Der „angewandte Surrealismus“ des Milo Rau

Kampf der Saturiertheit: Der wohl verwegendste Theatermacher der Gegenwart übernimmt die Wiener Festwochen.

Die Bestellung Milo Raus zum künstlerischen Leiter der Wiener Festwochen ist die beherzteste und spannendste kulturpolitische Entscheidung seit langem, womöglich seit den mitreißenden Zeiten einer Ursula Pasterk. Ich will auch gleich sagen, warum.

Milo Rau ist eine Kraftnatur, der die Dinge, die er sich vornimmt, auf den Boden bringt – oft genug Projekte, die man eigentlich nicht für möglich hält. Dieses Energetische ist auch ein Element, das man nicht ignorieren sollte, denn was bringt der innovativste Kopf, wenn er von den Mechanismen der Beharrung zerrieben wird;

zweitens ist Milo Rau ein radikaler politischer Künstler, der auch eine diebische Freude daran hat, wenn seine Produktionen aufregen, was nicht heißt, dass er den Skandal sucht – explizit sagt er sogar, dass die Strategie der Skandalisierung eine Sackgasse ist, weil der Kunstskandal selbst leicht zur Berechnung und damit zum Üblichen, Erwartbaren werden kann –, sondern dass er diese Extrameter geht, die notwendig sind, damit eine künstlerische Produktion irritiert, die Gewohnheiten verrückt, Debatten auslöst, auch weh tut und über die Kulturszene hinaus strahlt;

drittens ist er gerade erst 46 Jahre alt geworden, und damit nicht mehr total jung, aber auch noch nicht alt und in Bahnen der Routine, er eilt seit gut 14 Jahren von Triumph zu Triumph und findet immer neue Formensprachen und Darstellungsweisen. Er ist, im besten Sinne, noch nicht „bewährt“;

viertens braucht die Kunst generell und braucht die Wiener Kulturszene in besonderem einen neuen Schwung, dass die Dinge durcheinander geraten, dass etwas geschieht, das neue Spuren in die Zukunft hinterlässt. Was gestern innovativ war, ist heute ja überholt und eine Gewohnheitssache, und wenn man sich erinnert, wie vor 40 Jahren die gegenkulturelle Öffnung der Festwochen, wie vor 35 Jahren auch das Burgtheater von Claus Peymann, das künstlerische Milieu rund um Jelinek usw., wie all das und noch viel mehr eine Brutstätte des Neuen etabliert hat, dann muss man zugleich auch kritisch konstatieren: da ist es in den vergangenen Jahren etwas lahm geworden. Niemand soll das übrigens als Vorwurf verstehen: Die Verhältnisse haben sich verändert, die alten Schlachten sind geschlagen, von dissidenten Haltungen und Bühnenprovokationen lässt sich niemand mehr so leicht aus der Ruhe bringen (weshalb das saturierte Publikum, das früher buhte, heute applaudiert, und die „Kunstfalle“ – wie Heiner Müller das nannte – daher zuschnappt).

Kurzum: Die Stadt braucht mal wieder jemanden, der tiefer bohrt, der auch die Stadt prägt, ihr einen Stempel aufdrückt, einen Patron der allernächsten Generation, deren Biss und Beginnertaumel, und Milo Rau ist das zuzutrauen, auch weil er als Kommunikator und Genie des Fädenspinnens die Fähigkeit besitzt, gute Leute um sich zu scharen, die begeistert ein bisschen mehr wollen, als das, was alle wollen.

Wir kennen uns persönlich seit rund 14 Jahren und haben auch einige gemeinsame Arbeiten hinter uns, von daher habe ich ein wenig Einblick und kann das mit gutem Gewissen sagen. In meinem Buch „Das große Beginnergefühl“ habe ich ihm ein halbes Kapitel gewidmet, das seine Arbeiten und sein Denken vorstellt. Ein paar Takte daraus finden Sie weiter unten.

Vor zwei Jahren hatte ich Milo Rau virtuell im Online-Talk im Kreisky Forum zu Gast, wir sprachen über „Kunst. Kultur. Revolution“, das knapp eineinhalbstündige Gespräch können Sie hier nachsehen, wenn sie mögen.

ALL ART IS PROPAGANDA
„Als einzige Triggerwarnung schlage ich deshalb vor: Das ist Kunst, es wird verwirrend.“

Und hier einige Passagen aus meinem Buch „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution“, das vergangenes Jahr im Suhrkamp-Verlag erschienen ist:

Milo Rau führt die Verhältnisse nicht vor, er bekämpft sie. Er wolle den »Kampf annehmen, wo man ihn findet, den Gegner treffen, wo man ihn treffen kann«, formuliert er. »Es hat mich immer beschäftigt, wie man heute im medialen Zeitalter Einstellungen verändern kann.« Als Rau vor einigen Jahren die Intendanz des Theaters im belgischen Gent antrat, bekannten er und das von ihm geführte Haus in ihrem »Genter Manifest«: »Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.«

Der 1977 geborene Milo Rau ist der vielleicht spannendste europäische Theatermacher der Gegenwart. Alle Jahre wird er von Branchenmagazinen als »Regisseur des Jahres« prämiert oder seine Arbeiten zur »Inszenierung des Jahres« gewählt. Jüngst hat er mit einer Kinoproduktion für Aufsehen gesorgt. Auf Einladung von Matera, der Europäischen Kulturhauptstadt 2019, drehte er einen Jesus-Film, Das Neue Evangelium. Dabei arbeitete er mit lokalen Anwohnern, berühmten Schauspielern und mit Migranten, die als rechtlose Arbeiter in der süditalienischen Agrikulturindustrie ausgebeutet werden. Yvan Sagnet, der Jesus-Darsteller, ist einer dieser entrechteten Einwanderer aus Afrika. Sagnet, Aktivist aus dem Kamerun, setzt sich für die Rechte von Migranten und Geflüchteten ein. Spielfilmelemente – die Passionsgeschichte –, sind mit dokumentarischen Elementen verwoben. Der Evangelist Rau verkündet die Botschaft, dass mit einer Revolte der Würde der Mensch aus der Knechtschaft befreit werden kann.

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Milo Rau und seine Truppe – mit seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet er seit über fünfzehn Jahren zusammen – nutzen die unterschiedlichsten Inszenierungstechniken. Eines seiner früheren Stücke war Hate Radio (2011/12) über eine Radiostation während des Genozids in Ruanda 1994. Die Radiostation schickte Hassparolen über den Äther, die zum Völkermord der Hutus an den Tutsis beitrugen. Diese Arbeit war noch vergleichsweise nahe am konventionellen Drama. Das Stück zeigt, dass der Genozid kein atavistischer Gewaltexzess war, sondern direkte Folge von Demokratisierung und Modernisierung. Mit der Demokratisierung hatte die Mehrheit eine Stimme – und erhob sie für schreckliche Ziele. Mit der Demokratisierung entstanden freie Medien, die Radiostation war modern, kopierte westliche Stile. Die Verhetzung war eine Folge des Fortschritts. Die Mehrheit der Schauspieler, mit denen Rau das Stück erarbeitete, waren Überlebende. Wie eine Werbekampagne lässt der Sender den Genozid monatelang vorbereiten, begleitet von lässigen Grooves. Das Stück wurde nicht nur mit Überlebenden erarbeitet, sondern auch in Ruanda aufgeführt.

Andere Formate, die Milo Rau bekannt machten, waren »Reenactments« wie die Moskauer Prozesse, die Zürcher Prozesse (beide 2013) oder auch Das Kongo Tribunal (2015). Inszenierungen insofern, als sie theatrale Formen schufen wie etwa die fiktionale Situation einer Gerichtsverhandlung mit klaren Regeln, an die sich die Akteure zu halten hatten wie die Schauspieler an ihren Text. Aber sie waren doch offen, es war unklar, was geschehen würde. Es waren ja reale Akteure geladen, als Zeugen, es waren echte Richter zugegen, die die Themen von allen Seiten beleuchteten, die rassistischen Bildsprachen rechtspopulistischer Medien, die Ausbeutung Afrikas, die Verfolgung kritischer Künstlerinnen in Moskau. Vor dem bzw. im Kongo-Tribunal wurde gegen Ausbeutung durch internationale Konzerne verhandelt, aber auch gegen die korrupten Machthaber. »Das Kongo-Tribunal hat etwas real gemacht, was vorher nicht einmal in den verrücktesten Träumen vorstellbar war«, erzählt Rau. »Der Rebell stand hier wirklich dem Minister gegenüber, der Schürfer dem Konzernmanager, und hinter dem Richtertisch saßen Anwälte aus dem Kongo und Den Haag.« Am Ende traten sogar zwei Minister in Kinshasa zurück.

Die Moskauer Prozesse rollten den Fall Pussy Riot neu auf, bei den Zürcher Prozessen wurde gegen die Zeitschrift Weltwoche wegen ihrer rassistischen Berichterstattung, ihrer Bildsprache, ihrer Cover verhandelt. Sind diese durch die Meinungsfreiheit gedeckt oder als Verhetzung zu bestrafen? Welche Menschenrechtsverletzung – etwa der Verstoß gegen Diskriminierungsverbote – ist durch ein anderes Menschenrecht (die Meinungsfreiheit) gedeckt? Und wenn: Ist das richtig so? Erneut werden Zeugen aufgeboten, Ankläger und Verteidiger treten auf, Betroffene werden gehört, ein Gerichtspräsidium hat die Aufsicht, eine Jury aus Geschworenen entscheidet. Alles reale Personen, die während der mehrtägigen Inszenierungen spontan agieren, nichts ist gescriptet, alles ist täuschende Wirklichkeit und dennoch »nur Theater«, wäre man beinahe versucht zu sagen, aber »nur Theater« ist es nicht. Es ist Theater, aber nicht »nur Theater«. Wenn eine solche Versuchsanordnung beginnt, weiß niemand, wie das Experiment ausgeht. Rau spricht von einer »sozialen Plastik« (ein Begriff, der auf Joseph Beuys zurückgeht) oder »angewandtem Surrealismus«. Diese theatralen Installationen bewirken etwas, aber man weiß vorher nie genau, was.

»Aus den vielen interessanten Aspekten«, schreibt Rau, die man an diesen Prozess-Projekten beobachten könne, »möchte ich zwei herausheben. Erstens die Tatsache, dass es gelang, politische Feinde, die sich sonst nie live begegnen, die immer nur übereinander, nie aber miteinander sprechen, durch die agonale Form des Gerichts auf dieselbe Bank zu bringen«, und zweitens, dass das, was medial als »Meinungsunterschied« verharmlost oder zum Teil der Entertainmentkultur gemacht wird, auf seinen Ernst und die politische Realität zurückgeführt wird.

(…) Rau ist eine Kommunikationsmaschine und eine Kraftnatur, ein Gedankengenie und ein Ideenberserker, der sich an keine Regeln hält, sich durch keine Unmöglichkeiten entmutigen lässt. Dauernd ist er auf Reisen, er inszeniert am Rand von Kriegsgebieten, wie unlängst seine Orestie in der kurz zuvor befreiten Stadt Mossul im Irak. Schon gar nicht lässt er sich von Moden, den Konventionen der Kunstwelt und den Regeln des Feldes bremsen. Das Theater, das er betreiben will, nennt er »globalen Realismus«, dies heiße aber nicht, dass Reales abgebildet wird. »Realismus heißt, dass die Abbildung selbst real wird.« Die Idee von Das Kongo Tribunal bestand darin, »mit einer symbolischen Handlung eine Institution in Arbeit zu zeigen, die es nicht gibt, die es aber geben sollte.«

Das Ziel des »globalen Realismus« ist es, so Rau,

das Zeitalter der Skandalisierung zu verlassen, in dem wir Künstler sehr lange festsaßen. An die Stelle der Kritik der Gegenwart tritt der symbolische Entwurf des Zukünftigen […]. Die postmoderne Vernunft gefiel sich sechzig Jahre darin, Institutionen zu hinterfragen, sie zu dekonstruieren. Ich glaube aber, das reicht nicht mehr. Man muss außerhalb der Herrschaftsinstitutionen neue, utopische Institutionen vorbereiten.

Rau ist ein Propagandist. Er scheut sich nicht vor dem Begriff »Propagandakunst«. Der Propagandist, wie er ihn versteht, versucht nicht, auf die Wirklichkeit einzuwirken, »indem er Fakten erfindet oder unterschlägt«, sondern indem er sie arrangiert oder ein Spannungsfeld schafft, in der ihre »skandalöse Qualität« sichtbar wird. Diese skandalöse Situation soll in ihrer historischen Gemachtheit gezeigt werden, und damit in »ihrer demokratischen Veränderbarkeit«.

Fröhlich ignoriert Rau gewisse modische Verzärteltheiten, die im Kunstbetrieb heute zum guten Ton gehören, und die zu achten angehalten ist, wer nicht in Teufels Küche geraten will. So schlägt er als »einzige Triggerwarnung« für seine Arbeiten vor: »Das ist Kunst, es wird verwirrend.« Für alle Aspekte postkolonialer Revolten hat er Sympathie, in seinen Produktionen erhalten jene das Wort, die ansonsten zum Schweigen verurteilt sind, aber warum der mittelalte weiße Mann Milo Rau deswegen die Klappe halten sollte, mag ihm beim besten Willen nicht einleuchten. Mehrheiten gewinne man nur, wenn man »über seinen Schatten springt«; mit wem man diskutiere, sei eine »strategische Frage«, keine der politischen Korrektheit. Ambivalenzen sind auszuhalten, auch Widersprüche. Ist es Paternalismus oder Neokolonialismus, nach Afrika oder in den Nahen Osten zu gehen, um in Kriegs- und Elendsgebieten mit Opfern zu arbeiten? Auch diese Frage stellt sich Rau: »Was tue ich eigentlich, wenn ich Menschen auf die Bühne bitte, die vom Schrecken erzählen, den sie erlebt und überlebt haben?« Auf der sicheren Seite wäre der, der es unterließe. Aber es wäre vor allem eine Feigheit, die nichts bewirkt. »Die große Frage lautet also: Wie kann Kunst uns Mitleid, Einfühlung, Verstehen im hermeneutischen Sinn lehren, und das heißt im Theater: in so realer Weise zeigen, dass wir als Zuschauer selbst in diesen Verstehensprozess hineingezogen werden.« Wie macht man Propaganda, ohne den Zuschauer zu bevormunden? Wie kann man den »Moralismus und Alarmismus in Rente schicken«, utopische Institutionen im Theater bauen, Situationen schaffen, die Folgen haben? Fragt man Milo Rau nach all dem, dann lacht er meist, sagt »Ja, genau«, und wird von assoziativen Gedankenstrom gleich wieder anderswohin geweht. Er ist für die kleinen Schritte, hat aber vielleicht auch Riesenangst vor den kleinen Schritten. »In der Welt, wie sie ist, sind wir Europäer die Arschlöcher, und zwar durch Geburt. Das ist höchst unerfreulich, aber leider ein Fakt.« Einer seiner Lieblingskünstler ist und bleibt Pier Paolo Pasolini, dessen Formel Rau gerne mag: »Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.«

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