Die große Verwirrung: Warum manche Friedensdemonstranten so klingen, als wären sie Putin-Agenten.
NZZ, März 2023
Ich bin fast mein Lebtag ein Linker, aber die Verniedlichung von Autokraten war mir nie richtig begreiflich. Ich erinnere mich an 1981 – ich war damals ein junger Radikaler – als in Polen das Kriegsrecht gegen die Arbeiterwiderständler der Solidarnosc und die Demokratiebewegung verhängt wurde. Natürlich demonstrierte ich mit meinen Freunden gegen diesen diktatorischen Gewaltakt, und ich erinnere mich, dass wir damals gemeinsam mit Konservativen protestierten. Glücklicherweise war Winter, so haben wir unsere rechten Mitstreiter, etwa dem späteren christdemokratischen Vizekanzler Erhard Busek, ein wenig mit Schneebällen bewerfen können. Das war unsere Form der Abgrenzung damals, ich war ja gerade erst 15. Wenige Jahre später, ich war schon Journalist und hatte mich zu einer Art gemäßigtem radikalen Linken gewandelt, hockte ich im Keller des Prager Laterna Magica Theater, es waren die erregenden Tage der „Samtenen Revolution“, auf der Bühne saßen Vaclav Havel und Alexander Dubcek, und als sie im Reden waren, wurden sie von der Nachricht unterbrochen, dass das Präsidium des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei geschlossen zurückgetreten wäre. Alle jubelten, auch die Journalisten hielt es nicht mehr auf den Stühlen, wir lagen uns in den Armen. Es kommt nicht oft im Leben vor, dass man gemeinsam mit den Revolutionären die Nachricht vom Sieg ihrer Revolution erhält. Am nächsten oder übernächsten Tag saß ich übernächtig im Wohnzimmer von Petr Uhl, den ich stets als meinen geistigen Mitstreiter betrachtet habe, und sagte ihm Willkommen in der Freiheit. Er hatte nach 1968 die „Bewegung der revolutionären Jugend“ gegründet, saß insgesamt elf Jahre im Gefängnis (mehr als jeder andere tschechische Dissident), und war gerade erst am Morgen aus seiner letzten – kurzen – Haft entlassen worden.
Warum ich Sie mit diesen Anekdoten behellige? Weil es mir stets unerklärlich erschien, wie man als Linker den Husaks und Honeckers die Daumen drücken konnte und nicht den Demokraten, Geknechteten und Widerständigen.
Nun ist der Begriff „Linker“ natürlich eine grobkörnige Hilfsvokabel, die recht viel umfasst, von modernistischen Progressiven über leicht nostalgische Sozialdemokraten, von antiautoritären Kommunisten bis Viertel- und Semi-Stalinisten, von jungen leidenschaftlichen Antirassisten bis zu graubärtigen Menschenrechtlern und volkstümlichen Gewerkschaftern, von Bernie Sanders bis Milo Rau, von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht bis Alexandria Ocasio-Cortez oder Elfriede Jelinek. Das sollte man im Bewusstseins-Hintergrund halten, wenn von „den Linken“ die Rede ist. Es sollte immer nachgefragt werden: Wer genau ist damit jetzt gemeint? Dies vorausgeschickt, darf konstatiert werden: Die Linke hat ein Problem mit dem Verteidigungskrieg der Ukraine gegen Russland, sie hat aber auch ein Problem mit ihrer Haltung zum Putin-Regime selbst. Und kleine Teile der Linken haben damit ein sehr großes Problem.
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Es wird etwa vom „Frieden“ geredet, aber es ist oft erkennbare Phrasendrescherei, und zwar nicht nur, weil es bekanntlich schwierig ist, mit jemandem zu verhandeln, der gekommen ist, um dich zu ermorden. Häufig wird knapp und pflichtschuldig die russische Invasion verurteilt, nur um dann sofort in einen „Bothside-ismus“ überzuleiten, der beide Seiten anklagt oder sogar in lange Suadas mündet, bei denen dann regelmäßig so getan wird, als hätte die Ukraine mit Hilfe des ruchlosen Westens Russland angegriffen, als stünden nicht russischen Invasionsarmeen auf ukrainischem Territorium, sondern umgekehrt, ukrainische auf russischem. Gelegentlich wird dem Angegriffenen, der sich bloß wehrt, vom hohen Ross herunter geraten, er möge sich ergeben – und massakrieren oder zumindest unterjochen lassen. Auch der Protest gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ist nur eine Spielart dieser Empfehlung, da die Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der einen Seite logischerweise die andere Seite begünstigt. Hinzu kommt: Um der bequemen Wirtshausweisheit, zwischen zwei Raufbolden würde die Schuld schon gleichmäßig verteilt sein, wenigstens eine oberflächliche Stringenz zu verleihen, muss die autokratische Natur des Moskauer Regimes verleugnet, dessen faschistoide Rhetorik ignoriert werden. Wir sind mit der menschlichen Eigenart vertraut, dass man, um seine eigenen Meinungen vor sich selbst zu rechtfertigen, sich die Wirklichkeit ein wenig zurechtbiegt. Sogar neutrale Staaten neigen dazu, sich einzureden, dass bei Kriegen beide Seiten gleich schlimm seien, damit ihre moralische Unentschiedenheit in einem nobleren Licht erscheint. Sie kennen das.
Die linken Seltsamkeiten haben viel mit ideologischen Prägungen zu tun, die weit in der Vergangenheit liegen. Die sozialistische Sowjetunion war in den zwanziger Jahren durchaus ein Leuchtturm eines emanzipatorischen Sozialexperimentes, jedenfalls schien sie das zu Beginn auch für viele schlaue Linke zu sein. Schon bald geriet die angebliche Räterepublik aber auf diktatorische Abwege, nicht erst mit Stalin, aber mit der Stalinisierung dann endgültig. Danach setzten eine Reihe von Mechanismen ein: Erstens, die Leugnung des stalinistischen Terrors. Zweitens, dessen Rechtfertigung. Viele Linke mussten sich winden und ein Phrasengerüst zurechtlegen, da ja Linke seit jeher autoritäre Herrschaft bekämpft hatten, gemäß des Marx-Diktums, demzufolge es gelte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Man musste sich winden und lavieren, wollte man der stalinschen und Post-Stalinistischen Sowjetunion die Treue halten. Etwa, dass das Ziel schon der befreite Mensch sei, aber zeitweilige Härten unvermeidbar wären. „Wo gehobelt wird, da fliegen Späne“, war die Volksweisheit, die man sich dafür zurechtschnitzte. Im Krieg gegen Nazis und Faschismus war es auch mehr als nachvollziehbar, der Sowjetunion die Stange zu halten. Später, im Kalten Krieg, war die Dichotomie eine andere, hier wurde ein sowjetischer Orbit mit seinen lässlichen „Fehlern“ dem westlichen Imperialismus gegenübergestellt. Diese Blockrivalität wurde in einem Schwarz-Weiß-Bild gemalt, in dem die sozialistische Seite möglichst hell, die imperialistische Seite möglichst düster dargestellt werden musste, damit die Politbürogreise mit ihren Stasileuten und Tschekisten zumindest ein besseres Phantasiebild abgaben als, sagen wir, Lyndon B. Johnson oder Jimmy Carter. Demokratische Sozialisten nahmen aber hier immer eine andere Position ein, auch andere unabhängige Linke, und den Sound dazu lieferten Bands wie die britischen „Red Skins“ mit ihrem Album „Neither Washington Nor Moskow“.
Eines ist aber unbestreitbar: Eine gewisse zärtliche Nachsicht mit der autoritären Welt von Breschnew und Honecker zog sich durch viele Milieus der Linken während dieser historischen Konstellation. Es ist unschwer zu erkennen, dass antiliberale Affekte, mit denen man entartete Sozialismen sowjetischer Bauart gerechtfertigt hatte, heute emotional einfach auf den rechtsextremen KGB-Mafia-Kapitalismus übertragen werden, den Putin etabliert hat. Als wäre Putins Russland, das von der AfD über die FPÖ mit allen Rechtsextremen Europas paktiert, noch immer irgendwie eine späte Abart von Sowjetunion. Putin versteht diese Klaviatur auch gut zu bedienen, er ködert die Blochers dieser Welt mit seinem Kampf gegen Wokeness und für traditionelle christliche Werte, und die Linken umgarnt er, in dem er sich als Widerstandskämpfer gegen westliche imperialistische US-Dominanz darstellt. Skurril, aber es hat in manchen Milieus Wirkung.
Tatsächlich kann man das alles nur verstehen, wenn man es auch als eine „Geschichte von Gefühlen“ begreift – man hängt so irgendwie an Russland, weil dort lange die rote Fahne mit Hammer und Sichel wehte.
Die zweite historische Prägung ist das Verhältnis der Linken zum Krieg. Die Linken waren nie für „Gewaltfreiheit“, zumindest nicht prinzipiell, da ja die Idee der Revolution schwer als Gefecht mit Wattebäuschchen oder als Polsterschlacht vorstellbar war. Aber die Linke war antimilitaristisch und gegen nationalistische Kriege. Erstens, weil sie internationalistisch empfindet, und zweitens, weil in prägenden Jahrzehnten des 19. Jahrhundert Kriege vor allem imperialistische Gemetzel zwischen autokratische Imperien waren. Auch der bürgerlichere Pazifismus, jener der Weltfriedensligas und von legendären Figuren wie etwa Berta von Suttner, war in dieser historischen Konstellation entstanden, etwa nach der Erfahrung des Russisch-Osmanischen-Kriegs. 1889 veröffentlichte Suttner ihren Roman „Die Waffen nieder“. Die Sozialisten sprachen sich dafür aus, im Falle eines Krieges diesen durch Streiks und Aufstände zu bekämpfen, was dann 1914 nicht gelang und ein historisches Trauma darstellte. Radikale Linke wie Lenin und Karl Liebknecht gaben die Maxime „der Hauptfeind jedes Volkes steht in seinem eigenen Land“ aus. Lenin rührte die Trommel übrigens von Zürich aus, wo er im Exil in der Spiegelgasse 14 wohnte, nicht weit von dem Eckhaus, wo zur selben Zeit das dadaistische Cabaret Voltaire gegründet wurde. Und in Zimmerwald nahe Bern trafen sich die sozialistischen Kriegsgegner aus der halben Welt.
Diese Anti-Kriegs-Haltung ist Teil der DNA der Linken, auch wenn später signifikant andere Umstände entstanden: nicht Kriege zwischen Imperien und Autokratien, sondern zwischen Weltanschauungen und Wertehaltungen. Im spanischen Bürgerkrieg standen Demokraten und linke Republikaner gegen Francos Faschisten, im Zweiten Weltkrieg die Alliierten gegen die genozidalen Nazis, in den antikolonialen Befreiungskriegen – wie etwa dem algerischen gegen Frankreich – unterdrückte Nationen gegen die Imperien, die sie versklavt hatten. Der Antimilitarismus eines Liebknecht funktionierte unter diesen Bedingungen nicht mehr wirklich. Äquidistanz war keine moralische Haltung, sondern vielmehr bequem, denkfaul und unmoralisch. Damit ist klar geworden: Es hängt schon sehr von den Umständen ab, und einmal kann eine pazifistische Haltung die „richtige“ sein, ein andernmal die Unterstützung von unterjochten Gesellschaften in ihren Verteidigungs- oder Befreiungskriegen.
Heute gehen all diese Gefühle, verwehten Instinkte, widersprüchliche Prinzipienbruchstücke, vernünftige und unvernünftige Überzeugungen die seltsamsten Mischungen ein, sodass einfach ziemlich viel Verwirrung herrscht. Auch wenn Linke keine Pazifisten sind, so hassen sie natürlich den Krieg. Und in der wirklichen Welt – das ist vielleicht die linke Spielart von „Realpolitik“ – sind schwierige Abwägungen und Balanceakte gefragt. Man wird, wenn immer möglich, Kriege zu vermeiden suchen, gelegentlich auch um den Preis von Kompromissen mit schlimmen Fingern. Wenn man gegen alle Feinde der Freiheit Krieg führen würde, würde die Welt in Gewalt untergehen und die Freiheit höchstwahrscheinlich keinen Millimeter vorankommen. „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“, formulierte Willy Brandt. Der Befreite hat nichts von der Befreiung, wenn er nach der Befreiung tot ist. Der Realismus lehrt, dass man im Notfall natürlich auch mit dem Teufel zu verhandeln hat, aber ebenso, dass sich mit bewaffneten Gangstern besser verhandelt, wenn man selbst bewaffnet ist. Moralische Klarheit und Besonnenheit widersprechen sich nicht. Ja, praktisch alle Kriege enden mit Verhandlungen. Selbst gerechtfertigte Verteidigungskriege können in Stellungskriege erstarren, bei denen die Freiheit keinen Millimeter mehr gewinnt, aber zig-tausende Menschen ihr Leben verlieren. Wer sagt, dass das dann durchaus der Moment für Verhandlungen sei, ist nicht automatisch ein Putinknecht oder Autokraten-Büttel.
Es ist ratsam, bei all dem auf die Obertöne und Nebenklänge zu achten.