Der Polarisierungs-Mythos

Bei der Bundespräsidentenwahl sind zwei nachdenkliche Kandidaten angetreten. Sie haben zusammen 66 Prozent erreicht. Das ist die Botschaft der Wähler.

Die beiden Wahlen des Herbstes sind geschlagen, und jetzt grübeln Analytiker, was denn eigentlich die Botschaft der Wähler gewesen wäre und ob es da auch ein Wetterleuchten für künftige Wahlen gegeben hat. Bei den Landtagswahlen in Tirol verlor die ÖVP stark, erlitt aber kein vollkommenes Debakel. Parteien wie die FPÖ und SPÖ gewannen kaum dazu, die meisten Gewinne gab es noch für die Liste Fritz, eine soziale, anständige und moderate Protestpartei. Das Fazit: Wenn die Leute mit der großen Regierungspartei unzufrieden sind, wählen sie nicht automatisch die Opposition. Sie müssen schon auch der Meinung sein, dass die Opposition es besser machen würde.

Bei der Bundespräsidentenwahl siegte der Amtsinhaber Alexander van der Bellen mit beinahe 57 Prozent, also überraschend deutlich. Er ist ehemaliger grüner Parteichef, ein nachdenklicher Linksliberaler, auch wenn ihm viele nicht zu Unrecht vorwarfen, sich mit der weit nach rechts gerutschten ÖVP zu sehr arrangiert zu haben. Daneben gab es noch einen anderen linksliberalen Kandidaten, Dominik Wlazny, der sich in den wesentlichen Meinungen und Haltungen von VdB nicht allzu sehr unterschied, dafür sehr stark im Stil. Vor allem war er ein Kontrastprogramm im Auftreten, Punkrocker, zerrissene Jeans, anfangs noch immer Lederjacke. Er kultivierte sein Image als „erfrischend anders“, „sachlich“ und „sympathisch“ und im Grunde wurde er primär dafür gewählt. Bundesweit wurde er Dritter, in Wien hängte der Kandidat der Bierpartei sogar den Kandidaten der FPÖ ab. Es stimmten rund 66 Prozent der Wähler für einen „linksliberalen“ Kandidaten, die Rechts- und Ultrarechts-Kandidaten, die mit scharfen Sprüchen und dem ewigen Dagegensein punkten wollten, blieben auf Abstand.

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Die Bevölkerung ist bei weitem nicht so polarisiert, wie man dauernd tut. Sogar 25 Prozent der Wähler von Norbert Hofer haben diesmal VdB gewählt. Also gar so „polarisiert“ können die nicht sein.

Wir haben uns in unseren erhitzten politischen Diskussionen, in diesem – manchmal durchaus unterhaltsamen – Gegeneinander von Links gegen Rechts, das sich durch alle Fragen durchzieht, die Annahme angewöhnt, dass unsere Gesellschaft zerrissen ist. Das trifft auch für die Ränder der lauten Schreihälse auf. Aber dazwischen ist die große Mehrheit, die das Gebrüll nervt, und deswegen gar nicht wahrgenommen wird. Und das ist erstens die breite Mehrheit und zweitens sind die Leute sehr viel vernünftiger, als wir glauben.

Umfragen haben ergeben, dass 40 Prozent ziemlich und 40 Prozent stark unzufrieden sind mit „der Politik“, womit wohl gemeint ist, unzufrieden mit der Regierung, aber auch unzufrieden mit der Opposition. Man wünscht sich eine Regierung, die mehr zuwege brächte, aber natürlich wissen die Leute auch, dass die Regierung nicht aus lauter Vollidioten besteht, die alles falsch machen, wie ein Maulheld wie Herbert Kickl trommelt, der noch nie etwas zuwege gebracht hat. Die Wähler wissen natürlich, dass wir in einer hoch riskanten und hoch komplexen Zeit leben, in der niemand eine perfekte Lösung aus einem Guss hätte. Die Versäumnisse beim Ausstieg aus der Gas- und Öl-Wirtschaft kann niemand in sechs Monaten korrigieren, und auch die fatale Liberalisierung der Energiemärkte ändert man nicht über Nacht. Bei der Frage des Krieges ist es ähnlich: Einem imperialen Despoten wie Putin muss man entgegentreten, zugleich aber mit Besonnenheit, um unnötige Eskalation zu vermeiden. Welches Thema man nimmt: Es braucht immer heikle Balanceakte, die einfache Lösung aus einem Guss gibt es nicht.

Die Menschen sind klüger als unsere überhitzten Politik-Debatten.

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