Die kleinen Leute

Die arbeitenden Klassen halten all das aufrecht, was die Bedingungen unserer Existenz ausmacht, die Urbedingungen unseres Seins. Wo steht das Denkmal für die Krankenpflegerin, wo ist eine Straße benannt nach Ibrahim, den Briefträger?

Banksy, der berühmte Graffiti-Künstler, mit seiner neuesten, großartigen Arbeit.

Wenn die Welt verrückt spielt kann man sich gut in alte Bücher in andere Zeiten flüchten. So lese ich dieser Tage in der legendären „Weltbühne“, dieser berühmten Zeitschrift aus Berlin, die vor hundert Jahren ihre besten Zeiten hatte. Und da fand ich eine feine Kolumne des ebenso legendären Alfred Polgar. Der war ein Wiener Schriftsteller, Journalist und Glossenschreiber. In seiner Kolumne aus dem Jänner 1918 schrieb Polgar über „die kleinen Leute“. Der erste Weltkrieg war gerade zu Ende, Europa lag in Ruinen, die spanische Grippe wütete, die Monarchien wurden hinweggefegt und durch wackelige Demokratien ersetzt, in Österreich, in Deutschland. Dennoch ginge, schreibt Polgar, „das Leben seinen Gang weiter. Die Anständigkeit der kleinen Leute bewirkt solches Wunder.“ Der Hausmeister liegt auf den Knien und scheuert das Stiegenhaus, Straßenbahnfahrer, Rauchfangkehrer, alle tun weiter, als wäre nichts, „der Briefträger schleppt sein Postsäckchen treppauf, treppab“.

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Im Wirrwarr der Welt ändert sich im Leben der normalen Leute doch recht wenig, und deswegen sind sie es, die für „Stabilität“ sorgen. Es sind keine Politiker, die große Sprüche schieben – „koste es was es wolle“ –, sondern die vielen ganz normalen Leute halten wankende Pfeiler gerade. Über große Wichtigtuer-Figuren, die anscheinend Berichtenswertes leisten, liest man dann zwar fette Schlagzeilen in den Zeitungen, aber die meisten dieser bedeutenden Herren (mittlerweile sind auch ein paar Frauen dazu gekommen), sind mit Recht sehr bald wieder vergessen. „Von den Gnaden der kleinen Leute leben wir“, schreibt Polgar. Sie sind für eine Gesellschaft das, was die Sonne für unser Biosystem ist: Sie gewährleisten „die Urbedingungen des sozialen Seins“. Statt irgendeines großen Staatsmannes oder bedeutenden Dichters, schreibt Polgar, wolle er sich am liebsten die Büste seines Briefträgers auf seinen Schreibtisch stellen.

Die ganz normalen Menschen, oder vielleicht besser, die arbeitenden Klassen halten all das aufrecht, was die Bedingungen unserer Existenz ausmacht, die Infrastruktur, die Versorgung. Sie sorgen dafür, dass nicht alles den Bach runter geht, ganz ohne „Heldentum“, sie erarbeiten unseren Wohlstand. Und dann gibt es natürlich auch noch die Helden des Alltags, wie wir jetzt sehen, Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen, das Putzpersonal in der Klinik, die Zivildiener in Betreuungseinrichtungen oder auch in Notspitälern, die allesamt sogar ihr Leben riskieren und dennoch nicht davon laufen.

Bei uns stehen noch immer sehr viele Denkmäler für Soldaten und Heerführer herum, aber wo stehen eigentlich die Denkmäler für die Krankenschwestern Jennifer? Wo gibt es eine Gedenktafel für den Fleischhauer Pospisil? Wo ist eine Straße benannt nach Ibrahim, dem Paketzusteller?

Manche Politiker kommen uns in normalen Zeiten mit dem Wortgekringel von „neuer Gerechtigkeit“ oder „Leistungsgerechtigkeit“ daher, aber damit meinen sie, dass diejenigen, die ohnehin genug haben, noch mehr bekommen sollen – nämlich sowohl an Einkommen, als auch an gesellschaftlicher Anerkennung. Ich verstehe unter „neuer Gerechtigkeit“ aber etwas ganz anderes: dass man jene jetzt plötzlich zu schätzen lernt, die viel zu lange unsichtbar gemacht und als nicht so wichtig angesehen wurden.

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