George Orwell: Der Großmeister der Wahrhaftigkeit

George Orwell, ein Gigant. Warum wir den eigenwilligen Linken und Meister des „einfachen Stils“ unbedingt wieder entdecken sollten. Ein biografisch-literarischer Großessay.

„Die sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa erscheinen mir als das einzige erstrebenswerte politische Ziel unserer Zeit.“ – George Orwell

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Unlängst stand ich mit zwei Bekannten in der Bar des Schauspielhauses am Tresen, davor hatte ich das Stück „Faarm Animaal“ von Tomas Schweigen gesehen, eine famose Improvisation über George Orwells „Animal Farm“, die die berühmte Parabel in eine Satire über die Conditio Humana umformt. Grob gesprochen handelt die Inszenierung von einer Selbsterfahrungsgruppe, in die sich sofort Privilegierungen, Hierarchie, Mobbing, Vermachtung einschleichen, mitsamt aller Scheußlichkeiten wie Demütigungsritualen, welche sich zu allem Überdruss als Übungen in einfühlender Sprache und Achtsamkeit tarnen. Der Schuss Passivaggression, der heute zum guten Ton gehört, fehlte auch nicht.

Irgendwann sagte ich so salopp dahin, ich fände es traurig, dass Orwell heute primär wegen seiner zwei schwächsten Bücher berühmt ist – „Animal Farm“ und „1984“ –, während der Großteil der Schriften dieses Giganten zu sehr in Vergessenheit geraten ist. Ich erntete ein erstauntes „Ach, wirklich?“, und es hätte mich nicht wundern dürfen, denn wer kennt schon relevante Teile von Orwells Werk abseits der beiden berühmtesten Bücher? Nun, legen sie meine Worte bitte nicht zu sehr auf die Waagschale, vielleicht ist es auch übertrieben, diese beiden dystopischen Erzählungen gleich Orwells „schlechteste Bücher“ zu nennen, vielleicht haben die auch nur wenig in mir zum Klingen gebracht, einerseits, weil man bei Klassikern dieser Art ja schon vor dem Lesen weiß, was drin steht, andererseits weil ich sie seit meiner Schulzeit auch als „Jugendliteratur“ im Kopf abgespeichert habe, ich mir möglicherweise eine gewisse Voreingenommenheit in irgendwelche Synapsenverschaltungen eingelagert habe, die man dann hinterher nicht los kriegt. Andererseits habe ich immer Orwell gelesen, auch in meiner Jugend, über „Mein Katalonien“ („Homage to Catalonia“) habe ich sogar in Englisch abituriert. Ist auch schon eine geraume Weile her.

Ich habe an Orwell immer seine Präzision bewundert, seine Schonungslosigkeit, seine absolute Ehrlichkeit gegenüber dem Material, das er vorfand – also der Wirklichkeit –, und vor allem seinen sprachlichen Stil, den Stil der Einfachheit, und auch die eingestreute, lapidare Ironie, wie er politische Themen in Romanen, Reportagen, in Essays und Kommentaren in eine Kunstform verwandelt hat. Das soll nicht vermessen klingen: Aber als politischer Autor fühlte ich mich ihm immer verwandt, und würde das jetzt nicht wieder zu pathetisch klingen, würde ich sagen, er war mir immer ein Vorbild und Lehrmeister, so wie mir das scharfe Florett von Kurt Tucholsky, der polemische Schwung von Karl Marx, die intellektuelle Wachheit und apodiktische Meinungsstärke von Susan Sontag stets etwas waren, dem ich mit meinen bescheidenen Mitteln nacheiferte. Man nimmt, wenn man nicht bloß schreiben, sondern besser schreiben will, Maß an den Großen, versucht sich an ihnen zu modellieren. Alles andere wäre ja auch absurd: Man misst sich ja nicht mit Zwergen, wenn man etwas lernen will.

Wenn es mir stets ein Anliegen ist, auch über komplexe Thematiken so zu schreiben, dass jede/r das verstehen kann, dann hat das auch mit dem Modell Orwell zu tun.

Orwell, der „Englishman“

Orwell „verwandelte das Schreiben über Politik und andere Gegenstände zu einer Kunst und vererbte uns eine der glänzendsten intellektuellen und literarischen Hinterlassenschaften der modernen Zeit“, schreibt Peter Stansky in dem gerade eben erschienenen kleinen Büchlein „The Socialist Patriot. George Orwell and War“. Dabei war Orwell keineswegs fehlerfrei. Er war sehr lange Zeit eher politisch naiv, teilte manche bigotten Ansichten und Vorurteile, seine tagespolitischen Urteile wechselte er gelegentlich im Handumdrehen und seine Meinungen etwa zur Frauenbefreiung waren hinterwäldlerisch. Er war ein traditioneller „Englishman“ mit vielen der dazugehörigen geistigen Konventionen, und noch als sozialistischer Revolutionär galt für ihn, wie das einmal ein Freund formulierte: „Wie die meisten ‚Rebellen‘ hing er an dem, wogegen er rebellierte“.

Geboren wurde Orwell 1903 als Eric Arthur Blair im heutigen Indien als Sohn eines Kolonialbeamten. Er wuchs in England auf, diente als junger Mann später selbst als Polizeibeamter in der Kolonialverwaltung in Burma. Er war Teil des imperialen Unterdrückungssystems, lernte aber zweierlei Lektionen. Dass das imperiale System ungerecht ist, das System aber auch droht, „ihn zu brutalisieren“ (so Orwell-Biograf Michael Shelden). Mit 24 Jahren hing er die Polizeiuniform in den Spind und ging nach England zurück, und lebte fortan als freier Schriftsteller. Er schrieb Erzählungen, Essays, Reportagen, Kritiken und literarische Formen, die man heute wohl auch unter dem Begriff der „autofiktionalen Schreibweise“ katalogisieren würde. Viele kurze Texte und mittellange Essays gehören zu den beeindruckendsten Arbeiten zeitdiagnostischer Literatur. Dabei knallte Orwell immer wieder, worüber es auch immer gehen mochte, so richtige packende Zeilen raus, wie etwa:

Heilige sollte man immer für schuldig halten, solange nicht ihre Unschuld bewiesen ist.

Zweifellos sind Alkohol, Tabak usw. Dinge, die ein Heiliger meiden sollte, aber auch die Heiligkeit ist etwas, was menschliche Wesen vermeiden sollten.

Im großen und ganzen wollen die Menschen gut sein, aber nicht allzu sehr und auch nicht immer.

In der linken Literatur wird viel mit dem Feuer gespielt, von Leuten, die nicht einmal wissen, dass Feuer brennt.

In allen Gesellschaften müssen die normalen Leute bis zu einem gewissen Grad gegen die herrschende Ordnung leben.

Ich glaube, dass alles, was übermäßig seltsam ist, mich letzten Endes fasziniert, auch wenn ich es verabscheue.

Eine der Schlüsselerfahrungen von Orwell war seine Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg von Dezember 1936 bis zum Juni 1937, wo er in einer der Milizen der trotzkoiden, jedenfalls undogmatisch-kommunistischen POUM („Partido Obrero de Unificación Marxista“) gegen die Faschisten kämpfte, in die Mühlen des Stalinismus geriet, und später einen glatten Halsdurchschuss auf wundersame Weise überlebte. Schon vor seiner Reise nach Spanien hatte sich Orwells linke und sozialistische politische Gesinnung nach und nach ausgeprägt. So recherchierte er in den dreißiger Jahren unter dem Eindruck der Großen Depression und der grassierenden Massenarmut in den nordenglischen Industrierevieren, was in dem fantastischen Buch „Der Weg nach Wighan Pier“ kulminierte, ein Text, den er unmittelbar vor seiner Abreise nach Spanien fertigstellte.

Eine Soziologie der niedrigen Klassen

Orwell begab sich in die Kohlereviere, lebte mit den Bergleuten und ihren Familien zusammen, setzt sich selbst der schweren Arbeit aus und taucht in die von Armut geprägte Welt der arbeitenden Klassen ein, ähnlich, wie er es zuvor schon in der Welt der Tramps, Streuner, Tagelöhner und Obdachlosen getan hat (in seinem Buch „Erledigt in Paris und London“).

So ist es mit allen Formen körperlicher Arbeit: sie erhalten uns am Leben, und wir ignorieren ihre Existenz. Vielleicht kann der Bergmann mehr als jeder andere als Typus des Arbeiters gelten, nicht nur weil seine Arbeit so übermäßig schrecklich, sondern auch weil sie so lebensnotwendig und doch unserer Erfahrung so fremd ist, so unsichtbar gewissermaßen, dass wir sie vergessen können, so wie wir vergessen, dass Blut in unseren Adern fließt. In gewissem Sinn ist es sogar demütigend, Bergleuten bei der Arbeit zuzusehen. Es lässt in einem einen augenblicklichen Zweifel an der eigenen Stellung als ‚Intellektueller‘ und als Bessergestellter überhaupt entstehen (…) dass die Bessergestellten nur deshalb bessergestellt bleiben, weil sich die Bergläute die Gedärme aus dem Leib schwitzen. Sie und ich und der Herausgeber des Times Literary Supplement und die Schöngeister und der Erzbischof von Canterbury und der Genosse X, Verfasser von Marxismus für Minderjährige – wir alle verdanken unsern verhältnismäßig anständigen Lebensstandard armen Teufeln unter Tage, die, schwarz bis an die Augen und die Kehlen voll Kohlestaub… ihre Schaufeln vorwärtsstoßen.

Was Orwell an dieser wie auch an vielen anderen Stellen seines Schreibens zeigt, ist eine seltene Empathie, ein Einfühlungsvermögen, das nicht bloß von einem großen Herz für die einfachen Leute zeugt, sondern auch von einer Intuition für Mentalitäten und Empfindungen, für Werte und Instinkte von Menschen, die anders sind als er selber, die vielleicht auch anders sind, als man durch oberflächliche Annahmen erwarten würde. So entdeckte er, dass gerade die Elenden, die Arbeitslosen und die Ausgebeuteten, sich so manchen Luxusartikel gönnen, sich dafür aber das Essen vom Mund absparen.

Aber sie senken ihre Ansprüche nicht unbedingt in dem Sinn, dass sie auf Luxusartikel verzichten… öfter ist es umgekehrt – und natürlicher, wenn man es sich recht überlegt. (…) Man hat vielleicht nur drei Halfpence in der Tasche, überhaupt keine Zukunftsaussichten und als Zuhause nur eine Ecke in einem undichten Schlafzimmer; aber man kann in seinen neuen Kleidern an der Straßenecke stehen und sich in einem privaten Tagtraum als Clark Gable oder Greta Garbo vorkommen, was einen für eine ganze Menge entschädigt.

Große Teile der Arbeiterklasse sind aller Dinge, die sie wirklich brauchen, beraubt und werden dafür mit billigen Luxusartikeln teilweise entschädigt, die an der Oberfläche des Lebens etwas Milderung bringen.

So beschreibt er auch die feinen Unterschiede und das Empfinden für Hierarchien innerhalb der unteren Klassen, etwa wie sich die unteren Mittelschichten und die Arbeiterklasse von den Armen abgrenzt:

Eine schäbig-vornehme Familie ist ein einer ganz ähnlichen Situation wie eine Familie von „poor whites“ in einer Straße, wo alle andern Neger sind. Unter solchen Umständen muss man an seiner Vornehmheit festhalten, denn sie ist das einzige, was man hat, und gleichzeitig wird man wegen seiner Hochnäsigkeit und seinem Akzent und seinen Manieren gehasst.

„Jeder leere Magen ist ein Argument für den Sozialismus“, erklärt Orwell, und wenn er eine empathische Zugewandtheit zu den arbeitenden Klassen hat, so romantisiert er weder ihre Lebensweisen noch die Verheerungen der Seelen oder auch die Engstirnigkeit, die in diesen Milieus grassieren: „Es ist schade“, schreibt er lakonisch, „dass diejenigen, die die Arbeiterklasse idealisieren, es so oft für nötig halten, alles Charakteristische an ihr zu loben, und deshalb so tun, als sei Schmutzigkeit selbst irgendwie etwas Verdienstvolles.“

Für den gewöhnlichen Arbeiter … bedeutet Sozialismus nicht viel mehr als bessere Löhne und kürzere Schichten und niemanden, der einen herumkommandiert.

In einem zweiten großen Teil des Buches fragt Orwell, warum der Sozialismus angesichts der beklagenswerten Umstände und seinem leuchtenden Zukunftsversprechen denn eigentlich nicht populärer sei. Gewiss ist die fatalistische Grundhaltung, die auch durch die Propaganda der Herrschenden geschürt wird – dass sich nämlich sowieso nie etwas ändern werde –, hierfür ein wichtiger Grund, aber es liege auch am Sozialismus selbst. Er habe nicht selten „etwas Abstoßendes“, etwas, „das genau die Leute vertreibt, die sich zu seiner Unterstützung zusammentun sollten“.

Wenn man diese Abneigung beseitigen will, muss man sie verstehen, und das heißt, dass man sich in den gewöhnlichen Gegner des Sozialismus hineinversetzen oder zumindest seinen Standpunkt mit Teilnahme betrachten muss. … Deshalb ist es zur Verteidigung des Sozialismus paradoxerweise notwendig, ihn zunächst anzugreifen.

Die abstoßenden Typen auf der Linken

In der Folge schreibt Orwell eine hinreißende Darstellung und Charakterisierung linker Typen und Gruppenphänomene, wie sie bis heute nicht wirklich an Trefflichkeit verloren haben. Vielleicht wurden manche alte Eigenartigkeiten durch neue Eigenartigkeiten ersetzt, aber dem Wiedererkennungseffekt tut das wohl nur wenig Abbruch.

„Wie bei den Christen sind beim Sozialismus seine Anhänger die schlechteste Reklame“, schreibt Orwell. Der typische Sozialist ist ein doktrinärer Typ, der davon redet, dass die Untersten endlich zu den Obersten werden müssten oder die vollständige soziale Gleichheit erstrebt werden sollte, der aber „mit einer sozialen Stellung“ ausgestattet ist, „die er keineswegs auf Spiel setzten will“.

Dazu kommt noch die schreckliche – die wirklich beunruhigende – Häufigkeit verdrehter Typen, wo immer Sozialisten versammelt sind. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass die bloßen Worte ‚Sozialismus‘ und ‚Kommunismus‘ mit magnetischer Kraft jeden Fruchtsaftapostel, Nudisten, Sandalenträger, Sexverrückten, Quäker, ‚Naturheil‘-Pfuscher, Pazifisten und Feministen in England wie magisch an sich ziehen.

Okay, über die „Feministen“ in dieser Aufzählung wollen wir hinwegsehen, die verdanken ihr Vorkommen in dieser Liste den bereits erwähnten eigenen Vorurteilen Orwells, aber aus der Vorratskammer der Orwellschen Phänotypen kann man bis heute problemlos halbe Querdenkerdemos, antiimperialistische Praterfeste oder Sahra-Wagenknecht-Fanclubs füllen. Doch weiter:

Widerlich ist auch zu sehen, wie die meisten Mittelstandssozialisten, die sich

theoretisch nach einer klassenlosen Gesellschaft sehnen, wie Leim an den elenden Überresten ihres sozialen Prestiges kleben.

Zudem ist der Fachjargon der Kommunisten von der gewöhnlichen gesprochen Sprache so weit entfernt wie die Sprache eines mathematischen Lehrbuchs.

Manchmal schaue ich einen Sozialisten an – den intellektuellen, Traktate verfassenden Typ, mit seinem Pullover, dem wirren Haar und den Marx Zitaten – und frage mich, was zum Teufel wirklich sein Motiv ist.

All dieser Figuren und den charakteristischen Erscheinungsformen sozialistischer Parteiorganisationen verdanke sich also der Umstand, dass die

allgemeine Vorstellung vom Sozialismus von der Vorstellung gefärbt ist, ein Sozialist sei ein langweiliger oder unangenehmer Mensch. … Der gewöhnliche Mann schreckt nicht unbedingt vor einer Diktatur des Proletariats zurück, wenn man sie ihm diskret anbiete; bieten Sie ihm eine Diktatur von Tugendaposteln an, und er rüstet sich zum Kampf.

Gewiss sei

das dem Sozialismus zugrunde liegende Ideal: Gerechtigkeit und Freiheit. Aber die Bezeichnung ‚zugrunde liegend‘ geht daneben. Das Ideal ist völlig vergessen. Es ist unter Schicht um Schicht doktrinärer Besserwisserei, Parteigezänk und halbbackener ‚Progressivität‘ begraben worden.

Sogar das bloße Wort ‚Genosse‘ hat sein dreckiges kleines bisschen zur Diskreditierung der sozialistischen Bewegung beigetragen

Die instinktive, intuitive Abneigung vieler Leute gegen den Begriff liege durchaus

richtig, denn worin liegt der Sinn einer lächerlichen Etikette, die man sogar nach langem Üben kaum ohne ein beschämtes Schlucken herausbringt?

Kann man Journalist, ehrlich, und Aktivist sein?

Ich denke, dass Orwell hier mehrmals mitten ins Schwarze getroffen hat. Das doktrinäre Getue, die arrogante Besserwisserei und der Gestus der Herablassung, mit der manche Linke oft auf ihre Zeitgenossen einwirken, leistet keinen kleinen Beitrag zur bescheidenen Erfolgsbilanz heutiger Weltverbesserungsbestrebungen. Das Erstaunliche ist ja, dass manche das nicht einmal merken. Aber auch dafür hat Orwell eine Erklärung: „Um zu sehen, was vor der eigenen Nase ist, bedarf es ständiger Anstrengung.“ Gerade das Offensichtlichste ist häufig das Unerkennbarste. Menschen sind in ihre Ansichten, Meinungen, Ideen und auch ihre Vorstellungen von Richtig und Falsch dermaßen selbst verstrickt, dass sie sich schon deshalb schwertun können, noch genug Wahrnehmungsvermögen für andere zu entwickeln. Je überzeugter jemand ist, umso ich-bezogener kann er werden. Wahrnehmungsvermögen für andere ist wiederum unbedingt nötig, um einigermaßen begreifen zu können, wie das eigene Verhalten auf andere wirkt. Und selbst wenn man eine Ahnung davon hat, dann verdrängt man sie, vor allem würde man sie nicht laut sagen, denn die Erörterung eigener Schwächen könnte ja schließlich dem Feind in die Hände spielen und ein Gespür für die Ambivalenzen des eigenen Tuns die entschiedene Schneidigkeit untergraben.

Auch deshalb blieb Orwell immer ein Solitär und Fall für sich, auch wenn er zeitweise in einem Parteiverbund agierte – innerhalb der kleinen linken „Independent Labour Party“ und, wie erwähnt, der spanischen POUM. „Ein moderner, literarischer Intellektueller lebt und arbeitet in einem Zustand ständiger Angst, nicht so sehr in Hinblick auf die öffentliche Meinung im weiteren Sinne, als auf die herrschende Meinung innerhalb seiner eigenen Gruppe“, bemerkte er einmal. Nicht die Feigheit vor dem Feind schreckte ihn, sondern die Feigheit vor dem Freund, also die Gefahr, den eigenen Leuten bittere Wahrheiten zu ersparen, einer gut gemeinten Gruppensolidarität wegen. Das ist Gift, damit fängt die geistige Korrumpierung an, er nannte es eine „Zauber- oder Beschwörungsformel zur Unterdrückung unbequemer Wahrheiten“.

So schrieb Orwell: „Vom Gefühl her bin ich eindeutig ein ‚Linker‘, ich glaube aber, dass ein Schriftsteller nur ehrlich bleiben kann, wenn er sich kein Parteietikett verpassen lässt.“

Der Weltmeister des Hausverstandes.

Unmittelbar nach der Fertigstellung von „Der Weg nach Wighan Pier“ geht Orwell nach Spanien. Dabei wollte er ursprünglich wohl nicht kämpfen, sondern als Berichterstatter dabei sein, wobei er möglicherweise als Option am Radar hatte, selbst in eine Miliz einzutreten. Orwell hatte Kontakte zur kleinen, linkssozialistischen „Independent Labour Party“ und damit auch zu deren Publikationen, aber keine besonders detailliert ausgeprägten Meinungen. Auch ein Eintritt in die Internationalen Brigaden, die faktisch von Moskau abhängig waren, war für ihn nicht denkunmöglich. Orwell war in den innerlinken Debatten nicht sonderlich bewandert und auch der stalinistische Terror, der sich in der Sowjetunion (und über diese hinaus), entfaltete, hatte ihn noch nicht sonderlich beschäftigt. „Im spanischen Bürgerkrieg … wurde er nicht nur der Autor George Orwell, sondern auch der vollständig ergebene Sozialist. In vielerlei Hinsicht wurden die sechs Monate in Spanien und seine Kriegserlebnisse die entscheidendste Erfahrung seines Lebens“ (Peter Stansky).

Die junge, linke republikanische Regierung Spaniens wurde durch den Militärputsch von General Francisco Franco in Bedrängnis gebracht, einem faschistischen Caudillo, der von Nordafrika mit seinen Truppen auf das spanische Festland übersetzte, um ein Regime im Stile Mussolinis und Hitlers zu errichten. Die republikanische Regierung verfügte über wenige professionelle Strukturen, dementsprechend schlecht lief die Gegenwehr an. Der Widerstand gegen die faschistische Soldateska nahm zeitweise die Formen einer Volksbewegung an, ein Volkswiderstand, der chaotisch, zugleich aber voller revolutionärer Dynamik war. Anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegungen hatten starke Milizen, vor allem in Katalonien, auch antistalinistische kommunistischen Gruppen wie die POUM waren regional bedeutend, mit dem legendären Buenventura Durruti und dem kaum minder strahlenden Andrés Nin hatten Anarchisten und Antistalinisten charismatische Anführer. Fatalerweise haben Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten eine Nichteinmischungs-Strategie gewählt. Während die Nazis die Faschisten unterstützten, erhielten die Demokraten wenig Hilfe, auch, weil viele westliche Linke eine pazifistische Gesinnung hochhielten, wie etwa die britische Labour Party. Die einzigen, die der demokratischen Republik mit Waffen halfen, waren die Sowjets, die dementsprechend ihren Einfluss ausbauten. Die Agenten des Moskauer NKWD, die Militärberater und die Anführer der moskautreuen Brigaden gingen nicht nur gegen die Faschisten vor, sondern auch gegen linke Rivalen. Es ist dieser verwirrende Mehrfronten-Konflikt, in den Orwell hineingeriet, und den er in seinem fantastischen Buch „Homage to Catalonia“ („Mein Katalonien“) beschreibt. Orwell tritt in die POUM ein, er ist fasziniert von der sozialen Verwandlung, die sich in den frühen Kriegsmonaten in Barcelona entfaltete, dem egalitären Geist, der völligen Gleichheit, die die Hierarchien zwischen einfachen Leuten und der reichen Oberschicht einebnete, er ist beeindruckt vom Stolz und Selbstbewusstsein der niedrigen Klassen – und später erschüttert, wie schnell sich diese Atmosphäre wieder änderte. Militärisch ist er an der eher ruhigen Aragon-Front im Einsatz, es gibt einzelne heftige Gefechte, Tote und Schwerverletzte, die im Schlamm liegen und zerfetzte Leiber im Schützengraben, Orwells Einheit, die in Querfeuer gerät, aber meist liegen sich Linke und Faschisten in den Stellungen gegenüber, ohne dass allzu viel geschieht, außer, dass gelegentlich hin und her gefeuert wurde. Bei seiner Rückkehr nach Barcelona wird Orwell in die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten, Anarchisten und Trotzkisten verwickelt, die eine Form des inneren Vernichtungskrieges der Stalinisten gegen alle möglichen Konkurrenten annahmen. Orwell muss sich verstecken, seine Identität verdunkeln, seine Unterlagen schützen, alles Mögliche zu seiner Sicherheit tun, um nicht in die Mühlen der stalinistischen Vernichtungsmaschinerie und des NKWD zu geraten. Bei einer Hausdurchsuchung durch die stalinistische Geheimpolizei werden seine Notizen beschlagnahmt, Orwells Tagebücher aus jener Zeit sind bis heute verschollen. Wie man heute weiß, führte das NKWD in einem Memorandum Orwell und seine Frau als „überzeugte Trotzkisten“, was leicht einem Todesurteil gleichkommen hätte können. „Mein Katalonien“ ist große politische Literatur, auch, weil es so etwas wie Geschichtsschreibung der Gegenwart war, also unmittelbar nach der Rückkehr, die Eindrücke noch frisch, aufgeschrieben wurde, während sich die Geschehnisse noch entfalteten, und das, was heute historisch unbestritten ist, noch unübersichtlich war, auch bis zu einem gewissen Grad für den Chronisten selbst. Umso phänomenaler, mit welcher Klarsicht und Wahrheitstreue Orwell die Ereignisse plastisch macht. Aber nicht nur das macht dieses Buch zu einem intellektuellen Abenteuer.

Der Geist des Humanismus

Was „Homage to Catalonia“ auszeichnet, ist die Wahrhaftigkeit und die Einsicht in politische Wirrnisse einer chaotischen Revolution, vor allem aber auch der humanistische Geist des Buches. Der „Bericht aus dem Spanischen Bürgerkrieg“ beginnt schon mit der Schilderung einer Begegnung, mit einem flüchtigen Aufeinandertreffen mit einem jungen Milizionär, wahrscheinlich einem Kommunisten aus Italien mit offenem, herzlichem Blick. „Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemanden gesehen – ich meine einen Mann –, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand… Seltsam, welche Zuneigung man für einen Fremden fühlen kann! Es war so, als ob es seiner und meiner Seele für einen Augenblick gelungen sei, den Abgrund der Sprache und Tradition zu überbrücken und sich in völliger Vertrautheit zu treffen.“ Als hätte der Adel der Menschheit aus dem freundlichen Gesicht des Milizionärs geleuchtet. Aber auch die „Feinde“ sind oft nichts weiter als arme Teufel. Orwell erzählt von einer Szene, als er auf einen Faschisten zielt, der gerade von der Latrine kommt, der panisch davon läuft und seine Hosen hochzieht, die ihm in den Kniekehlen hängen. Es gelingt Orwell nicht, abzudrücken. Später wird er über diese Episode bemerken: „Ich habe auch wegen dieses Details mit den Hosen nicht geschossen. Ich war gekommen, um auf ‚Faschisten‘ zu schießen. Aber ein Mann, der mit Mühe seine Hosen hochzieht, ist kein ‚Faschist‘, er ist doch ganz offensichtlich und vor allem eine verwandte Kreatur, ähnlich uns selbst, und man hat keine Lust auf ihn zu schießen.“ Es ist diese Empathie, die sich durch viele von Orwells Reportagen, Romane und Essays zieht.

Orwells Erfahrungen, aber auch die recht abrupten Wendungen, die in diesen Jahren sein Denken prägten, sind faszinierend, und manches davon können wir wie Kommentare zu unseren heutigen Problemen lesen.

Die Macht der Lüge

In Spanien machte er die Erfahrung, dass die totalitäre politische Propaganda die absurdesten Lügen in die Welt setzen kann, und diese sich in eine Art Wahrheit verwandeln, wenn sie nur oft genug verbreitet werden. Die stalintreuen Kommunisten erlogen die bizarrsten Geschichten, denunzierten undogmatische Linke als Agenten der Faschisten und als Quertreiber, die von Hitler und den Nazis bezahlt würden. Geschehnisse, die niemals vorgefallen waren, wurden erfunden und Orwell musste mit Erstaunen feststellen, dass sie in der britischen linken Presse wie Tatsachen behandelt und von KP-treuen Intellektuellen verbreitet wurden. Wenn man der Lüge nicht entgegen tritt, verwandelt sie sich in Wahrheit, so Orwells Schluss, und mit der Lüge lässt sich das Denken steuern. Das wird später ein zentrales Thema von „1984“ sein, Orwells großer Dystopie, die hier ihre Schatten voraus wirft. „Schon früh in meinem Leben“, schrieb Orwell im Rückblick, „war mir klar geworden, dass kein Geschehnis jemals völlig korrekt in Zeitungen wiedergegeben wird, doch in Spanien habe ich erstmals die Begegnung mit Zeitungsartikel gemacht, die nicht einmal eine lose Verbindung zu den Fakten haben, und sei es nur jene Bezugnahme auf die Realität, die üblicherweise sogar gewöhnliche Lügen haben… Und dann sah ich Zeitungen in London, die diese Lügen wiedergaben, und eifernde Intellektuelle, die heftige Emotionen gegenüber Geschehnissen zum Ausdruck brachten, welche niemals stattgefunden hatten.“

In Spanien erkannte Orwell, dass der linke Pazifismus, der einer bedrohten Demokratie Waffenlieferungen aus naivem Antimilitarismus versagt, den Feinden der Freiheit direkt in die Hände spielt. Doch kurz nach der spanischen Erfahrung machte Orwell eine 180-Grad-Wendung und wurde zu einem „unerwarteten Pazifisten“ (Stansky). Aus dem Krieg hat er nämlich auch den durchaus diskussionswürdigen Schluss gezogen, dass man unter dem Banner der bloßen „Demokratie“ den Faschismus nicht bezwingen kann. Nur eine sozialistische Revolution, die dem Faschismus nicht nur defensiv entgegentritt, sondern die Hoffnungen auf eine Gesellschaft der Freien und Gleichen mobilisiert, könne die Reaktion bezwingen, meinte Orwell. Er hatte seine radikalste linke Phase. Einen Krieg gegen Hitlerdeutschland lehnte Orwell dementsprechend ab, da ein Sieg gegen die Nazis nur möglich sei, wenn man die sozialistische Revolution propagiere. Orwell unterzeichnete ein Manifest in dem es hieß, „wenn der Krieg kommt, dann ist es unsere Pflicht, zu widerstehen, und eine Opposition aufzubauen, die das Ende des Krieges beschleunigt“. Sogar angesichts der Aussicht eines Nazi-Überfalls unterstützte Orwell kurzzeitig die alten Phrasen aus dem Ersten Weltkrieg, wonach für Sozialisten der Hauptfeind immer im eigenen Land stünde – was angesichts eines imperialen, genozidalen Vernichtungsregimes zweifelsohne eine äußerst fragwürdige Ansicht ist.

1937 war Orwell also für den Krieg der Republikaner gegen die Faschisten, 1938 dann, diametral dem entgegentretend, ein Pazifist, nur um ab 1939 wieder eine völlige Kehre hinzulegen. Im August 1939 revidierte er seine Position vollständig, im September 1939 trat Großbritannien in den Krieg ein und Orwell wurde ein „revolutionärer Patriot“. Die englische Arbeiterklasse, getragen von ihren Tugenden und ihrem Anstand, würde gegen die Nazis kämpfen, das eigene Land verteidigen, aber im Zuge dieser gemeinschaftlichen Kraftanstrengung würden Gleichheit und Sozialismus auch in England zur Überwindung des Kapitalismus führen, meinte Orwell. Diese Voraussage wiederum war nicht völlig korrekt, letztendlich aber auch weniger falsch, als es scheinen mag, denn der Triumpf der Labour Party, der Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates, großangelegte Nationalisierungen nach Kriegsende waren zweifelsohne Ergebnisse sozialer Verwandlungsprozesse, die der Krieg mit sich brachte. Im Krieg wurde Orwell Patriot, spürte er den tiefen Patriotismus, wie er in den arbeitenden Klassen verwurzelt war, und kam zu dem Schluss, den der Verstand nahelegt, nämlich: „In der Praxis können wir nicht neutral sein, und es ist kaum jemals ein Krieg vorstellbar, bei dem es keinen Unterschied macht, wer gewinnt. Fast immer gibt es eine Seite, die mehr oder weniger für Fortschritt steht und eine andere Seite, die mehr oder weniger die Reaktion repräsentiert“. 1942 nannte er den Pazifismus „objektiv pro-faschistisch“, und fügte hinzu: „Das ist ganz weitgehend unumstritten. Wenn Du die Kriegsanstrengung der einen Seite untergräbst, dann hilfst du automatisch der anderen. Es gibt auch keine Möglichkeit, irgendwie außerhalb eines solchen Krieges zu bleiben wie dem gegenwärtigen“. Pazifistische Propaganda sei daher, „in anderen Worten eine Hilfeleistung für den Totalitarismus“.

Manche klarsichtige Polemiken lesen sich wie aktuelle Kommentare zum russischen Invasionskrieg gegen die Ukraine, etwa wenn Orwell schreibt:

„Die Mehrheit der Pazifisten gehören entweder zu eigenartigen religiösen Sekten oder sie sind ganz einfach Humanisten, die es ablehnen, irgendjemanden das Leben zu nehmen und die über dieses elementare Prinzip hinaus jede weitere Überlegung ablehnen. Aber es gibt eine kleine Gruppe intellektueller Pazifisten, deren reales, doch uneingestandenes Motiv der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus ist. Pazifistische Propaganda wird üblicherweise auf die simple Behauptung verdünnt, dass die eine Seite genauso schlecht wie die andere sei, aber wenn man die Schriften jüngerer Pazifisten genauer betrachtet, dann stellt man fest, dass sie keineswegs beide Seiten auf die gleiche Weise anklagen, sondern beinahe ausschließlich Großbritannien und die USA.“

Orwell, der Champion der Unabhängigkeit

Orwell war in einem ganz eminenten Sinne ein „freier Mann“, einer nämlich, der mit Scharfblick, Redlichkeit und Mut seine eigenen Ansichten formulierte, dabei oft richtig lag, selten völlig daneben griff, seine Fehler wenigstens selbst machte, der sich nie vor einen Karren spannen ließ oder auf die gängigen Lügen seiner Zeit herein fiel. Dabei, wir haben es schon gesehen, wusste er über die Gefahr durchaus Bescheid. „Jeder Schriftsteller oder Journalist, der sich seine geistige Integrität bewahren möchte, wird daran mehr durch den allgemeinen Trend der Gesellschaft als durch tatsächliche Verfolgung gehindert.“ Er braucht geistige Unabhängigkeit, die ein gewisses Maß an Einzelgängertum voraussetzt, und ihm regelmäßig den Vorwurf „antisozialer Ichbezogenheit“ einbringen wird. „Der Schriftsteller, der sich weigert, seine Meinung zu opfern“, wird „immer als krasser Egoist bezeichnet“.

Ein Schriftsteller kann „kein loyales Mitglied einer politischen Partei sein“, proklamiert Orwell. Auch seine Überlegungen zur Sprache und zur politischen Literatur sind mit diesem Ringen um Unabhängigkeit und Redlichkeit verbunden. Denn Orwell war ja zugleich ein politischer Aktivist. Er war sich darüber bewusst, dass der menschliche Fortschritt, Sozialismus, die zivilisatorischen Verbesserungen nicht von Solitären bewirkt werden, sondern von Menschen, die sich mit anderen Menschen zusammentun, um etwas zu bewirken. Der Aktivist Orwell und der Schriftsteller Orwell mussten sich notgedrungen in die Quere kommen, wie Geschwister, die sich auf engem Raum dauernd gegenseitig auf die Zehen treten. Orwell war ein Mann, der mit seinen journalistisch-literarischen Arbeiten etwas bewirken wollte, und zugleich der Versuchung widerstehen musste, sich in einen Propagandisten zu verwandeln, der die Wahrheit für die Sache opferte. Mehr noch: Er wollte die Wahrheit hinter den Phrasen frei legen. Dass er sich dem Problem der Sprache stellen musste, ergibt sich durch die einfache Tatsache, dass die Lüge im Medium der Sprache auftritt und dass, schon vor der glatten Lüge, die Korrumpierung des Denkens mit der Kompromittierung der Sprache beginnt.

Orwell und der „einfache Stil“

Orwell hielt viel auf den „einfachen Stil“, den „plain style“, den „schmucklosen Stil“. Der Stil ist mehr als nur eine Geschmacksfrage, sondern selbst eine politische Entscheidung. „Der hohe Stil klingt nach Autorität und Tradition, und der einfache Stil ist verbunden mit Hausverstand und dem einfachen Mann“, schreibt der britische Literaturwissenschaftler Bernard Crick in seinem Vorwort zu Orwells Essays. Orwell bevorzugte den „einfachen Stil“, um den normalen Leser zu erreichen. Ein veritables Regelwerk legte er sich zurecht. „Ein gewissenhafter Autor wird sich bei jedem Satz, den er schreibt, vier Fragen stellen: Was versuche ich zu sagen? Welche Worte werden es am besten ausdrücken? Welches Sprachbild und welcher Klang wird es klarer machen? Ist es lebendig genug? Und er wird sich höchstwahrscheinlich zwei weitere Fragen stellen: Kann ich es kürzer sagen? Habe ich irgendetwas gesagt, das hässlich ist, und das vermieden werden kann?“

An anderer Stelle formulierte Orwell: „Ich denke, die folgenden Regeln werden die meisten Fälle abdecken. 1. Benütze niemals eine Metapher oder andere Sprachbilder, die du gewohnheitsmäßig gedruckt findest. 2. Benütze niemals ein langes Wort, wenn es ein kurzes Wort auch tut. 3. Wenn du ein Wort streichen kannst, dann streiche es. 4. Benütze niemals die passive Form, wenn du die aktive benützen kannst. 5. Benütze nie ein Fremdwort, eine akademische Formulierung oder Jargon, wenn dir ein Alltagsbegriff zur Verfügung steht. 6. Breche jede dieser Regeln, bevor du etwas Grobes, Ekelhaftes sagst.“

Orwell verband den „einfachen Stil“ mit Wahrhaftigkeit, die verkopften Kompliziertheiten mit Lüge oder wenigstens dem Versuch, die Wahrheit zu vernebeln. Gänzlich zu Ende gedacht ist das womöglich nicht, denn wie wir heute auch wissen, führt der krampfhafte Versuch, eine komplexe Wirklichkeit auf möglichst einfache Weise zu beschreiben, oft zu Versimpelungen, die der wirklichen Welt nicht gerecht werden, und außerdem kann man mit „volkstümlichen“ Formeln oft sogar besser lügen als mit komplizierter Sprache. Generationen populistischer und rechtsextremer Verseschmiede haben es vorgeführt. Es ist also auch das nicht so einfach, wie es scheint.

Kampf gegen „die Unehrlichkeit“

Der große Feind der politischen Sprache ist für Orwell „die Unehrlichkeit. Wenn es eine Kluft zwischen den realen und den deklarierten Zielen gibt, wird ein Autor intuitiv viele Worte und erschöpfende Phrasen gebrauchen, so wie ein Tintenfisch Farbe verspritzt.“ Das politische Schreiben ist so oft schlechtes Schreiben, weil mit großen Worten das Nichts vernebelt wird, oder weil das, was die Autoren wirklich meinen, verschwiegen werden soll. Wo immer in klarer, verständlicher und wahrer Weise über Politik geschrieben wird, „werden wir im Allgemeinen erkennen, dass der Autor eine Art von Rebell ist, der seine persönlichen Urteile ausdrückt, aber nicht eine ‚Parteilinie‘. Orthodoxie, welcher Art auch immer, scheint geradezu leblose Nachplapperei zu erfordern. (…) Ein Redner beispielsweise, der in solcher Phraseologie verfangen ist, hat sich zu einem erheblichen Maß in eine Art Maschine verwandelt.“

Politische Sprache und politisches Schreiben laborieren primär daran, dass sie oft zur „Verteidigung des Unverteidigbaren“ dienen. Orwell illustriert seine Überlegung mit dem Beispiel eines in aller Bequemlichkeit lebenden englischen Professors, der den stalinistischen Totalitarismus rechtfertigt. „Er kann nicht geradeheraus sagen, ‚ich glaube, dass wir durch die Ermordung von Oppositionellen gute Resultate erzielen werden‘. Daher wird er etwas von der Art sagen: Während wir durchaus bereitwillig einräumen müssen, dass das sowjetische Regime einige Eigenarten hat, die aus humanitärer Sicht beklagt werden können, so müssen wir, denke ich, auch einräumen, dass eine gewisse Begrenzung des Rechts zur politischen Opposition als unvermeidbare Begleiterscheinung der Übergangsperiode angesehen werden muss…“

Die Bereitschaft linker Intellektueller, die Verfehlungen des Stalinismus mit absurden rhetorischen Verrenkungen zu rechtfertigen, war in den furchtbaren Terrorjahren der Moskauer Prozesse besonders abstoßend und verstörend. Aber natürlich lassen sich diese Verrenkungen zur Schonung der vermeintlich „eigenen Leute“ oder zur Zukleisterung von Konflikten auch häufig in weniger eklatanten Fällen beobachten. Oft sind sie sogar unumgänglich, wenn man mit politischem Aktivismus etwas bewirken will, da politisches Engagement immer ein gemeinsames politisches Engagement unterschiedlicher Menschen ist, die in einigen Fragen Meinungsverschiedenheiten ignorieren müssen, um im Großen und Ganzen in der Lage zu sein, an einem Strang zu ziehen. Während der politische Schriftsteller in seiner Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit danach streben muss, Meinungsverschiedenheiten klar und schonungslos auszusprechen, kann für den Aktivisten absolut ratsam sein, die Fehler der eigenen Leute nicht an die große Glocke zu hängen. Dann werden die heiklen Themen hinter einer Sprachwolke von Jargonbegriffen zum Verschwinden gebracht. „Gruppenloyalitäten sind notwendig“, weiß Orwell, „und doch sind sie Gift für die Literatur.“

Es versteht sich von selbst, dass Orwell in den Jahren zwischen 1936 und seinem Tod im Januar 1950 von der „offiziellen Linken“, den stalinistischen Kommunisten, aber auch von linken Sozialisten und auch manchen späteren Wortführern der Neuen Linken attackiert wurde. „Es gibt keinen Zweifel darüber, was die eigentliche Quelle dieses Anti-Orwell-Ressentiments ist“, schreibt Christopher Hitchens in seinem Großessay „Why Orwell Matters“, nämlich: „In den Augen vieler aus der offiziellen Linken begingt er die ultimative Todsünde ‚dem Gegner Munition zu liefern‘“.

Redlichkeit und Wahrheit

Die Schlampigkeit „unserer Sprache macht es uns leichter, dumme Meinungen zu haben“, beklagt Orwell. „Prosa besteht immer seltener aus Worten, die ihrer Bedeutung wegen gewählt werden, und immer mehr aus Jargonphrasen, die zusammengetackert sind wie ein windschiefer Hühnerstall“. Und: „Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, so kann die Sprache auch das Denken korrumpieren“.

Orwell war nicht unbedingt selbst ein vorbildlicher Mensch, er hatte, wie erwähnt, Vorurteile, denen er ein Leben lang treu blieb oder die er zumindest nicht vollständig ablegen konnte, etwa seine Abneigung gegenüber Homosexuellen, er hatte seine schrulligen Seiten und er hat Handlungen gesetzt, deren moralische Rechtfertigbarkeit diskutiert werden kann. So hat der Antistalinist Orwell im beginnenden Kalten Krieg eine Art Denunziantenliste von prosowjetischen Literaten und Denkern an eine Abteilung des Londoner Außenministeriums übermittelt, allerdings eine, die von Labour-Party-Leuten zwecks Verteidigung des demokratischen Sozialismus eingerichtet wurde – unter Leitung von einer engen Freundin Orwells, der Schwägerin von Arthur Koestler. Das wird ihm häufig als schwere Verfehlung ausgelegt, aber auch für jene, die ihn dafür nicht gleich verurteilen, ist das eine zweischneidige Sache. Vieles, wofür Orwell stand, ist bis heute aktuell und vorbildlich: die intellektuelle Redlichkeit, seine Weigerung, die Wahrheit für Gruppenloyalitäten zu opfern, seine Bereitschaft, wenn nötig zwischen allen Stühlen Platz zu nehmen, zugleich für die Utopie von Revolution und Sozialismus einzutreten und die liberale Demokratie, die Grundrechte und die Menschenwürde eines jeden bedingungslos zu verteidigen. Diese Redlichkeit der Wirklichkeit gegenüber ermöglichte es ihm, die Welt und ihre Erscheinungen, die Menschen und ihre Eigentümlichkeiten in herrlicher Klarheit und auch mit Sarkasmus zu beschreiben.

Orwells erstaunliche Aktualität

Mit seiner Witterung für die Macht der Lüge hat er nicht nur die Totalitarismen seiner Zeit verstehen können, sondern darüber hinaus etwas erspürt, ein Vorgefühl auf unsere Zeit der „Truisms“ und der „Fake-News“, der Aufganselei durch völlig frei erfundene Lügen, die nicht einmal mehr eine Beziehung zur Realität haben. „1984“, hat viel mehr Bedeutungsebenen, als man seinerzeit wahrscheinlich annahm. In einer Zeit der digitalen Überwachung, medialer Blödmaschinen und von „Fake News“ lesen wir dieses Buch nicht nur als Allegorie auf totalitäre Entartungen, wie den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Auch die „Farm der Tiere“, Orwells zweiter großer Welterfolg, ist einerseits eine hart an der Realität modellierte Parabel über die Degeneration der bolschewistischen Revolution, aber darüber hinaus eine Allegorie über die Conditio Humana, wie Ungleichheiten und Hierarchisierungen entstehen, wie Wichtigtuer groß werden, wie in Gruppen Einschlüsse und Ausschlüsse geschehen, eine Satire über Mitläuferei und das Mobbing von Schwachen durch die Starken. Napoleon, das gerissene, schlaue Schwein, das sich zum Diktator über die kurzzeitig befreiten Tiere aufschwingt, ist einerseits Stalin, aber andererseits auch eine Satire auf uns alle, kurzum: dass zuviel Schwein in uns sein mag, um eine Gesellschaft der Freundlichkeit hinzukriegen. An vielen Stellen seines Werkes bemerkt Orwell – den wir auch einen Autor der Vernünftigkeit nennen können – wie berechtigte Anliegen im Widerspruch zueinander geraten können, sodass wir schwierige Zielkonflikte ausbalancieren müssen. So schreibt er etwa, dass wir einerseits Kommerzialisierung und einen kapitalistischen Wohlstand, bei dem sich alles nur mehr um das Haben dreht, satt haben, und auf der anderen Seite wissen, wie notwendig die fortschreitende Industrialisierung ist, um die einfachen Leute und die unteren Klassen aus dem Elend zu erheben. Bei Orwell war schon viel grün im rot, bevor das Common Sense wurde. Die Arbeiter des Westens werden für den Sozialismus gewonnen, indem man ihnen sagt, sie seien ausgebeutet, während sie im Weltmaßstab gesehen selbst „Ausbeuter seien“, eine Wahrheit, die geflissentlich übersehen werde, formulierte Orwell. Orwell nahm sich jede Phrasen-Konstruktion vor, indem er eine Karte nach der anderem aus dem Kartenhaus zog, bis es zusammenbrach. Während über viele zeit- und gesellschaftskritische Autoren seiner Epoche die Geschichte hinweg gegangen ist, kann man die allermeisten von Orwells Kolumnen und Essays heute noch mit sehr viel Gewinn lesen, manche klingen so zeitgemäß, dass man ihnen kaum anmerkt, dass sie achtzig oder neunzig Jahre alt sind.

Ein kämpferischer Sozialist

Orwells Schreiben war lebendig, klar und überzeugend, er war gewissermaßen der Weltmeister des Hausverstandes, und das einzige Schlimme, was die Nachwelt ihm angetan hat, ist, ihn in einen beinahe unumstrittenen Autor zu verwandeln, Pflichtlektüre für die gymnasiale Oberstufe. Orwell war der unbestechliche freie Mann, der den Selbstbetrug zum Zwecke einer größeren Sache ablehnte und am Betrug anderer nicht mitmachte. Er war von Zynismus nicht frei, aber das zynische Vernützen von Menschen war ihm zuwider. Er war gewissermaßen der nichtzynische Zyniker. Klares Denken, gutes Schreiben und allgemein verständliche Ideale, davon bräuchte es auch heute noch mehr.

„Was ich in den vergangenen zehn Jahren mehr als alles andere versuchte, war, das politische Schreiben in eine Kunst zu verwandeln“, resümierte Orwell in seinen letzten Lebensjahren, und gegenüber den vielen, die ihn immer wieder für die herrschende Ordnung und gegen die Linken missbrauchen wollten, stellt Orwell prophylaktisch und unmissverständlich klar: „Jede Zeile ernsthafter Produktion, die ich seit 1936 geschrieben habe, wurde, direkt oder indirekt, gegen den Totalitarismus geschrieben und für den demokratischen Sozialismus, wie ich ihn verstehe.“

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