Eine Ära der Konterrevolution

Von Putin bis zum US-Höchstgericht: Radikalkonservative Freiheitsfeinde machen sich daran, die Uhren zurückzudrehen.

taz, Juli 2022

Abendnachrichten im Fernsehen gleichen mehr und mehr einem Horrorfilm. Aber bei Dracula, Zombie und Co. ist es ein flüchtiger Schauer, weil Fiktion. News-Shows dagegen sind heute eine Direktübertragung vom Weltuntergang: Krieg in der Ukraine, Liveschaltung zum Massaker des Tages.

Danach wird schnell zur Innenpolitik gewechselt: Im Herbst kann das Gas ausgehen. Möglicherweise bleiben die Wohnungen kalt und die Fabriken werden abgestellt.

Nächste Schaltung: Italien. Da trocknen die Flüsse aus, die Behörden können sich gerade noch aussuchen, ob sie die Stromproduktion stoppen oder doch besser die Bewässerung der Landwirtschaft. Womit mir schon bei der nächsten Krise wären: Putins Krieg provoziert eine globale Hungerkatastrophe.

Trockenheit, Hitzewellen schon im Juni, Wassermangel, und ganze Wochen, während derer es in den Straßenschluchten der Städte kaum mehr auszuhalten ist.

All das macht etwas mit uns. Angst macht sich breit. Ein Geist der Dystopie legt sich über alles. Aber das sind nicht einmal die korrekten Begriffe. Tief in die Psyche schleicht sich Panik und Gereiztheit ein, plus: Hilflosigkeit. Diese Angst lähmt, gerade in eine Zeit, in der man eigentlich handeln müsste.

Scheißzeit.

All das ist teils direkt, teil mittelbar verbunden mit einer Ära der globalen Konterrevolution, in der rechtsextreme Bewegungen und konservative Revolutionäre alle Errungenschaften zurückdrängen wollen, die in den vergangenen fünfzig, sechzig Jahren erkämpft worden sind. Wir haben uns für diese neue Form der Reaktion alle möglichen Begriffe ausgedacht – Regression, populistische Revolte, was auch immer – aber im Grunde ist es eine klassische, waschechte Gegenrevolution, die auch nicht einfach so geschieht, sondern von Konterrevolutionären vorangetrieben wird. Diese Begriffe aus dem Geschichtsbuch wirken ja manchmal etwas angestaubt, aber die Flucht in neue Begrifflichkeiten ist oft auch eine ins Wolkenkuckucksheim.

Konterrevolution also.

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Die vergangenen fünfzig, sechzig Jahre haben global durchaus widersprüchliche, ungleichzeitige Entwicklungen gebracht, mit allen Ambiguitäten: das Wachstum der Ungleichheiten in den reichen Ländern gehört genauso dazu, wie die Entwicklung von relativ wohlhabenden Mittelschichten in einst armen Ländern, der ehemaligen Dritten Welt. Es gibt neue Ungerechtigkeiten und ökonomischen Stress, zugleich aber auch den Aufstieg von Milliarden Menschen aus bitterer Armut in neue Wohlstandslagen. Das ist die ambivalente, ökonomische Seite des neoliberalen Kapitalismus.

Im Westen hatten wir seit den sechziger Jahren die Aufstiegskulturen der sozialen Wohlfahrtsstaaten, aber auch massive Freiheitsgewinne. Konformitätsdruck löste sich auf, einfach, weil die Lebenskulturen im Alltag viel heterogener wurden, aber auch weil sich ein Liberalismus des „Leben und leben lassen“ durchsetzte. Diversität ist in jeder möglichen Hinsicht heute viel akzeptierter als noch vor zwanzig Jahren. Frauenemanzipation, zunehmend gleiche Lebenschancen gehören zu diesen Fortschritten, einigermaßen liberale Abtreibungsregelungen, und auch ein Konsens darüber, dass bestimmte „Gewohnheiten“, die lange als normal angesehen wurden, einfach nicht mehr gehen – diese ganze MeToo-Kiste, salopp gesagt. Dazu: Einführung von gleichgeschlechtlicher Ehe und Partnerschaften (vor 15 Jahren im Grunde noch undenkbar!), und eine selbstverständlichere Akzeptanz von ethnischer Heterogenität. Natürlich gibt es noch unendlich viel Diskriminierung und Rassismus, aber man muss nur Wertestudien des Jahres 1990 mit jenen aus jüngster Zeit vergleichen, dann sieht man – da liegen überall Welten dazwischen. In Ost- und Mitteleuropa setzten sich nach 1989 stabile (manchmal auch labile) Demokratien durch. Weite Teile der Welt, nicht zuletzt Lateinamerika, erlebten eine regelrechte Woge der Demokratisierung, gesellschaftlicher Liberalisierung und Modernisierung.

Linke neigen ja dazu, diese Fortschritte zu übersehen, einige wegen einer gewissen stalinoid-autoritären Schlagseite („ist doch nur bürgerliche Demokratie“), häufiger aber auch wegen einer kritischen Grundmentalität. Da man stets – und mit gutem Recht – den Status Quo kritisiert, übersieht man gelegentlich, dass es schon genug gibt, was auch wert ist, verteidigt zu werden.

Es gibt politische Akteure, die fest entschlossen sind, die Uhr zurückzudrehen. Wladimir Putin ist mit seinem Hohn über „Gayropa“ und den dekadenten Westen, mit seinem Bild von „echten Männern“ und „echten Frauen“ und seinem Prinzip der gefakten Demokratie zum Paten des rechten Extremismus in aller Welt geworden wie hierzulande der „Alternative für Putin“. Dazu gibt es ein paar doofe Linke, die ihn zum Widerstandskämpfer gegen westlichen Neo-Kolonialismus phantasieren. Im US-Höchstgericht sitzen seine Brüder im Geiste, die dort von mehreren Präsidenten mit teuflischer Vorausschau platziert worden sind. Entschiedene Konterrevolutionäre, die gerade das Recht auf Abtreibung aushebelten. Die konservative Partei hat sich einem kriminellen Putschisten ausgeliefert, der immer noch tun kann, was er will (in einer wehrhaften Demokratie wäre er längst im Knast). Das sind Radikale, die sich nicht mit dem behutsamen, konservativen Bremsen des Wandels begnügen. Sie wollen die Uhr der Welt zurückdrehen, auch mit Gewalt. Orban, Salvini, Kickl, auch Sebastian Kurz, sie alle sind Teil dieser globalen konterrevolutionären Bewegung, so wie milliardenschwere Technofaschisten wie Elon Musk und Peter Thiel.

Viel zu lange war im Grunde die weitverbreite Deutung, dass diese Regressionen hilflose Reaktionen auf einen säkularen Fortschritt seien, der am Ende nicht aufhaltbar ist. So etwas wie Schmerzen des Übergangs, Geburtswehen, die aber die Richtung der Entwicklung nicht in Frage stellen. Ärgerliche, aber zweitrangige Reaktionen auf den mächtigen Strom der Geschichte.

Das war falsch. Die globale Konterrevolution marschiert. Breite Allianzen müssen sich ihr entgegenstellen.

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