulose besiegt, ein ganzes Netzwerk der Arbeiterkultur etabliert. Seitz hatte brillante Figuren um sich, etwa Hugo Breitner als Finanzstadtrat, den Mediziner Julius Tandler, den Schulreformer Otto Glöckel und viele mehr – eine ganze Armee radikaler und pragmatischer Weltverbesserer. Seitz, in seiner Bescheidenheit, meinte einmal, er habe diese Konzepte „nur mehr auf ihre Verwirklichung geprüft und für ihre Durchführung gesorgt.“ Um Seitz herum wirkte ein „Dreamteam der zwanziger Jahre“, wie das Alexander Spritzendorfer nennt, ein Grüner Lokalpolitiker in Seitz letztem Wohnbezirk, der Josefstadt, der gerade an einer großen Seitz-Biografie arbeitet.
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1934, nach der erst schleichenden Etablierung des autoritären Austrofaschismus und der Eskalation in einem kurzen, mehrtägigen Bürgerkrieg, wurde nicht nur die Partei verboten, Seitz wurde buchstäblich aus dem Rathaus heraus verhaftet und nach draußen geschleift. Er kam monatelang in Anhaltehaft, und nach seiner Freilassung war er mit strengen Auflagen bedacht, wird auf impertinente Weise überwacht und drangsaliert. Wieder memorierte er Goethe, und leistete eine eigentümliche Art von Subversion. Jede politische Betätigung war ihm zwar untersagt, aber er spazierte demonstrativ durch Wien und die Bürgerinnen und Bürger verbeugten sich vor „ihrem“ Bürgermeister. Es waren ostentative Auftritte, die das Regime zur Weißglut brachten. Thomas Mann schickt Solidaritätsadressen. Nach der Machtübernahme der Nazis kam er wieder kurz in Haft und wurde beim Gestapo-Verhör gefragt, ob er der ehemalige Oberbürgermeister Dr. Karl Seitz sei, worauf er lakonisch antwortete, dass in dieser Frage drei Fehler seien. Erstens gäbe es in Wien keinen Oberbürgermeister, sondern nur einen Bürgermeister, zweitens sei er kein Doktor sondern Schneider und Lehrer und drittens sei er der legale Bürgermeister von Wien, mit Zweidrittelmehrheit gewählt – also „der Bürgermeister“, kein ehemaliger. Das „Bürgermeisterdenkmal“ von Wien, nennt ihn der Historiker Wolfgang Maderthaner. Seine Widerstandsspaziergänge setzt er fort.
Nach der Stauffenberg-Verschwörung, an dessen loser Mitwirkung er beschuldigt wurde (die Leute des 20. Juli hatten ihn offenbar als Repräsentanten in Wien ausersehen), wurde er erst ins Gefängnis nach Moabit gebracht und dann ins KZ-Ravensbrück. Mitgefangene erinnerten sich an den stattlichen Mann mit weißem Bart, der bei der Ankunft aussah, als wäre er gerade aus seinem eigenen goldumrahmten Porträt entwichen. Damals war Seitz schon 75 Jahre alt, seine Gesundheit verschlechterte sich rapide, weshalb er als Prominenter in die Kleinstadt Plaue in Thüringen verbannt wurde. Nach der Befreiung machten sich Wiener SPÖ-Suchtrupps begleitet von US-Offizieren und ehemaligen SPD-Funktionären auf die Suche. Sie fanden ihn schnell. „Seitz saß im Gasthaus und las im Faust“ (Maderthaner).
Danke Robert fuer diese
Einblick zu Seitz