Die Faschisten ernst nehmen

Diagnosen wie „Rechtspopulismus“ werden den Mechanismen der Selbstradikalisierung und des extremistischen Überbietungswettbewerbs nicht gerecht.

Sollen wir den politischen Zustand unserer Öffentlichkeiten und politischen Systeme beschreiben, dann rauchen schnell die Köpfe und so manche flüchten sich flott ins Ungefähre. Die westlichen Gesellschaften – nicht nur diese, aber diese eben auch – sind polarisiert, was aber auch schon eine etwas unterkomplexe Beschreibung ist. Denn eine Polarisierungsdiagnose unterstellt ja zumindest eine Akzentuierung politischer „Pole“, während in der Realität der Mainstream Links der Mitte heute weitgehend moderat ist, während sich zugleich der Mainstream Rechts der Mitte radikalisiert. „Radikale sozialistische Regierungen“ hat man in entwickelten Demokratien ja zuletzt eher selten gesehen, radikale rechte Regierungen eher häufiger. Die Polarisierung geht also weitgehend von einer Seite aus.

Wir behelfen uns auch gerne mit verschämten Hilfsvokabeln wie „ultrarechts“ – im Englischen gerne mit Far-Right oder Hard-Right –, hierzulande auch bevorzugt mit „harte Rechte“ oder gar dem sanften „Rechtspopulismus“. Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, wenn damit die Realität nur einigermaßen akkurat beschrieben würde.

Mit dem Aufstieg von extrem rechten Parteien oder der Verwandlung ehemals weitgehend moderater Rechtsparteien in radikale Rechtsparteien (das beste Beispiel sind die US-amerikanischen Republikaner) zieht zunächst eine Re-Ideologisierung politischer Diskurse ein, aber auch eine Wut-Bewirtschaftung, die das Zornpotential in einer Gesellschaft hebt, so dass etwa amorphe Unzufriedenheit in rabiates Dagegensein, und das Dagegensein dann in Gewaltbereitschaft verwandelt wird, bis selbst Staatsstreiche nicht mehr als No-Go angesehen werden.

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Subkutan, gewissermaßen als Beiklang, schwingt bei der „Rechtspopulismus“-Diagnose die stillschweigende Hoffnung mit, dass dessen Protagonisten und Protagonistinnen es am Ende doch nicht völlig ernst meinen, sie die rhetorische Verschärfung nur als Mittel zum Aufstieg benützen, schlussendlich aber doch auch pragmatisch den Usancen der liberalen Demokratie verbunden bleiben würden – dass sie beispielsweise moderater würden, sobald sie eine gewisse Stärke und damit Bedeutung (und Verantwortung) erlangen würden, sei es als gewichtige Opposition oder gar als Regierungsparteien. Quasi: Sie reden halt dem Volk nach dem Maul, weil das gut ankommt.

Unglücklicherweise ist diese Annahme mit der Wirklichkeit in vielen Fällen kaum in Übereinstimmung zu bringen. Trotz oder wegen ihres Erfolges – das sei hier dahin gestellt – schrauben sich die betreffenden Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen meist in eine Spirale der Selbstradikalisierung hinein. Die MAGA-Irren wurden durch die Präsidentschaft von Donald Trump nicht vernünftiger, das Gegenteil war der Fall. Auch die FPÖ in Österreich wird immer radikaler, sodass ein Jörg Haider etwa – vor 20 Jahren noch der Posterboy der radikalen Rechten – im Vergleich mit den heutigen Protagonisten wie ein besonnener liberaler Softie wirkt. Von Viktor Orban bis zur AfD, von Meloni bis zu den Schwedendemokraten, wo immer wir hinsehen, wir sehen ein ähnliches Bild, das diese Diagnose unerfreulicherweise mehrheitlich stützt.

Dennoch drücken wir uns um das F-Wort, den Faschismus-Begriff herum. Empört weisen die neuen Ultrarechten meist das Attribut „Faschismus“ zurück, schließlich gäbe es ja keinen Terror gegen Andersdenkende, keine endemische Gesetzlosigkeit und Straßengewalt, keine Konzentrationslager und keinen Holocaust. Gegner der Rechtsextremisten machen um den Faschismus-Begriff einen großen Bogen, aus dem intuitiven Wissen heraus, die Rechtsextremen würden es nur als weiteren Beleg dafür nehmen, dass „das Establishment“ mit gemeinen und unlauteren Mitteln ihre Legitimität untergraben und die Meinungen ihrer Wähler „ausgrenzen“ wollte. Gerne wird auch angemerkt, wenn alle, deren Urteile man nicht teilt, gleich zu Faschisten erklärt werden, dann ist jeder – und zugleich niemand – ein Faschist. Die Überzeugungskraft solcher Einwende hält sich freilich in Grenzen, da ja niemand „jeden“ zum Faschisten erklärt. „Jeden“ zum Faschisten erklären bekanntlich ja nicht einmal die ärgsten Spinner, etwa die, für die schnell jemand ein Rassist ist, der nicht an den richtigen Stellen im Wort ein * macht.

Natürlich ist klar: Nirgendwo, wo die neuen harten Ultrarechten, die sich selbst in eine Spirale der stetigen Selbstradikalisierung hineinschrauben, an Gewicht gewonnen haben, ist der „Faschismus“ ausgebrochen – im Sinne eines regelrechten faschistischen Terrorsystems.

Es bleibt freilich ein Problem: Auch die historischen „Faschisten“ waren nicht erst Faschisten, als sie die vollständige faschistische Herrschaft etabliert hatten. Sie waren es vorher schon. Sie bildeten erstens einen faschistischen Pol in demokratischen Gesellschaften, unterminierten die Funktionstüchtigkeit demokratischer Institutionen, mobilisierten mal die Straßen, verstellten sich anderntags wieder wie der böse Wolf mit Omas Schlafmütze im Rotkäpchen-Märchen, um die klassischen autoritären Konservativen für sich einzunehmen, und so weiter. Also so ziemlich dasselbe, was ihre Wiedergänger heute tun. Und sie etablierten die faschistische Herrschaftsform auch nicht mit einem Schlag. Selbst die Nazis entrechteten beispielsweise Juden juristisch und markierten sie als Menschen zweiter Klasse mit verwerflichen Charaktereigenschaften, bis die Stimmung für gewaltsame Pogrome bereit war. Das Novemberpogrom fand nicht 1923 statt und auch nicht 1933, sondern 1938. Dazwischen ging es aber eben 15 Jahre lang auf die schiefe Bahn.

Ob Faschisten oder „nur“ Ultrarechte, nirgendwo haben sie auch eine echte gesellschaftliche Mehrheit hinter sich. Das hatten aber auch die historischen Faschisten nie, bevor sie die politische Macht gefestigt hatten und auf der einen Seite Widerspruch unterdrückt und auf der anderen Seite mit Propaganda ihre Nationen nachhaltig bearbeitet hatten. Auch frühere Gesellschaften waren wohl generell weniger homogen, als sie uns im Rückblick oft erscheinen. Und heutige Gesellschaften sind lebenskulturell, in Hinblick auf soziale Milieus, auf politische und weltanschauliche Mentalitäten, ethnisch sowieso wohl noch einmal weit heterogener als die Gesellschaften der 1920er- und 1930er Jahre. Dazu tragen nicht nur politische und soziale Liberalisierungsprozesse bei, sondern generell der Prozess gesellschaftlicher Differenzierung, den wir so salopp mit dem Begriff der „Modernisierung“ charakterisieren.

Aber diese Rechte bestimmt oft die Diskurse, während ihre Gegner defensiv bleiben. Man kann dafür das Unvermögen der Linken, Progressiven und Liberalen verantwortlich machen – aber es gibt dafür wohl auch tiefere Gründe. Die tieferen Gründe haben mit oftmals analysierten Erscheinungen zu tun, etwa dem Neoliberalismus oder auch der Entfremdung der klassischen Arbeiterparteien von ihren tragenden Milieus und dem Gefühl der arbeitenden Klassen, nicht mehr repräsentiert zu sein. Aber jetzt kommt noch etwas dazu: tiefe Angst, Angst vor globaler Instabilität, Angst vor Abstieg und Wohlstandsverlust, eine allgemeine politisch-depressive Grundstimmung. Es gibt wenig Optimismus und viel Pessimismus. Fatalistischer Pessimismus ist der Treibstoff aggressiver Engherzigkeit. Wer Angst vor dem Abstieg und ökonomischen Verlusten hat, will das, was er hat, verteidigen. Am liebsten hätte er Mauern um sich rum, die ihm den Unbill der Welt vom Leib halten.

„Heute ist der Faschismus nicht expansiv, sondern kontraktiv“, schreibt Georg Diez in der Berliner „tageszeitung“. Kia Vahland formuliert in der „Süddeutschen Zeitung“, der Faschismus sei nicht nur eine Herrschaftsform, „sondern auch eine Haltung. Und diese feiert leider gerade in verschiedenen Formationen und politischen Systemen ihre Wiederkehr“.

Der historische Faschismus war als Herrschaftsform reaktionär, sowohl in der Praxis als auch in den explizit vorgetragenen Zielen. Er war explizit gegen die Demokratie und den Parlamentarismus und auch explizit für einen autoritären Führerkult. Er speiste sich auch aus einem noch lebendigen Reservoir von Revanchismus und restaurativen Sehnsüchten, viele seiner Wortführer und Netzwerker empfanden die Ersetzung etwa der neoabsolutistischen Kaiserreiche durch demokratische Republiken als Verlust und narzisstische Kränkung. All das ist heute historisch versunken. Zwar hat sich auch der historische Faschismus auf das „gesunde Volksempfinden“ und auf angebliche Mehrheitsmeinungen „des Volkes“ berufen, er kaperte aber selten demokratische Instinkte. Der heutige Faschismus dagegen beruft sich auf demokratische Werte und behauptet, er wäre die Stimme jenes Volkes, das von Minderheiten – „der Elite“ – unterdrückt würde. Die Faschisten haben gelernt, „die Prinzipien der liberalen Demokratie zu benutzen, um sie auszuhöhlen und abzuschaffen“ (Georg Diez). Aber macht das wirklich schon einen signifikanten Unterschied zu dem historischen Faschismus, der auf Volkstümlichkeit und das „natürliche Empfinden“ von Mehrheiten setzte?

Was erleben wir heute? Mit Fake-News, Aufganselei, der Übertreibung von Aspekten der Wirklichkeit und radikaler Vereinfachung wird eine Polarisierung befeuert, ein Wir-gegen-Sie, und damit ein Hader geschürt, der zu einer Art „geistigen Bürgerkrieg“ führen soll – dann ist es nur mehr einen Funkenflug bis zur richtigen Gewalt. Hemmungslos werden Feindbilder aufgebaut und Affekte geschürt, gegen Migranten oder bestimmte Migrantengruppen (Flüchtlinge, Migranten aus muslimischen Ländern, Afghanen, Syrer), aber auch gegen die ethnisch diverse Gesellschaft generell, einzelne Verbrechen werden ganzen Ethnien zugeschrieben. Es wird Hassbewirtschaftung betrieben und die Logiken der sozialen Medien mit ihrem Hang zu Übertreibung und Empörung bieten dafür hervorragende Möglichkeiten. Das Netz ist eine gigantische Hass-Maschine geworden. Bis zu einem gewissen Grad sind die Wortführer selbst getriebene einer Logik der Aufmerksamkeitsbewirtschaftung: Je mehr sie die jeweils Anderen („die Woken“, „die Eliten“, „die Moslems“, „die Flüchtlinge“, „die Integrationsverweigerer“, „die Messerstecher“) zu einer Bedrohung aufbauen, je mehr sie ganze Bevölkerungsgruppen mit einem Stigma ausstatten, je krauser und verrückter und radikaler ihr Agieren, umso mehr Zuspruch erhalten sie in einem Echoraum, den sie selbst geschaffen haben. Die wechselseitige Bestätigung geht über in die Selbstvergewisserung, dass die Phantasierealität die Wirklichkeit sei, und etabliert einen Überbietungsmechanismus, in dem der Radikale von heute der Moderate von morgen ist und entweder seine Rhetorik verschärfen muss oder durch noch Radikalere ersetzt wird. Gift kann eben nicht in kontrollierten, homöopathischen Dosen verabreicht werden, sondern verlangt die stetige Steigerung der Dosis. Ist der Faschist am Ende ein „Faschist wider Willen“, der den Geistern nicht mehr Herr wird, die er gerufen hat oder der nur halb Subjekt, halb auch Objekt der Selbstradikalisierungsapparaturen wird, die er bedient, tut im Grunde nichts zur Sache. Verniedlichung, Kopf in den Sand stecken oder naive Beschwörungen, die von Wunschdenken nur schwer zu unterscheiden sind („es kommt bestimmt nicht so schlimm“), all das ist dieser Lage vielleicht weniger angemessen als ein klares, nüchternes Bewusstsein dessen, was auf dem Spiel steht – und entschlossene, kompromisslose Gegenwehr.

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