Unruhe im Seuchengebiet

Epidemien sind in gleichem Maße soziale Phänomene, wie sie biologische Phänomene sind. Wir werden infiziert, bevor wir einen Virus fangen. Über Angst, Solidarität, Panik, Egoismus & Menschenerziehung in Zeiten der Ansteckung.

Longread. Essayismus ist der Versuch, mit heißer Feder die Zeit zu begreifen, in der man ist. In aller Vorläufigkeit. Die größte Herausforderung dafür sind irrsinnige Zeiten. Ich habe in diesen Text so bisschen das vergangene Monat investiert, was auch nicht tragisch ist, ich durfte ja eh nicht raus. Natürlich freue ich mich, wenn Ihnen das etwas wert ist, sollte es Ihnen gefallen. Bankverbindung. Robert Misik, IBAN AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW 

Wir erleben einen Kontrollverlust, und das ist für die meisten von uns völlig ungewohnt. Wenn wir das Haus verlassen, spüren wir, dass wir keine Kontrolle über die Gefahr haben, der wir uns aussetzen. Wir bewegen uns vorsichtig, vorausschauend. Fast wie Diebe schleichen wir herum. Stets rechnen wir mit der Gefahr, die die unangenehme Eigenschaft hat, völlig unsichtbar zu sein. Wir haben keine Kontrolle über unsere Gesundheitsrisiken, wir haben noch weniger Kontrolle über unsere künftigen Einkommen. Wir haben noch nicht einmal eine Kontrolle darüber, ob wir künftig unseren Beruf ausüben dürfen. Wir haben eigentlich keine wirkliche Kontrolle darüber, ob und wann und zu welchem Zwecke wir das Haus überhaupt verlassen dürfen. Im Hausarrest individualisiert, haben wir zugleich jede Autonomie eingebüßt.

Ein Gesellschaftsexperiment, in dem wir leider auch die Laborratten sind

Wenn alle miteinander verbunden sind, ist die Autonomie eine Chimäre, das spüren wir plötzlich noch mehr als sonst. In komplexen Gesellschaften sind wir immer alle verbunden, aber noch mehr spüren wir diese Verbindung, wenn es Ansteckungsketten sind, die uns aneinander binden. In Zeiten der Ansteckung werden wir noch mehr zu einem Organismus, als wir das sowieso immer sind. Wir halten uns voneinander fern, und versuchen doch solidarisch zu sein. Irgendwie: Zusammenhalten, indem wir uns aus dem Weg gehen. „Social Distancing“, dieses eigentümliche Wort der Stunde, ist auf dumme Weise falsch. Wir halten „physische Distanz“ und versuchen, so gut das geht, sozial zu kuscheln. „Es ist ein seltsames Gefühl des Kontrollverlustes, das ich nicht gewohnt bin, aber ich wehre mich auch nicht dagegen“, scheibt der italienische Autor Paolo Giordano.

Ein spannendes Gesellschaftsexperiment, das nur den Nachteil hat, dass wir in diesem Versuch die Beobachter als auch zugleich die Laborratten sind.

Epidemien, Pandemien, Seuchen sind, wie Laura Spinney in ihrer großen Untersuchung über die „Spanische Grippe“ schreibt, „im gleichen Maße ein soziales Phänomen wie ein biologisches Phänomen“.

Social Distancing ist es dummes Wort: Wir betreiben physisches Distancing, aber soziales Kuscheln.

EPIDEMIEN ALS SOZIALES PHÄNOMEN

So eine Seuche ist schon eine Pest. Woran (Wortspiel!) wir schon sehen, wie uns Epidemien prägen. Sie prägen die Mentalitäten, die Sprache. Die Pest ist bis heute auch eine Metapher für alles, was so wirklich unerträglich ist. Synonym für blanken Terror. Seuchen prägen uns. Sie. Mich. Bis ich gelernt habe, wie man sich richtig die Hände wäscht, musste ich 54 Jahre alt werden, oder wie man jetzt bei uns sagt: Risikogruppe.

Epidemien und Pandemien waren stets Wendezeiten in der Weltgeschichte. Sie brachten Jahre von Tod und Leiden, aber auch von „intellektueller Desorientierung“, wie das der amerikanische Historiker Frank M. Snowdden in seinem Buch „Epidemics and Society“ nennt. Viele sahen noch bis in die frühe Neuzeit hinein die Pest als eine Strafe Gottes an. Man machte Minderheiten dafür verantwortlich, die Krankheit eingeschleppt zu haben, was zu Gemetzel und Pogromen führte. Zugleich setzte sich aber auch langsam durch, dass es natürliche Ursachen für die Seuchen geben müsse. Eine ungeheure Revolution war diese Erkenntnis. Dass Epidemien nicht eine Strafe Gottes für sündige Gesellschaften, sondern biologische Gründe vorhanden seien und die Krankheit offensichtlich ansteckend sei. Beides konnte lang nebeneinander bestehen, noch bis in die Zeit der „Spanischen Grippe“. Da erließen die Gesundheitsbehörden Versammlungsverbote, zugleich veranstalteten die Kirchen große Fürbitt-Gottesdienste, bei denen sich die Gläubigen drängten und sich zu allem Überdruss in Schlangen anstellten, um irgendwelche Reliquien zu küssen.

„Die Konzeption der natürlichen Verursachung … markiert vielleicht den epochalsten Fortschritt in der Geistesgeschichte der Menschheit“ (Snowden). Die Erkenntnis, oder besser: die Ahnung, dass Epidemien biologische Ursachen haben, führte zu ersten öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen, also zu gesellschaftlichem Fortschritt. Hygiene, sanitärer Fortschritt. Zugleich aber auch: starker Staat, starke Regierung, die weit in die Privatsphäre der Menschen eingriff, sie in Quarantäne steckte, diese kontrollierte, Polizei und Gesundheitskommandos in die Wohnungen schickte. Der Aufstieg des absolutistischen Staates, ohne Epidemien wäre der anders verlaufen.

QUARANTÄNE, ISOLATION, HYGIENE: SO SEHR HABEN SICH DIE MASSNAHMEN SEIT DEN PESTJAHREN NICHT VERÄNDERT

Aus unserer Sicht, mit Blick zurück, und mit Blick auf uns, reiben wir uns die Augen. Alles ist anders, aber manches frappierend gleich. Heutige Containment-Politik „basiert auf traditionellen Methoden, die auf die staatliche Gesundheitspolitik während der Beulenpest zurück gehen: Ansteckungsfälle aufspüren, isolieren, in Quarantäne stecken, die Absage von Massenveranstaltungen, Überwachung Reisender, Empfehlungen für persönliche Hygiene, und Schutz durch Masken, Handschuhe, Mäntel“ (Snowden).

Wir fühlen uns da ein wenig an jene Art Generäle erinnert, die neue Schlachten mit den Methoden früherer schlagen wollen, wenn wir Berichte wie von Daniel Defoe über die Pest in London aus dem Jahr 1665 lesen. Eine Gesellschaft in Furcht, die erstmals „rational“ zu reagieren versuchte. Die Obrigkeit erließ die Anordnung, „Leute in ihren eigenen Häusern abzusperren“; Staatsdiener hatten die Möglichkeit, „sich zwangsweise Eintritt (zu) verschaffen, bis die Art der Erkrankung festgesellt ist“; das Haus wurde abgesperrt, zwei Wächter für jedes Haus abgestellt, jedes verseuchte Haus wurde in der Mitte der Tür mit einem roten Kreuz bezeichnet und die Wächter hatten auch die Aufgabe, „die Eingeschlossenen mit dem Notwendigsten“ zu versorgen. Die Londoner achteten darauf, nicht in die Nähe von Leichen zu kommen, und in engen Gassen kehrten sie um, wenn sie Gefahr verspürten. Man achtete darauf „sich mit kleinem Gelde (zu) versehen, um das Wechseln unnötig zu machen“. Die meisten Geschäfte lagen darnieder und die Armen hatten kaum mehr eine Möglichkeit „ihr Brot zu verdienen“. In Droschken stieg praktisch niemand mehr, „weil man nie wusste, wer zuvor damit befördert worden war“.

Selbst die „Fake News“ und Ratschläge von Youtube-Doktoren unserer Zeit gab es, auf ihre Weise, damals schon. Quacksalber verkauften Amulette, auf denen der Spruch „Abracadabra“ pyramiedenförmig geschrieben war und versicherten, diese würden fix gegen die Krankheit helfen.

Quacksalber verkauften Amulette mit der Aufschrift „Arbacadabra“. Gute Ratschläge von Youtube-Doktoren unterscheiden sich heute auch nicht so sehr davon.

Die hygienischen und Kontrollmaßnahmen, die in der Seuche ergriffen wurden, wurden später beibehalten – und angepasst, um eine Rückkehr zu vermeiden. Es war die Geburt des öffentlichen Gesundheitswesens.

Epidemien sind, wenn man so will, ein Foucaultscher Moment. Sie etablieren rationale Verwaltung, schaffen autoritären Zugriff auf das Individuum, zugleich aber auch paternalistische Effekte von Erziehung und Selbsterziehung, sanitäre Vorschriften und hygienische Ratschläge, deren Befolgung sozialer Kontrolle unterliegt, die aber wiederum auch den Individuen zur zweiten Natur werden sollen. Aus diesem Geist entstehen aber auch Gesundheitsinstitutionen vom Pesthaus über die Klinik bis zum Sanatorium, Forschungseinrichtungen später auch, und während der Epidemien und in ihrem Nachgang gehen sozialer Fortschritt und autoritärer Verwaltungsstaat ein seltsames Bündnis ein. Auch das Verhältnis Arzt-Patient nimmt neue Formen an: der Patient ist dem Arzt unterstellt, verliert seine Autonomie gegenüber dem Urteil des Doktors, gibt sich zugleich aber auch gerne in dessen Hand.

TOTE RATTEN IN DEN STRASSEN, PROLOG DES UNHEILS

Und wenn die Ratten in den Straßen starben, die Ratten, das waren die Überträger des Bakteriums Yersinia pestis, also eigentlich waren die Flöhe der Ratten die Überträger, aber die Ratten trugen sie zu den Menschen und über die Kontinente hinweg, und ja, es waren nicht unsere Ratten, die heute bei uns heimisch sind, die die Pest übertrugen. Diese Ratten, die sind heute ausgerottet, aber nicht durch uns, sondern von den Ratten, die hier einwanderten und heute bei uns heimisch sind, da die jene Ratten, die früher bei uns heimisch waren, tot bissen. Die Pestratten waren zutraulich und lebten mit den Menschen wie Haustiere, anders als die anti-soziale Ratte, die heute bei uns lebt, die ist gewissermaßen „social distant“ und huscht nur manchmal über die Straßen bei Nacht…

Die Ratten, die in den Straßen starben, waren die Ankündigung des Unheils. Vorboten. Prolog des Unheils. Die Ratte hat seitdem einen schlechten Ruf. Kein Wunder womöglich, dass es Jahrhunderte später unter den Punks Mode wurde, sich Ratten zu halten. Vielleicht haben sich die Punks ja nur Ratten gehalten, weil die Ratten so „außerhalb der Gesellschaft“ standen, wie das die Punks auch gerne wollten.

KRANKHEIT ALS METAPHER

Krankheiten hat man nicht einfach, sondern man erklärt sie, sie werden gedeutet, gleichsam mit Sprache infiziert wie die Zelle vom Virus. „Krankheit als Metapher“ hat Susan Sontag einen berühmten Essay genannt, weil Krankheiten auch immer mit moralischen Erklärungen umgeben waren. Krebs wurde noch bis in die siebziger Jahre angesehen als etwas, was du kriegst, wenn du kein glückliches Leben lebst, wenn Du Sorgen in dich reinfrisst. Der Krebs „frisst sich in dich rein“, das ist noch immer so ein Bild, das wir vor Augen haben. Das „Metastasieren“. Es gibt keine „Krebspersönlichkeit“, auch wenn manche immer noch meinen, dass gestresste, einsame, depressive, lustunfähige oder sonstwie in Bezug auf unser moderne Selbstideal defizitäre Menschen häufiger an Krebs erkranken. Das „gebrochene Herz“, auch so ein Sprachbild. Und bei Krankheiten, die ansteckend sind, ist die metaphorische Dimension noch frappierender. Denken wir nur an Aids und seine Metaphern, als „Homosexuellenseuche“, als Strafe für Homosexualität, für Gesellschaften, die diese akzeptieren, oder nur als Gefahr, die aus sexueller Libertinage entspringt. Sofort sind diese Krankheiten auch moralisch überdeterminiert. Nicht nur die „Interpretation“ der Krankheit, auch ihr Name hat metaphorische Wirkung. „Grippe“ wirkt nicht sonderlich gefährlich, weshalb die „Spanische Grippe“ auch unterschätzt wurde. Dabei war sie wahrscheinlich das größte Desaster der Menschheit und tötete zwischen 50-100 Millionen Menschen. Sie war zweifellos die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts, kostete mehr Menschenleben als erster und zweiter Weltkrieg und der Holocaust zusammengezählt. Übrigens heißt sie auch nur „Spanische Grippe“, weil alle kriegsführenden Nationen einer strengen Zensur unterlagen und die Epidemie in Zeitungen nicht berichtet wurde. Spanien war neutral, und so erschienen die ersten Artikel in spanischen Zeitungen, weil die keiner Zensur unterworfen waren. Deswegen heißt sie „Spanische Grippe“. Aber in Senegal heißt sie „Brasilianische Grippe“, in Brasilien die „Deutsche Grippe“ und in Polen die „Bolschewistische Seuche“. In Japan „Sumo-Grippe“, weil sie erstmals bei einem Ringerturnier auftrat. Schweinegrippe, Vogelgrippe, all das evoziert Bilder im Kopf. Wer will schon von einer Sau aus dem Stall eine Krankheit abbekommen, da schon lieber von der hünschen, gewaschenen Nachbarin. Dabei ist das für das Virus natürlich ziemlich egal. Fast jede Grippe ein Vogelgrippe, unsere normale Influenza hat Enten als Wirte. Um all diese Probleme mit der Metaphorik der Namensgebung zu bekämpfen, hat die World Health Organization verfügt, dass Krankheiten nur Namen bekommen dürfen, die Akronyme ihrer Symptomatiken sind. Einige Zeit überlegte man, sie wie Stürme und Tiefdruckgebiete nach Frauen- und Männernamen zu benennen, man kam davon aber schnell ab. „Sebastian-Grippe“, das würde in Österreich zwar zu Schenkelklopfern führen, wäre dann aber doch auch irgendwie absurd. Deswegen heißt SARS wie es heißt (Übersetzt: Schweres akutes Respiratorisches Syndrom, also Atemwegssyndrom), und nicht einmal das hilft immer, denn Hongkong fühlt sich diskriminiert, da Hongkong offiziell in China „Special Administrative Region“ heißt, also SAR, was jetzt irgendwie krank klingt. Die Namensgebung, je technischer sie wird, desto unklarer wird sie. Deswegen hier einmal: Die Virenfamilie, zu der das Virus zählt, ist die der Corona-Viren. Das Virus selbst heißt SARS-CoV-2, die von diesem verursachte Krankheit Covid-19.

Die Krankheit zehrt nicht nur von den metaphorischen Geschichten, mit denen sie umgeben wird, sie kann, umgekehrt auch selbst zur Metapher werden. In seinem Jahrhundertroman „Die Pest“ beschreibt Albert Camus, geschrieben in den von den Nazis besetzten Paris, wie Viren, wie Gift, eine Gesellschaft zersetzen, sich in alle Winkel einfressen. Eine Metapher auf die totalitäre Herrschaft. Aber es ist auch eine Geschichte vom Überleben, vom nicht Aufgeben, vom Aufrecht-Stehen-Bleiben.

Krankheiten hat man nicht einfach, sondern man erklärt sie, sie werden gedeutet, gleichsam mit Sprache infiziert wie die Zelle vom Virus.

Die metaphorische Dimension und der Schrecken, der von einer Krankheit ausgeht, hat nicht immer mit deren tatsächlichen Bedrohlichkeit zu tun. Die Pest kam plötzlich, entstellte, führte zu fürchterlichem Tod, ist absoluter Terror. Die Pocken, kaum weniger tödlich, nicht weniger entstellend, waren dagegen immer da, sie kamen regelmäßig, führten zum Tod eines Teils von Kohorten, zur Herdenimmunität eines anderen Teils. Da sie als das Gewohnte angesehen wurden, war ihr Schrecken ein anderer. Welche gesellschaftlichen Wirkungen eine Krankheit hat, hat auch viel mit den Übertragungswegen zu tun. Ist, wie bei der Cholera, der Übertragungsweg die „Oral-Fäkal-Route“, wie das in der Fachsprache heißt, ist also die Übertragungsweg Schmutz in den Wohnungen, Exkremente, verseuchtes Wasser, dann wütet sie fast nur in den Slums, ist als Krankheit der Armen angesehen, und mit der Bedeutung des „Unsauberen“ umgeben. Gilt als Krankheit jener, die „schmutzig sind“. Bei Krankheiten wie Syphilis und Tripper ist das moralisierende Narrativ naheliegenderweise wieder ein anderes. Die meisten tragen Infektionen wie diese mit Scham, höchstens ein paar Sonderlinge stolz, gewissermaßen als Verwundetenabzeichen für besonderen Mut und um Verdienste in einer sexuellen Leistungsgesellschaft.

Ist die Übertragungsweise Husten, Tröpfcheninfektion, über die Luft, dann ist die Seuche demokratischer – und frei von Stigma. Sie trifft alle. Und das hat dann andere gesellschaftliche Effekte. Die Cholera traf primär Arme. Führte zu deren moralischer Abwertung. Führte zugleich auch zu Aufständen der Armen. Rebellionen, Revolutionen. Die Rolle der Cholera bei den Umstürzen des 19. Jahrhunderts ist unterschätzt. Überhaupt die Rolle von Krankheiten bei den großen historischen Geschehnissen. Die Conquistatoren haben die „Neue Welt“ und deren indigene Bevölkerungen nicht so leicht unterworfen, weil sie kriegstechnisch so überlegen waren – sondern weil sie Krankheiten einschleppten, die die indigenen Bevölkerungen faktisch ausrotteten. In allen Kriegen des 18. Und 19. Jahrhunderts starben mehr Soldaten an Infektionskrankheiten als am Schlachtfeld. Kluge Generäle und Feldherren setzten das auch bewusst ein und lockten Invasionsarmeen in Konstellationen – örtliche, zogen Kriege in entsprechende Jahreszeiten –, die dazu führten, dass die Angreifer von Plagen hingerafft wurden.

ALS ES CHIC WAR, TUBERKULÖS ZU SEIN

War eine Seuche „demokratischer“ verteilt und immer da, wurde sie oft gar nicht als übertragbare Krankheit erkannt. Die Tuberkulose etwa ist so ein Fall. Lange dachte man, es gibt Veranlagung zur Schwindsucht, wie die Tuberkulose auch hieß. Man deutete sie als Zivilisationskrankheit. Zwar befiel auch sie vornehmlich die Armen, Verletzbaren, aber doch in recht erheblicher Zahl die Reichen und Schönen und Jungen. Sie veränderte sogar das Schönheitsideal, wurde romantisiert und ästhetisiert. Die Frauen, dünn, fahl, blass, zerbrechlich, ja, gewissermaßen: entschwindend. Man nannte das später sogar „Schwindsucht-Chic“, und den gibt es bis heute, und bei den Männern ist es der klapprige, dünne, von seiner Kreativität geplagte, verwuschelte Künstler-Typ, dessen Blick etwas leer in die Ferne geht. Das Schönheitsideal, das TBC in der romantischen Periode prägte, hält sich bis heute und wir sehen es in jeder Mode-Zeitschrift. Gesund aussehen wurde unmodern, lang vor Kate Moss oder Keith Richards.

Die Frauen dünn, fahl, blass, zerbrechlich. Plötzlich ein Schönheitsideal. Gesund auszusehen wurde unmodern, lange vor Kate Moss oder Keith Richards.

Schiller, Tschechow, Balzac, Chopin, Edgar Allen Poe, alles Schwindsüchtige, die der Krankheit ihr romantisches Künstlergepräge gaben. Da die Krankheit nicht entstellend war, in vielen Fällen auch erst nach ein, zwei Jahrzehnten tödlich, konnte sie mit der Metaphorik von „Genie“, „Schönheit“, „Verletzlichkeit“ und „Sensitivität“ umgeben werden. Etwas, das bei Pocken oder der Pest ziemlich unmöglich gewesen wäre. Solange man über die bakterielle Ursache der Krankheit nichts wusste, hatte sie daher auch keine stigmatisierenden Effekte. Die brachte, gewissermaßen, erst die medizinische Fortschritt. Erst der machte klar, dass die Befallenen ansteckend sind, also gefährlich, machte sie zu „Aussätzigen“. Auch so ein Wort aus der Seuchengeschichte übrigens, das heute oft einen nicht-medizinischen, gesellschaftlichen Klang hat.

DAS VIRUS – ES FÜHLT SICH NUR IN GESELLSCHAFT WOHL

Das Problem am medizinischen Fortschritt war, dass er über einige Jahrzehnte zwar zur Einsicht führte, dass durch Bakterien und Viren (diese ganz kleinen Biester wurden erst später entdeckt) verursachte Krankheiten biologische Ursachen haben, aber keine effektive Behandlung bestand. Diese gab es erst mit den Antibiotika (gegen bakterielle Seuchen) und mit antiviralen Medikamenten. Das verschärfte das gesellschaftliche Leid der Kranken oft noch.

So ist, selbst die „demokratischte Infektion“ nie völlig frei von Stigma. Klar, wer die Grippe hat, wird bei uns üblicherweise nicht als Aussätziger gesehen. Aber schon jetzt sah man an Covid-19, dass selbst diese Krankheit in kleinen Dörfern stigmatisierende Effekte haben kann. Wer infiziert ist, ist nun einmal ansteckend, also potentiell tödlich und wird gemieden. Und wahrscheinlich war er oder sie „unvorsichtig“ und hat selbst irgendeine Schuld daran, sie sich eingefangen zu haben – solche Urteile folgen dann auf schnellem Fuße.

Krankheit und Gesellschaft, das ist von Beginn an übrigens ein paradoxes Thema. Und „von Beginn an“ heißt wirklich: Von Beginn an. Viren und andere Biester brauchen viele Wirte. Das Virus ist unfähig, sich selbst zu reproduzieren, es muss in eine Wirtszelle eindringen und dessen Reproduktionsapparat übernehmen um sich fortzupflanzen. Ein solcher Parasit hängt aber „von seinem eigenen Verhalten ab als auch von dem seines Wirts“ (Laura Spinney). Während Menschen noch in minimalen Kleingruppen herumzogen, hätte ein Virus keine ausreichend großen Wirtsvölker finden können. Viren, die auf Menschen spezialisiert sind, kann es also erst seit dem Entstehen von Ackerbaugesellschaften geben, also der Ära, in der Menschen begannen, in größeren Gemeinschaften zusammen zu leben – Großfamilien, Dörfer, Städte. Epidemien brauchen Menschenmassen. Menschliche Virenerkrankungen haben also nicht nur Effekte auf Gesellschaften, Gesellschaftlichkeit ist gewissermaßen ihre Grundbedingung. Biologie, die nur auf Grund von Gesellschaft existieren kann, jedenfalls in ihrer ausgeprägtesten Form.

Das Virus selbst wurde zur Metapher. Für etwas, das um dem Erdball rast. Eine Nachricht, die viral geht.

Das Virus, nicht viel mehr als ein bisschen DNA, die sozusagen schlechte Nachrichten überbringt. Das Virus selbst wurde zur Metapher. Synonym für etwas, das sich überall reinfrisst, fortpflanzt, überspringt, rund um den Erdball rast. Computervirus. Eine Nachricht, die viral geht.

SEUCHEN ALS MOTOR DES SOZIALSTAATES

Keime, sie verursachen die Plage, jeder kann sie sich einfangen, was, in den allermeisten Fällen, im Umkehrschluss auch heißt, dass auch der Reichste nie sicher ist, wenn der Arme nicht sicher ist. Ein Gesundheitssystem, das nicht für alle funktioniert, funktioniert unter den Bedingungen von Epidemie für niemanden. „Die Kapitalistenherrschaft kann nicht ungestraft sich das Vergnügen erlauben, epidemische Krankheiten unter der Arbeiterklasse zu erzeugen; die Folgen fallen auf sie selbst zurück, und der Würgengel wütet unter den Kapitalisten ebenso rücksichtslos wie unter den Arbeitern“, das wusste Friedrich Engels schon vor 150 Jahren. So hatten Seuchen transformatorische Effekte auf Gesellschaften, wurden sogar zum Schrittmacher von sozialen Fortschritt, des Sozialstaates, prägten Städte, moderne Architektur. Ordentliche Wohnungen, eine gute Wasserversorgung, eine hygienische Abwassersystem, das wurde auch durch Epidemien inspiriert. Die Hygiene wurde entdeckt, das Volk zu Sauberkeit erzogen, es wurde Aufgabe, übrigens der Frauen in erster Linie, die Wohnungen sauber zu halten. Der Besen wurden durch den Wischmopp ersetzt, weil man lehrte, die Keime am Boden werden mit Besen nur aufgewirbelt. Seife, Wischmopp, Wasserleitung – alles Produkte von Seuchen.

WENN DER NÄCHSTE EINE TÖDLICHE GEFAHR IST. SEUCHEN UND EGOISMUS

Das heißt nicht, dass Seuchen „Schulen der Solidarität“ seien. Katastrophen können eine solche Wirkung haben, wie Rebecca Solnit in ihrem Buch „A Paradise Built in Hell“ schreibt – ein pointierter Titel, der beschreiben soll, dass gesellschaftliche Gleichheit und Solidarität in Desastern wachsen. Natürlich gibt es auch in den Seuchen und Epidemien unzählige Heldengeschichten – die Pflegerinnen, die, bei aller Todesgefahr, Kranke betreuen –, und es gibt den Zusammenhalt der Gesunden, die sich unterstützen. Aber Solidarität ist schwierig, wenn das Beste ist, was man für andere tun kann, daheim zu bleiben und sich die Hände zu waschen, und wenn der Nächste potentiell ansteckend, also tödlich ist. Wenn im Supermarkt einer hinter dir hustet, denkst du: nichts wie weg. Bei anderen Katastrophen ist das anders, auch nach Kriegen: man kann Obdachlose bei sich aufnehmen, Flüchtlingen Obdach geben, man kann, bei Erdbeben etwa, gemeinsam die Opfer ausgraben. Die potentielle Tödlichkeit des Nächsten kann dagegen Solidarität untergraben. Daniel Defoe hat darüber geschrieben, wie das ist, wenn alle panisch sind. Alles macht sich auf die Flucht, das beste Mittel gegen die Seuche erscheint zunächst, vor ihr davon zu laufen. Je länger der Tod wütet, umso mehr stumpft man ab. „Aber zum Unglück war das eine Zeit, in der jeder zuerst an seine eigene Sicherheit dachte und sich mit dem Elend des Nächsten nicht abgeben konnte. Alle hatten den Tod vor ihrer Türe oder schon im Hause und wussten weder, wohin zu fliehen, noch was sonst sie tun sollten. Dadurch wurde alles Mitleid erstickt und die Selbsterhaltung zum obersten Gesetz. Kinder verließen ihre Eltern, Eltern ihre Kinder, wenn das auch vielleicht nicht so häufig vorkam. Todesgefahr zerstörte alles Mitgefühl und alle Sorge für andere.“

Boccaccio berichtet in seinem „Decamerone“ (über die Pest von Florenz 1348), wie Bürger einander mieden, „wie unter Nachbarn kaum jemand zu finden war, der Mitgefühl für einen anderen zeigte, wie Verwandte sich distanziert verhielten und sich nie oder nur selten trafen; …Väter und Mütter wurden gefunden, wie sie ihre eigenen Kinder ungepflegt und unbemerkt ihrem Schicksal überließen, als wären sie Fremde gewesen. So blieben die Kranken beider Geschlechter, deren Zahl nicht geschätzt werden konnte, ohne Mittel…“

In Epidemien werden Menschen sehr leicht zu Egoisten, die nur damit beschäftigt sind, selbst zu überleben.

Aufrufe, sich während der „Spanischen Grippe“ 1918 um verwaiste oder unbetreute Kinder zu kümmern, verhallten weitgehend ungehört. Die meisten Menschen waren verängstigt und nur damit beschäftigt, sich um sich selbst zu kümmern. Dass dieses größte Desaster in der Geschichte des 20. Jahrhunderts so frappierend wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis fand, führen kluge Köpfe daher auch auf diese Tatsache zurück: Es gibt so wenige Episoden und Anekdoten, die erlauben, sich darüber Heldengeschichten zu erzählen. Im Gegenteil, die Menschen mochten nicht, was die Epidemie aus ihnen machte: Egoisten nämlich, die nur überleben wollen. Deswegen haben sie sie vergessen.

Funfact: Während der „Spanischen Grippe“ empfahlen japanische Behörden das Tragen von Gesichtsschutz. Europäische Behörden taten das nicht. Daraus wurde eine Gewohnheit, die wir bis vor kurzem als nationaltypische Eigenart erachteten. Bis wir jetzt auch begannen, japanisch zu werden.

EINE ART BESONDERE INNERE UNRUHE

Eine unsichtbare Gefahr löst Angst aus, aber zugleich keine Panik. „Panisches Verhalten ist klassischerweise als desorientiertes Verhalten beschrieben“, sagt Scott Gabriel Knowles, Historiker an der Drexel-University. „Menschen können nicht handeln, weil sie keine Entscheidung treffen können, da sie von der Angst buchstäblich in Besitz genommen werden.“ Aber auch solches Verhalten trifft für Pandemien eher selten zu. Es würde ja nichts helfen, in kopfloser Aufgeregtheit durch die Straßen zu laufen. Eher kapselt man sich ein, in der Wohnung, und in der noch einmal, wie eine russische Matrjoschka, in sich selbst, in ein inneres Exil, in einer Art besonderer innerer Unruhe, stoischer Erregtheit.

WARUM WAREN WIR DERART BLIND? WIR HÄTTEN ES WISSEN MÜSSEN.

Das Eigentümlichste an diesem Desaster, das jetzt um die Welt fegt, ist die Tatsache, dass es erwartet wurde. Wenn das Bonmot „A Desaster Waiting to Happen“ je wirklich zutraf, dann auf dieses. Auch die Wirtschaftskrise, die die Ökonomie jetzt wie eine Keule trifft, wird gelegentlich mit der Metapher des „Black-Swan-Effektes“ beschrieben, also des unerwarteten Ereignisses, das einen Dominoeffekt auslöst, mag er ein ökonomischer Effekt oder ein außerökonomischer Effekt wie dieser sein. Aber es ist kein „Black-Swan-Effekt“. Nichts war erwartbarer als diese Pandemie. SARS erschütterte 2003 die Welt, breitete sich aus, führte zu 8.098 Erkrankten und 774 Toten, bis es gelang, die Infektionsketten auszutrocknen. Aber die Krankheit war ein Weckruf, weil sie alles vereinigte, was nötig ist, um das globale System schwer zu treffen. Es war eine Atemwegserkrankung, die von Person zu Person springt. Sie hat eine längere nicht-symptomatische Inkubationszeit; sie hat Symptome, die zunächst über normale Erkältungen nicht hinaus gehen; sie verbreitet sich schnell und leise in einer global vernetzten Welt; sie wütet schnell unter Ärzten und anderem Krankenhauspersonal; und sie hat eine Mortalitätsrate von rund 10 Prozent. Und sie kam ursprünglich aus China. Ähnliche Krisen erlebte die Welt noch mit anderen Infektionen, zuletzt mit Ebola. Alle Expertenstäbe haben sich in aller Welt darauf vorbereitet und auch Politiker und Spitzenbeamte hätten es tun können. Das deutsche Robert-Koch-Institut hat das Szenario 2012 in einer Expertensimulation und Studie sogar durchgespielt. Als Drucksache „17/12051“ ist sie sogar als Bericht der Bundesregierung für jeden abrufbar. „Die Symptome sind Fieber und trockener Husten, die Mehrzahl der Patienten hat Atemnot, in Röntgenaufnahmen sieht man Veränderungen der Lunge“. Inkubationszeit 14 Tage, Verbreitungsweg Tröpfcheninfektion. Als Herkunftsort wird Südostasien angenommen, als Folgen in Deutschland und dem Rest der Welt Engpässe bei medizinischer Ausrüstung, beim Personal und bei der Lebensmittelversorgung. Die medizinische Versorgung breche zusammen, obwohl mit „Schulschließungen und Absagen von Großveranstaltungen“ reagiert wird, mit Quarantäne, Isolierstationen, Masken. Am Ende sind sieben Millionen Menschen in Deutschland tot.

Eine halbe Million Soldaten waren mit Napoleon nach Osten gezogen, dezimiert von Kälte, Viren, Bakterien, Flöhen, Läusen und sonstigem Mikrobengetier kehrten nur 10.000 zerlumpt zurück.

Wir hätten das alle wissen können, und Experten haben es gewusst. Wir wissen seit 3. Januar, dass in China eine seltsame neue Infektion grassiert und Wuhan isoliert wurde. China hat davor alles vertuscht und der Welt damit dieses Desaster eingebrockt. Schon richtig. Aber auch ab dem 3. Januar hat niemand reagiert. Jetzt wissen wir, wie wir künftig reagieren müssen: Sofort alle Reisen aus der Ursprungsregion untersagen. Flüge sperren. Tritt die Krankheit auf, rigorose Quarantänen verhängen. Weil wir eine Erfahrung gemacht haben. Weil wir offensichtlich die Erfahrung brauchten. Es reicht das einfache Wissen nicht aus. Alleine auf Basis von Expertenwissen und Modellsimulationen können wir offenbar nicht handeln. Oder stellen wir uns vor, jemand hätte am 15. Jänner gefordert, alle Einfuhren und alle Personenflüge aus China zu untersagen. Er oder sie wäre für verrückt erklärt worden. Österreich konnte rigoros handeln, weil wir die Bilder aus den Katastrophenzonen von Italien sahen. Italien hätte wahrscheinlich nicht handeln können, weil es solche Bilder eben nicht zur Verfügung hatte, die frühe Zustimmung zu massiven Maßnahmen gebracht hätten. Auch das ist eine dieser bizarren, bitteren Seiten der Sache: die, die einigermaßen verschont geblieben sind, müssen denen danken, die als erste zu Opfern wurden. Denn an ihnen konnten sie sehen, was zu tun ist. Klingt zynisch, ist es aber nicht. So ist das eben offenbar.

DIE WELT NACH COVID-19

Wenn Krankheit immer auch eine Metapher ist, wenn Epidemien Gesellschaften durchschütteln und auf neue Spuren bringen – wie steht es dann mit Covid-19? Schwer zu sagen. Vielleicht repräsentiert Covid-19 einmal die endgültige Erschütterung des Sicherheitsgefühls, in dem sich moderne, industrialisierte Gesellschaften wogen. Oder es geht gerade dieser übersteigerte Individualismus den Bach runter, um den sowieso nicht schade ist, dieser Glaube, wir wären in komplexen Gesellschaften alleinige Autoren unseres Lebensskriptes. Gut möglich auch, dass sich autoritäre Kontrollstaaten etablieren. Mehr national, mehr regional. Oder, umgekehrt, erstmals ein echter planetarischer Geist.

Schwer zu sagen. Mitten im Getümmel sieht man schlecht, das erfuhrt Napoleon schon vor Moskau. Eine halbe Million Soldaten waren mit ihm nach Osten gezogen, dezimiert von Kälte, Viren, Bakterien, Flöhen, Läusen und sonstigem Mikrobengetier kehrten nur 10.000 zerlumpt zurück.

Ein Gedanke zu „Unruhe im Seuchengebiet“

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