Vom Geben und vom Nehmen

Die Reichen werden reicher, alle anderen haben immer mehr Stress. Arbeit wird hoch besteuert, Erbschaften gar nicht. Zwei kommen in die Intensivstation, aber nur für eine von ihnen gibt es ein Beatmungsgerät. Pflegerinnen werden mit Peanuts abgespeist, Broker zählen im Homeoffice ihre Millionen. Alles ungerecht. Aber was genau wäre gerechter? Gerechtigkeitsnormen in Krisenzeiten.

Arbeit & Wirtschaft, Onlinemagazin von AK und ÖGB. 

Als die Corona-Krise in Österreich zu ersten Panikkäufen führte, machten ein paar Scherzbolde folgenden Witz: Die reichsten 10 Prozent der Österreicher haben beinahe 56 Prozent aller Klopapierrollen gehortet. Für die ärmere Hälfte der Bevölkerung bleibt nichts anderes, als sich um vier Prozent der Klopapierrollen zu raufen. Und in Wirklichkeit ist alles noch schlimmer, wegen der Dunkelziffer auf der Toilette. Schätzungen zufolge verfüge das reichste Top-1-Prozent über 40 Prozent aller Klopapierrollen.

Ziemlich genau so ist die Reichtumsverteilung in Österreich. Nur nicht in Klopapierrollen, sondern in Finanz-, in Immobilienvermögen und Fabrikanlagen.
Die Reichen werden reicher. Die Reichsten werden sehr viel reicher. Und die allermeisten werden es nicht. Während die einen nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, hat ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger überhaupt kein Vermögen. Sie sind von ihren Einkommen abhängig. Und auch bei denen sieht es nicht rosig aus.

Lohneinkommen stagnieren oder wachsen nur langsam, jedenfalls im Vergleich mit anderen Einkommensarten, also etwa Finanzeinnahmen oder Unternehmensgewinnen. Das ist einer der Gründe, warum die Lohnquote, also der Anteil der Löhne an allen Einkommen seit Jahrzehnten fast durchgehend zurück geht. Und die Einkommensungleichheit wächst ebenfalls an.

Die Einkommen der Spitzenbezieher steigen stärker als die der Geringverdiener. Selbst wenn man Steuern und Transfers hinzu rechnet – also das, was die Gutverdiener an Steuern abgeben und das, was Geringverdiener an Leistungen erhalten –, dann ist die Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten um ein Viertel angestiegen. Wenn wir allein die unselbständig Erwerbstätigen betrachten, also die Arbeiter und Angestellten, dann ist das Bild auch nicht unähnlich: die Löhne und Gehälter des ärmeren Fünftels stagnieren, die des oberen Fünftels wachsen an. Das hat auch mit Lohndumping zu tun, mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, mit brutaler Ausbeutung, der diejenigen am härtesten ausgesetzt sind, die am unteren Ende der Einkommenspyramide stehen.

Noch ein paar Zahlen: In Österreich hat es einen besonders hohen Einfluss auf die Position in der sozialen Pyramide, ob man erbt. Das oberste Top-1-Prozent erbt im Durchschnitt rund 3,3 Millionen Euro, das Top-2 bis Top-10-Prozent rund 820.000 Euro, während die „untersten“ neunzig Prozent (also die große Mehrheit der Bevölkerung) auf gerade einmal 120.000 Euro kommen. Im Durchschnitt, wohlgemerkt. Das heißt: die allermeisten erben überhaupt keine nennenswerten Vermögen.

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Aufstieg ist in Österreich auch besonders schwer. Die Bildungsvererbung ist in Österreich stärker als in vielen anderen Ländern. Eine Person, deren Eltern nur Pflichtschulabschluss hat, schafft bei uns noch seltener einen Hochschulabschluss als in vielen vergleichbaren Ländern. Österreichs Schulsystem sortiert Menschen rigider aus, die aus unterprivilegierten Verhältnissen kommen.

Oder, ganz aktuell in der Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die uns noch jahrelang gepackt halten wird: großen Konzernen wird mit üppigen Staatshilfen beigestanden, Firmen, die still stehen, zahlt der Staat rund 85 Prozent der Lohnkosten, Beschäftigte in Kurzarbeit erhalten rund 90 Prozent ihres bisherigen Einkommens, kleine Selbstständige, Freiberufler, EPUs, Prekäre können sich dagegen um Almosen und ein paar Tausender bei der Wirtschaftskammer anstellen, am besten im Bettelmodus. Gerecht?

Einkommen, Vermögen, Erbschaften und Aufstiegshürden durch Unterprivilegiertheit, staatliche Leistungen, die nach undurchsichtigen Logiken vergeben werden – wir könnten noch viele Beispiele suchen und endlose Zahlenkolonnen aneinander reihen, bis uns der Kopf raucht. Klar ist jetzt schon: Gerecht ist das nicht.

Aber was heißt das eigentlich: gerecht? Und was heißt das: ungerecht?

Der eine hat ein ganzes Leben in Saus und Braus und ohne jede Sorgen, weil er mit goldenen Löffeln im Mund geboren wurde, während die andere kaum ihre Rechnungen bezahlen kann, obwohl sie hart arbeitet und jeden Tag früh aufsteht. Das würden die meisten von uns intuitiv als ungerecht ansehen. Aber nehmen wir nur eine junge Frau, die eine perfekte Bildungsbiografie hinlegt und dann gut verdienen wird, weil sie in eine Familie hinein geboren wurde, die schon in dritter Generation gut situiert ist, und der schon mit vier Jahren Goethe-Gedichte vorgelesen wurden. Sie hat in der Geburtenlotterie gewiss Glück gehabt, aber ist das wirklich schon „ungerecht“?

Anderes Beispiel: Eine verdient als Investmentbankerin viele hunderttausend Euro im Jahr, die andere als Altenpflegerin nur 1.900 Brutto monatlich. Ist das ungerecht? Einerseits natürlich: Die Pflegerin macht einen Job, der gesellschaftlich viel wichtiger ist – wie wichtig, ja wie „systemrelevant“ der ist, sieht man in diesen Monaten –, und bekommt nur Krümel im Vergleich zur anderen. Aber halt, so könnte man einwenden: die Pflegerin hat sich selbst dafür entschieden, in einer Branche zu arbeiten, in der das Lohnniveau gering ist, genauso wie die Investmentbankerin sich dafür entschieden hat, im Bankwesen zu arbeiten. Beides sind, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, persönliche Entscheidungen. Natürlich können wir der Meinung sein, dass die Lohndifferenz zwischen Investmentbankern und Pflegepersonal generell eine Ungerechtigkeit darstellt. Aber welche Lohndifferenz wäre gerechter? Die Hälfte? Gleichverteilung?

Wir sehen schon: Es ist relativ leicht, instinktiv etwas als „ungerecht“ anzusehen, es ist oft schwerer zu begründen, warum etwas „ungerecht“ ist, und es ist noch viel schwerer zu definieren, was eigentlich „gerecht“ wäre.

Deswegen sind Gerechtigkeitsnormen hochinteressante Angelegenheiten, die immer schon Philosophen und Theoretiker beschäftigt haben.

Eine der berühmtesten Illustrationen zur Gerechtigkeitstheorie hat der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin geliefert: „Die Behauptung ist“, schrieb er, „dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person einen Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“

Ungleichverteilung muss begründet werden. Die Gleichverteilung muss das nicht.

Viele Verteidiger von Ungleichheiten wenden auch ein, dass eine dynamische, kapitalistische Gesellschaft den Wohlstand aller Menschen hebt, und zwar auch deshalb, weil sich Menschen anstrengen, um mehr zu haben als andere. John Rawls, einer der berühmtesten Gerechtigkeitstheoretiker, hat deshalb als Prinzip formuliert, dass Ungleichheiten nur dann vertretbar sind, solange sie den Schlechtestgestellten nützen. Wenn der geschaffene Reichtum dazu führt, dass es allen Menschen absolut besser geht, dann muss man die Ungleichheiten in Kauf nehmen. Andernfalls aber nicht.

Das Prinzip ist schön formuliert, hilft aber oft nicht weiter. Einerseits ist schwer zu sagen, welcher Grad von Ungleichheit noch gerecht ist und welcher nicht, und andererseits gibt es natürlich die verschiedensten Weisen, in ungleichen Gesellschaften für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Sicherlich führt ein gut funktionierendes Gemeinwesen, mit einer tollen Infrastruktur, guten Schulen, hervorragenden Universitäten zu mehr Chancen für alle, und ein Wohlfahrtsstaat, der sogar den Ärmsten ein Leben in Würde garantiert, zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Ein solcher gut funktionierender Staat finanziert seine Leistungen über Steuern und die allermeisten Menschen sehen es als gerecht an, dass das Steuer- und Abgabensystem „progressiv“ ist – dass also diejenigen, die mehr haben, viel zahlen, und die, die wenig haben, weniger oder sogar nichts zahlen. Aber welches Arrangement aus Einkommen-, Mehrwert- und Vermögenssteuern, Sozialabgaben und staatlichen Leistungen ist jetzt gerechter, welches ungerechter?

Hinzu kommt: Ungleichheiten sind nicht nur ungerecht, sie haben auch schädliche Wirkungen. Denn in der Regel gilt, dass Gesellschaften umso leistungsfähiger sind, je gleicher sie sind. Das Wirtschaftswachstum wird höher sein, da die breite Masse konsumieren kann und nicht nur die Superreichen, aber auch weil die Produktivität schneller wächst, wenn möglichst viele Menschen Chancen auf Bildung und die Verfeinerung ihrer Fertigkeiten hat. Gesellschaften, die viele Menschen zurück lassen, verspielen Potential. Länder mit weniger Lohnungleichheit haben systematisch niedrigere Arbeitslosenraten, fast immer auch stärkeren technologischen Fortschritt und Produktivitätszuwächse.

Schön, wenn Gerechtigkeit auch „nützlich“ ist. Aber was, wenn einander verschiedene Gerechtigkeitsnormen in die Quere kommen? Die deutsche Philosophin Angela Krebs spricht von einem ganzen Strauß an widerstreitenden Gerechtigkeitsprinzipien, etwa „der Qualifikation, des Verdienstes, der Dankbarkeit, der Wiedergutmachung von Unrecht, der Kompensation besonderer Härten“, sie alle können andere Schlussfolgerungen nahelegen und seien allesamt „auch noch gegen das Nutzenprinzip abzuwägen“. Reale Gerechtigkeitskulturen seien also „so kompliziert wie das Leben selbst“.

Forscher schlagen sich daher auch mit den Gerechtigkeitsnormen herum, die in der wirklichen Welt vorhanden sind – also mit Gerechtigkeitsnormen, die die normalen Menschen haben, spontan, intuitiv.

„Ein Problem ist, dass Vorstellungen von Bedürftigkeitsgerechtigkeit und von Leistungsgerechtigkeit sich in die Quere kommen“, erklärt Carina Altreiter. Die Soziologin hat mit einem Team an Wissenschaftlern untersucht, was die Österreicher und Österreicherinnen unter Solidarität verstehen und auch unter Gerechtigkeit.

Die meisten Menschen sind der Meinung, dass der österreichische Sozialstaat eine gute Sache ist. Dass es für Leute, die arbeitslos werden, eine Arbeitslosenversicherung gibt, dass es ein Sicherheitsnetz gibt, und dass es Sozialhilfe gibt, die ein menschenwürdiges Leben garantiert, selbst wenn man in verstetigter Armut und Chancenlosigkeit gefangen ist. Zugleich finden es aber auch viele Menschen – oft die selben – schwer akzeptabel, wenn sie 40 Stunden schwer und hart arbeiten, und dann oft nur zwei, dreihundert Euro mehr Netto heim bringen als ein Sozialhilfebezieher erhält. Bedürfnisorientierung legt zwar nahe, dass jeder zur Verfügung haben soll, was man für ein Leben in Würde benötigt. Das Ideal der Leistungsgerechtigkeit dagegen, dass jemand, der schuftet, besser gestellt sein sollte als jemand der das nicht tut. Diese beiden Normen geraten sich dann leicht in die Haare.

Gerade in den arbeitenden Klassen ist diese Gerechtigkeitsnorm weit verbreitet, und das seit jeher schon: dass einem Respekt und auch ein „fairer Lohn“ für ordentliche Arbeit zusteht, dafür, dass man aufreibende Jobs macht und sich „für nichts zu gut“ ist, dass man stolz darauf ist, seine Familie durchzubringen, dass man nie um etwas bitten würde, dass man den Reichtum mit den eigenen Händen schafft – das sind so in etwa verbreitete moralischen Grundhaltungen in den „unteren Klassen“. Gerade dieser Stolz ist eine Quelle des Selbstrespekts, oft sogar der Identität.

Wenn man harte und aufreibende Jobs macht und nicht einmal genug verdient, um die gängigen Grundbedürfnisse finanzieren zu können, empfindet man dies im Umkehrschluss aber als eine Verletzung von Gerechtigkeitsnormen. Dass die Reichen immer reicher werden, ist den meisten Menschen in ihrem alltäglichen Empfindungen vielleicht sogar egal, dass man selbst aber keinen „fairen“ Anteil erhält, das regt viel mehr auf.

Und oft geht es dabei nicht nur um Geld – Kämpfe um Gerechtigkeit sind immer auch Kämpfe um Anerkennung. Anerkennung und Entgelt sind aber wiederum eng verbunden: schlechte Bezahlung ist auch eine Form von Respektlosigkeit, und wird auch so erlebt.

Zu den real existierenden Gerechtigkeitsnormen zählt auch, dass einem Solidarität dann zusteht, wenn man sich anstrengt und wenn man zur Solidargemeinschaft dazu zählt. Wer aber zur Solidargemeinschaft zählt, ist umstritten. Gehören Flüchtlinge, die erst seit kurzem da sind, auch dazu? Gehören Migranten dazu, und wenn ja, ab wann? Wie lang muss man dazu gehören, um zur Solidargemeinschaft dazu zu gehören?

Welche „Gerechtigkeitsdiskurse“ im Extremfall noch auf uns zukommen können, davon haben wir in den letzten Wochen nur eine leise Ahnung bekommen, sie sollen aber nicht unerwähnt bleiben. Wenn ein Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenzen gelangt, müssen Ärzte und Ärztinnen entscheiden, wem sie etwa das verfügbare Beatmungsgerät geben. Der Person, die die höchsten Genesungschancen hat? Ist es gerecht, jene zu retten, die noch nicht so viel Zeit lebend verbracht haben, und jene sterben zu lassen, die schon mehr Zeit hatten, das Leben zu genießen? Darf ich dann einer Person das Beatmungsgerät versagen und dann der anderen geben? Wenn ja – darf man eine Person, die schon am Beatmungsgerät hängt, von diesem abmontieren und eine andere anschließen? Ist das das selbe – oder irgendwie anders nach Gerechtigkeitsaspekten zu beurteilen? Wir sehen schon: Gerechtigkeitserwägungen können auch direkt in höllische Entscheidungen führen. Weshalb man auch fragen kann: Ist es gerecht, Mediziner überhaupt solchen Entscheidungen auszusetzen, die sie traumatisieren werden? Aber was wäre die Alternative? Ein striktes Regelwerk mit kompliziertem Punktesystem für Alter, Vorerkrankung, bisherigem Maß an Lebensfreude, das dem Personal die Entscheidung abnimmt, sie sozusagen entpersönlicht?

Auch das sind bizarre Gerechtigkeitsfragen, von denen man nur hoffen kann, nie vor ihnen stehen zu müssen.

Aber zurück zur Normalität. Was ist also „gerecht“? Es ist gar nicht so leicht herauszufinden. Vollkommene Gleichverteilung wäre gerecht, aber auch Ungleichheiten lassen sich begründen, solange sie maßvoll bleiben, keine völlig kontraproduktiven Wirkungen für eine Gesellschaft entfalten und allen ein gutes Leben garantieren. Es ist nicht unbedingt ungerecht, zu meinen, dass diejenigen, die neu zu einer Solidargemeinschaft dazu kommen, sich erst einmal hinten anstellen müssen, wer aber einige Jahre dazu gehört, der gehört dazu. Für eine Leistung, die man erbringt, steht einem eine faire Gegenleistung zu, aber die Gerechtigkeitsnorm der Solidarität verlangt auch, dass die Bedürfnisse aller gedeckt werden. Krasse Ungleichheiten können niemals gerecht sein. Aber besonders ungerecht ist es, wenn man auch noch respektlos abgefertigt wird, obwohl man harte und wichtige Arbeit leistet.

Völlig unumstritten wird nie sein, wo jetzt genau „Gerechtigkeit“ endet und „Ungerechtigkeit“ beginnt.

Vielleicht ist es mit der „Ungerechtigkeit“ ein wenig so wie mit der berühmten Anekdote, die dem US-Richter Potter Stewart zugeschrieben wird. Der verfolgte aus Sittlichkeitsgründen seinerzeit die Pornografie und gab, nach einer schlüssigen Definition gefragt, die Pornografie etwa von erotischer Kunst unterscheide, zu Protokoll: er könne Pornos zwar nicht völlig exakt definieren, „aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.“

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