Der Malocher und die Woken

Warum der Konflikt zwischen „Identitätspolitik“ und „Sozialpolitik für die normalen Leute“ konstruiert ist.

Neue Zürcher Zeitung, Mai 2021

Es gibt eine Obsession mit der „linken Identitätspolitik“, aber es zunächst einmal keine linke Obsession. Der rechte Nationalismus und der Neokonservativismus überschlagen sich mit ihrer Verdammung der angeblichen linken Identitätspolitik, ziehen allerlei Anecdotical Evidence und Gerüchte vom Hörensagen aus der Tasche.

Skurril: Die „linke Identitätspolitik“ spielt in den rechten Diskursen eine viel bedeutendere Rolle als in den linken Debatten.

In dieses Panorama des Seltsamen fügt sich ein, dass eigentlich nicht so klar ist, was „Identitätspolitik“ überhaupt sein soll. Es gibt ja keine Denkschule, die sich selbst so bezeichnet. Linke, die sich als Anhänger der „Identitätspolitik“ selbst definieren, sind in freier Wildbahn kaum noch gesichtet worden. Gewiss gibt es Leute, die, wie es neumodisch heißt, die „Wokeness“ hochhalten, also die Bedachtsam- und Aufmerksamkeit auf emotionale Verwundungen und Diskriminierungen von allerlei besonders Unterdrückten, aber das ist ja noch nicht Identitätspolitik. Dass es in diesen Milieus gelegentlich auch den Hang zu Übertreibungen gibt und paar Dinge, die nicht ganz zu Ende gedacht sind – geschenkt. Wann war das jemals anders?

„Identitätspolitik“ müsste vorgängige Identitäten besonders hochhalten, ja, sie müsste um den Begriff der „Identität“ selbst kreisen. Aber auch mit dieser Vokabel ist es so eine Sache. Einerseits ist es ohne Zweifel äußerst fragwürdig, würden die politischen Überzeugungen, Aktivitäten und das Selbstgefühl von Menschen alleine um einen angeborenen Identitätsbestandteil kreisen (etwa Hautfarbe, Ethnie, sexuelle Orientierung, Jüdischkeit, Muslimsein…). Gegen diese Gefahr haben sich schon vor bald 30 Jahren Linksliberale wie Leon Wieseltier gewendet, der damals einen Text mit dem genialen Titel „Against Identity“ schrieb, Amartya Sen hat das später in „Die Identitätsfalle“ wieder aufgenommen. Das Kaprizieren auf einen besonders hervorgehobenen Identitätsbestandteil ist eine Falle, da wir alle Mosaik-Identitäten haben. Ein schwuler, männlicher Techniker mit Herkunft aus der Mittelklasse Frankreichs hat eine Identität, aber sie wird weder durch den Identitätsbestandteil „schwul“ noch „männlich“ noch „Franzose“ hinreichend bestimmt. Kurzum: Nachdenken über Identität greift zu kurz, wenn sie einzelne Persönlichkeitsmerkmale überbewertet.

Zugleich aber sind sowohl personale als auch kollektive Identitäten eine Tatsache, und es gab nie eine politische Bewegung, bei der es in diesem Sinne nicht auch um „Identitätspolitik“ ging. In manchen Kreisen wird ist es beliebt geworden, darauf hinzuweisen, dass die politische Linke im allgemeinen und die Sozialisten im besonderen doch immer die „soziale Frage“ im Zentrum hatten. Dabei wird gerne vergessen, dass es bei den Kämpfen der arbeitenden Klassen nicht nur um Arbeitsplatzsicherheit, Rentensysteme, höhere Löhne und Höchstarbeitszeiten wie den Achtstundentag ging. All diese Bewegungen waren zugleich Kämpfe um Anerkennung, um Respekt. Die einfachen Leute wollten für ihre Leistungen gewürdigt werden, sie wollten Fairness, sie wollen nicht von oben herab behandelt und nicht kommandiert werden und sie wollten, dass ihre Werte zentral sind im Leben der Nation. Die arbeitenden Klassen wollten also „in ihrer Identität“ Achtung, mit allem, was da dazu gehört, etwa der Stolz auf die harte Arbeit, der Stolz, die eigene Familie ernähren zu können bis hin zu den kulturellen Stilen der Arbeiterklassen und – nach deren allmählichen Aufstieg – der unteren Mittelklassen. Fish&Chips in England oder die Biergärten in Deutschland waren ebenso Teil einer Arbeiterklassen-Kultur und -Identität wie das Fantum beim lokalen Fussballverein und der damit verbundene Lokalpatriotismus. Was sonst als Identitätspolitik ist das?

Kurzum: Identitätspolitik, zu eng definiert, ist eine Sackgasse, Identitätspolitik, grundlegender verstanden, ist einfach eine historische Tatsache und Selbstverständlichkeit.

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Zugleich waren die sozialistischen Bewegungen fast überall auch die Vorkämpfer von Demokratie und Menschenrechten, besonders dann, wenn sie sich, wie etwa in Deutschland und Österreich gegen autokratische Monarchien und Semi-Despotien behaupten mussten. Sie ruhten auf einem Wertefundament (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wir erinnern uns daran), die sich natürlich nie in der „sozialen Frage“ erschöpften. Die sozialistischen Bewegungen waren auch die Vorkämpfer der Frauenemanzipation. Sie waren Vorkämpfer einer gesellschaftlichen Liberalität, und wer das vergessen hat, soll sich nur einen Augenblick daran erinnern, wie Gustav Mahler, damals des Kaisers Hofoperndirektor, 1907 für Victor Adler, den Anführer der Sozialisten in den Wahlkampf zog. Zugleich mussten besonders statusniedrige Teile der Arbeiterklasse darum kämpfen, Teil der Bewegung zu sein, wie etwa die Iren in England oder das polnischstämmige Proletariat in Deutschland oder die „Böhmen“ in der Wiener Arbeiterbewegung. Wohin man blickt, man sieht Kämpfe um Anerkennung und um die Werte einer liberalen, diskriminierungsfreien Gesellschaft, die zugleich mit sozialen Anliegen vorgebracht wurden.

In der wirklichen Welt war das immer konfliktbeladene Allianzen. Sozialdemokratische Frauenrechtlerinnen hatten bei eher konventionellen Werten anhängenden Arbeitern oft einen schweren Stand. Die ethnischen Bruchlinien innerhalb der Bewegungen führten zu argen Spaltungen. Und innerhalb der sozialistischen und progressiven Parteien gab es immer Meinungsunterschiede, die auch Differenzen in lebenskulturellem Hintergrund waren. So what?

Wenn heute gerne behauptet wird, „die Linken“, „die Progressiven“, „die Sozialdemokraten“, wären in Anhänger der „Identitätspolitik“ und in Anhänger einer „sozialpolitischen Orientierung auf die normalen, einfachen Leute“ zerrissen, dann relativiert sich das also alleine schon, wenn man diese Geschichte vor Augen hat.

Es relativiert sich aber noch mehr, wenn man die branchentypischen feuilletonistischen Übertreibungen einmal beiseitelässt. Denn in der Wirklichkeit ist es mit der Zerrissenheit nicht weit her: Die einen sind der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten hätten ein Anrecht darauf, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden. Die anderen sind der „gegensätzlichen“ Meinung, alle diskriminierten Minderheiten hätten ein Recht darauf, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden, es müsse aber immer vermieden werden, in die Falle der Fragmentierung zu tappen. Die einen sehen die Forderungen besonders diskriminierter Minderheiten mit besonderer Sympathie, die anderen sind durchaus nicht völlig anderer Meinung, warnen aber, dass dabei die schwierige Bemühung um Allianzen und Mehrheiten nicht aus dem Auge verloren werden dürfe. Die einen sind für absolute Gleichberechtigung von Homosexuellen und Lesben und überdies für Respekt gegenüber Malochern am Bau und Angestellten im Büro, die anderen sind das ebenso, allenfalls gibt es Differenzen im Detail und eine andere Schwerpunktsetzung oder Wortwahl. Alle zusammen sind für Respekt vor der Lebensleistung einer Fabrikarbeiterin, die ihr Leben lang am Band gearbeitet hat, sowie für die Verbesserung der rechtlichen Lage von migrantischen Pflegekräften oder Paketausfahrern.

Wo sollen hier die fundamentalen Differenzen sein?

Der sprichwörtliche Malocher in der Fabrik am Land ist heute „Feminist“, denn in Zeiten der Zwei-Kinder-Familie ist er keineswegs der Meinung, dass Frauen hinter den Herd gehören – er wünscht sich nämlich für seine Tochter gleiche Chancen.

Ihn stört auch nicht wirklich an progressiven Parteien, wenn sie die Anliegen besonders diskriminierter Bevölkerungsgruppen vertreten – ihn stört, wenn seine Anliegen nicht mehr effektiv vertreten werden, das Anliegen nach einem sicheren Boden unter den Füßen, einem fairen Anteil am Wohlstand und wenn ihm Respekt versagt wird.

Selbstverständlich haben Linke die Anliegen jener zu vertreten, denen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Herkommens, der Abwertung die sie erfahren, dauernd mit Respektlosigkeit begegnet wird, die es deshalb doppelt und dreifach schwer haben und oft in Statusarmut, Prekarität und neuer Proletarisierung gefangen sind. Und genauso haben Linke die Anliegen der autochtonen weißen Arbeiterklassen zum vertreten, denen die Abstiegsangst in den Knochen steckt und die das berechtigte Gefühl haben, dass ihnen niemand zuhört, dass sich für sie niemand mehr interessiert. Eine absurde Annahme ist der Glaube, dass sich diese Dinge gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Sie gehören zusammen. Eine Linke, die sie nicht zusammen bringt, ist ihren Namen nicht wert. Karl Marx formulierte, es gelte „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Dieser Humanismus ist der Kern der Linken.

Marginale Auffassungsunterschiede sind nicht das Problem. Das Problem ist die toxische Leidenschaft, Mitstreiter wegen marginaler Meinungsverschiedenheiten zu Gegnern oder gar Feinden zu erklären.

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