Die Staatsfeindin

Modern und Reaktionär: Margaret Thatcher, die Mutter des radikalisierten Konservatismus.

ARTE-Magazin, Juni 2023

Wenn verrentete Staatsführer ein hohes Alter erreichen, legt sich über manches scharfe Urteil oft ein rosaroter Schleier der Milde. Margaret Thatcher dagegen polarisierte über ihren Tod hinaus. Nachdem die seinerzeitige britische Premierministerin 2013 verstorben war, sangen die Fans des FC Liverpool Schmählieder, der Song „Ding-Dong, The Which is Dead“ („Ding-Dong, die Hexe ist tot“) stürmte gar bis auf Platz zwei der Charts.

Thatchers Geist lebt sowieso bis heute weiter.

Sie bekämpfte die Konsenspolitik – den „middle Way“ – ihrer Parteifreunde, und schuf so etwas wie eine moderne Art, reaktionär zu sein. Denn der Nachkriegskonservatismus, sowohl in Kontinentaleuropa, als auch auf der britischen Insel, als auch in den USA war entweder moderat und wohlfahrtsstaatlich gewesen, oder eine Angelegenheit verstaubter Ewiggestriger, die mit der modernen Zeit nicht klar kamen. Und dann kam da Margaret Thatcher, erst als Tory-Chefin, ab 1979 als Premierministerin. Dass bald danach mit Ronald Reagan auch noch ein Geistesverwandter in den USA Präsident wurde, erleichterte die Begründung einer Ära.

In den USA war davor eine neue Spielart des radikalen Konservatismus entstanden, die „Neo-Konservativen“. Dessen Protagonisten lehnten Sozialstaat, Kompromisse und Mäßigung ab, hielten den freien Markt und seine Tugenden des Wettbewerbs hoch, feierten einen extremen Individualismus, und verdammten zugleich die linke Gegenkultur, die 68er mit ihrem „selbstzerstörerischen Nihilismus“. Im Unterschied zu Konservativen vorsichtigen Schlages waren sie Radikale. Mit den wirtschaftsliberalen Theorien ihrer Säulenheiligen wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman hatten sie alle nötigen Zutaten für ein geschlossenes ideologisches System rechter „Staats-Feindschaft“ im buchstäblichen Sinn.

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Thatcher schlug genau in diese Kerbe. „There is no such thing as society“ war einer ihrer berühmtesten Aussagen: „ So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur individuelle Männer und Frauen und Familien.“ Die Wirtschaft werde sich besser entwickeln, wenn man den Marktkräften freie Bahn schlägt und dem Wettbewerb zwischen Individuen – „Männern und Frauen“ – keine Grenzen auferlegt. Wer von einem „Miteinander“ träume sei letztlich ein gefährlicher Spinner, der mit Staatsintervention nur Schaden anrichten werde. Die Welt ist ein feindlicher Ort, auf dem ein Kampf aller gegen alle tobe, weshalb die einzigen funktionierenden Schutzzonen die Familien seien.

Wie alle radikalen Ideologen sah sich Thatcher berechtigt, gegen hemmende Kräfte rigoros vorzugehen, etwa gegen die Gewerkschaften, denen sie im Bergarbeiterstreik den Rücken brach. Was im Menschenbild die Individuen, war ihr im Weltbild die Nation, weshalb sie innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (dem Vorläufer der Europäischen Union) die Interessen Großbritanniens mit legendärer Ruppigkeit vertrat. Den Kosenamen „Eiserne Lady“ trug sie mit Freude. Ihr Kampfruf gegen Brüssel lautete: „I want my Money back.“

Doch wie jeder erfolgreiche Ideologe hat auch Thatcher nicht nur mit negativen Botschaften, Angstparolen und eiserner Faust reüssiert. Ihre Privatisierungspolitik bewarb sie nicht damit, dass diese die Reichen noch reicher machen würde, sondern mit dem Versprechen, sie würde die Briten zu einem Volk von Eigentümern machen. Thatchers Pro-Kapitalismus war plötzlich „modern“, während Sozialismus, Sozialdemokratismus oder humanistisches Gerechtigkeitsgeschwafel als verstaubt und vorgestrig klang. Die Frau mit Betonfrisur und schwingender Handtasche war auf seltsame Weise die Verkörperung der „Yuppie“-Epoche, deren Spieltrieb und Kampfesstimmung. Sie war „Zeitgeist“, auch wenn man ihr das nicht ansah.

Thatcher war auf schräge Weise Avantgarde: Die Führsprecher der marktliberalen Schocktherapie in Osteuropa nach 1989, die antieuropäischen Brexitiers, die scharf nach Rechtsaußen strebenden „radikalisierten Konservativen“ unserer Tage, die Trumps, Orbans und Vaclav Klaus, die Wölfe der Wall-Street und Populisten der Main-Street, sie alle sind Zöglinge der Frau mit der Handtasche, die bekundete, dass der Sozialstaat unmoralisch sei, weil er die Menschen verweichliche, die Begierigen hemme und die Faulen belohne.

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