Toxische Egozentrik bis zur Gesprächsunfähigkeit

Narzissmus der kleinen Differenz, oder: Warum auch Knalltüten bei den Linken gerade jene, die eigentlich ihre Verbündeten sein sollten, wie Todfeinde bekämpfen.

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz.

Stellen wir uns einmal vor, nur so „for the sake of the argument“, ich wäre der Meinung, dass alle besonders diskriminierten Minderheiten ein Recht darauf haben, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden. Und stellen wir uns vor, Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, alle diskriminierten Minderheiten hätten ein Recht darauf, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden, wir sollten aber zugleich vermeiden, in die Falle der Fragmentierung zu tappen.

Stellen wir uns weiters vor, ich wäre der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun bevorzugt die Bühne bekommen und die anderen sollen jetzt einmal eine Zeit lang die Klappe halten. Und Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun auch eine Bühne bekommen, wir sollten aber immer auch darauf achten, Mehrheiten und Allianzen für gemeinsame Anliegen zu umwerben.

Ich sage dann vielleicht, sie würden das jetzt wieder viel zu sehr vom hegemonialen Zentrum der Mehrheiten her denken, sie dagegen erwidern, ich würde Gefahr laufen, eine Sprache der Spaltung anzuschlagen.

Stellen wir uns überdies vor, ich bin für absolute Gleichberechtigung von Homosexuellen und Lesben und überdies für Respekt gegenüber Malochern am Bau und Angestellten im Büro, und sie sind das ebenso, nur mit im Detail anderer Schwerpunktsetzung oder Wortwahl. Stellen wir uns vor ich bin für Respekt vor der Lebensleistung einer Fabrikarbeiterin, die ihr Leben lang am Band gearbeitet hat, sowie für die Verbesserung der rechtlichen Lage von migrantischen Pflegekräften oder Paketausfahrern. Und sie sehen das auch nicht sehr viel anders.

Was meinen Sie? Sollten wir uns die Köpfe einschlagen? Ist irgendeines dieser fiktiven „Ichs“ oder „Sies“ gar ein schlechter Mensch?

Stellen wir uns noch einmal vor, wir wären in so ziemlich allen grundsätzlichen, unser Wertefundament berührenden Fragen einer Meinung, haben aber ein paar Differenzen darüber, wie wir mit Menschen umgehen, die diese Meinung nicht teilen (ich will mit denen reden, Sie nicht, was ich wiederum extrem dumm finde, was dann wiederum sie extrem dumm finden), und vielleicht haben wir auch diese gewissen Unterschiede im Erfahrungshintergrund, was nicht besonders störend wäre, würden wir uns die bei einem Bier oder Glas Wein erzählen.

Sollte das ausreichen, uns Injurien ausrichten zu lassen?

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Meine bescheidene Meinung ist: Nein. Aber genau das passiert täglich im linken Sektenwesen und neuerdings sogar in der alten Tante SPD. Thierse sagt was, irgendwer ist dagegen, Gesine Schwan grüßt falsch, es gibt Aufregung, Thierse ist dann wieder beleidigt, irgendwer entschuldigt sich wiederum unnötig, Thierse droht mit Parteiaustritt. Sektierertum prallt auf Ego und schon kloppt sich die Neigungsgruppe Weltverbesserung untereinander, der gemeinsame Gegner lacht sich schlapp und „Cicero“ freut sich über Interviews mit vielen Klicks.

Kinder, Kinder. Ich muss da immer an Sigmund Freuds grandiose Formulierung vom „Narzissmus der kleinen Differenz“ denken. Jene, die uns eigentlich ähnlich sind, bekämpfen wir besonders leidenschaftlich, da wir uns von denen ja mehr abgrenzen müssen als von jenen, bei denen sich die Abgrenzung von selbst versteht. Freud hatte da als Österreicher selbstredend ein besonderes Sensorium dafür, weil wir Ösis, ich darf das hier verraten, wir grenzen uns natürlich mit besonderem Nachdruck von den Bayern ab, aber nie von den Ostfriesen, weil uns ohnehin niemand für Ostfriesen hält. Aber mit Bayern verwechselt man uns schon mal. Dabei reden wir viel schöner.

Freud hat ja noch nicht einmal das Internet und die Social Media gekannt. Auf Social Media werden nahezu alle Menschen zu schlechten Karikaturen des Typus, den sie repräsentieren. Die Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes belohnt das auch noch, das führt dann zur Verstärkung, wie beim Hund von Herrn Pawlow.

Selbstreflexion, vielleicht sogar dieses „in sich hineinhören“, sich selbst in Frage stellen, das ist sowieso eine Tugend, oder besser, sie wäre es, hätte sie nicht den Nachteil, nicht sonderlich verbreitet zu sein. Gerade in der zunehmenden Gereiztheit der Pandemie. Wir haben Meinungen, aber sie sind immer mit Emotionen umgeben, und die Gefühle können schon das Kommando über unsere Meinungen übernehmen, zumal dann, wenn alle wegen der verschiedenen Belastungen, denen wir jetzt ausgesetzt sind, emotional vorwiegend mit sich selbst beschäftigt sind und damit vielleicht weniger Raum haben, die Emotionen anderer wahrzunehmen.

Der Satz „wir werden einander viel zu verzeihen haben“, ist zwar von Jens Spahn, aber dennoch einer der klügeren Sätze, die in den letzten Monaten gefallen sind.

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