Demokratie im Betrieb

Unternehmen mit guter Mitbestimmungskultur sind häufig erfolgreicher – die Belegschaft ist engagierter und identifiziert sich mehr mit der Firma.

Arbeit & Wirtschaft, Oktober 2023

„Führen ohne Chef“, so werden manche neuartige Organisationsmodelle in Unternehmen schon in Branchen- und Consultingportalen angepriesen. So rosarot und basisdemokratisch ist das dann natürlich in der Regel nicht, aber oft steigt das Betriebsklima merklich. Berater und Coaches legen autokratischen Kontrollfreaks daher längst nahe: „Loslassen lohnt sich!“

Botschaft: Chefs, schafft Euch ab!

En vogue ist heutzutage etwa das Führungskonzept der Holokratie. Anders als in hierarchischen Strukturen mit starren Abteilungen – Abteilungsleitern, Stellvertretern, Mitarbeitern – treten kreisförmige, flexible Strukturen, die sich auf wechselnde Aufgaben anpassen können. Mehr „Basisdemokratie“ und „Selbstorganisation“ verspricht das Organisationsmodell. Und eine für das Unternehmen günstige Anpassungsfähigkeit, die von den Beschäftigten weitgehend selbst erledigt wird.

Beispiel: Das Linzer Elektronikunternehmen KEBA. „Die Umstellung funktionierte fast reibungslos“, erzählt Betriebsratsvorsitzender Tom Metschitzer. „Der Betriebsrat war von Beginn an involviert. Ich hatte irgendwann sogar die Sorge: Habe ich etwas übersehen? So etwas kann doch nicht ohne Konflikte ablaufen!?“

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Rund 1200 Beschäftigte hat die Keba heute alleine am Standort Linz, ein großes Unternehmen des produzierenden Gewerbes – vor allem Steuerungstechnik und Automatisierungslösungen werden hergestellt, etwa für Industrie oder Energiebereich, Robotik, Bankautomaten, Heizungssteuerung und vieles mehr. Ein solches Unternehmen muss flexibel auf schnelle Änderungen der Auftragslage und Veränderungen des Marktes reagieren. Starre Hierarchien wurden durch wendigere („agile“) Führungs- und Organisationsstrukturen ersetzt, nach dem Prinzip holokratischer Kreisstrukturen. Innerbetriebliche Konflikte haben deutlich abgenommen. Hierarchie gibt es immer noch, aber sehr flache, und der gesamte Prozess der Reform wurde von Vorstand und den Mitarbeitern über alle Abteilungen und alle Ebenen umgesetzt.

Eine Betriebskultur, die, so berichtet Metschitzer, heute auch dem Unternehmen nützt, weil sich das herumspricht „und es oft schon ein Anreiz ist, zur KEBA zu kommen“.

Ein Glücks-, ein Sonderfall, nicht verallgemeinerbar, würden jetzt wahrscheinlich viele sagen. Ein Unternehmen in einer Boombranche, das gut verdient, mit hoch qualifizierten Mitarbeitern und Fachkräften mit viel Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt. Zugleich ist das Unternehmen mit 1200 Mitarbeitern am Standort und 2000 Mitarbeitern weltweit sehr groß.

Mitbestimmung, innerbetriebliche Demokratie, Demokratisierung der Arbeitswelt, ja, sogar „Wirtschaftsdemokratie“ – das waren einmal vieldiskutierte Themen. In den Veränderungsepochen der 1960er und 1970er Jahren waren diese Begriffe Code-Wörter für radikale Reformen: Dass die Demokratie vor Betriebstoren nicht halt manchen dürfe.

Im österreichischen Betriebsverfassungsgesetz ist die institutionelle Mitbestimmung klar geregelt: Die Rechte von Betriebsräten, deren Mitwirkungsmöglichkeiten. In Deutschland ziehen Betriebsräte von großen Konzernen häufig auch in den Vorstand ein. In Österreich spielen Betriebsräte im Aufsichtsrat oft eine wichtige Rolle. Doch neben der institutionellen Mitwirkung und dem Co-Management spielt auch die Mitbestimmungskultur von Unternehmen eine große Rolle – jenseits des formal geregelten.

Für Mitbestimmung spricht zunächst, dass sich autokratische Managemententscheidungen oft „gegen die Interessen von Beschäftigten (richten), obwohl diese durch ihre Arbeit den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens erst möglich machen“, formulierte etwa der deutsche Gewerkschafts-Vordenker Lothar Wentzel. „Das will Wirtschaftsdemokratie ändern.“ Klaus Dörre, der Jenaer Soziologe, ergänzt, Menschen haben ein Bedürfnis nach „Ausweitung individueller Freiheit“. Alle Erfahrung zeigt, dass Unternehmen mit einem hohen Grad an betrieblicher Mitbestimmung in mittlerer Frist bessere Arbeitsbedingungen haben werden. Die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten ist dann höher und die Identifikation mit dem Unternehmen. „Für mich ist die Frage: Ist die Arbeit demokratieverträglich, ist sie sogar in sich demokratisch organisiert?“, sagte der Sozialphilosoph Axel Honneth unlängst im A&W-Gespräch.

Nicht selten müssen im Zuge von demokratischen Organisationsreformen die Führungskräfte betriebspsychologisch betreut werden. Denn schließlich fragen sich Vorstandsmitglieder und Abteilungsleiter leicht: Wozu braucht es mich eigentlich noch, wenn die Mitarbeiter sowieso die Dinge besser selbst organisieren?

Stefan Satzinger ist Betriebsrat bei Siemens Healthineers mit Sitz in Linz, einer Tochter des Siemens Konzerns. Als Betriebsrat hat er sich in das Thema Datenschutz eingegraben. Denn grundsätzlich droht in einer stark digitalisierten Produktion der gläserne Mitarbeiter, und die Kolleg*innen sind voller Sorge. Kann man sich darauf verlassen, dass E-Mails nicht gelesen und elektronische Datenspuren nicht gesammelt werden? „Big Data ist natürlich ein firmeneigener Schatz“, sagt Satzinger, und als zuständiger Betriebsrat muss man sich in die Thematik eingraben, zum Forscher werden, weil man stets auch mitbedenken müsse, „was irgendwann möglich sein könnte“. Satzinger: Die Kolleg*innen müssen sich darauf verlassen können, „dass anonym auch anonym bleibt“.

Der Betriebsrat ist ein gutes Beispiel dafür, wie Mitbestimmung positive „Spill-Over“-Effekte für das Unternehmen selbst hat. Siemens produziert nicht nur das technische Equipment für bildgebende Verfahren (MRT, CT, Ultraschall), sondern auch die Serverinfrastruktur und die Zugriffsmöglichkeiten für Ärzte, Spitäler. Auch hier ist der Datenschutz absolut essentiell, schließlich handelt es sich um heikle Patientendaten. Die Expertise, die die Belegschaftsvertretung aufgebaut hat, „hat der Firma dann auch viel gebracht“.

Digitalisierung ist für Betriebsratsarbeit längst ein zentrales Thema, das auch die Mitbestimmung berührt. Als vor einem Jahr bei den KV-Verhandlungen Kampfmaßnahmen im Raum standen und es eine Betriebsversammlung einberufen wurde, wurde die über Teams durchgeführt. Satzinger: „Aber das mache ich ungern.“

Betriebsratsarbeit braucht den persönlichen Kontakt. In dezentralen Unternehmen, in einer Ära, wo viele im Home-Office sitzen, werden die Fäden des Vertrauens lockerer. Auch die informellen Initiativen der Beschäftigten funktionieren schlecht, wenn man sich nicht mehr zu einem Gespräch in der Kaffeeküche treffen kann.

In Deutschland sorgte unlängst der Streik beim Windanlagenhersteller Vestas für Aufsehen. Der größte Teil der Beschäftigten sitzt praktisch im Homeoffice oder ist auf Montage im gesamten Bundesgebiet verstreut. Mit 123 Streiktagen war es der längste Arbeitskampf in der IG-Metall-Geschichte. Die Streikführung baute sich jeden Tag vor dem Betriebstor auf – und schaltete die Kollegen zur „Online-Streikversammlung“ dazu.

Ein Streik, per Zoom quasi.

Geht man in der Universität Wien beim rechten Seiteneingang in die geschichtsträchtigen Gemäuer, dann kommt man gleich zum Auditorium Maximum, wo große Geister gelehrt haben und Generationen von Studierenden mit heißen Herzen ihre politischen Kämpfe ausgefochten haben. Linke Rebellen haben es alle paar Jahre besetzt, die „Schmetterlinge“ haben hier legendäre Konzerte gespielt, etwa die „Proletenpassion“, in der der Ruf „wir wollen mehr Demokratie“ ein eingängiger Refrain ist. Gleich neben dem Audimax ist ein kleines dunkles Kammerl – der Besprechungsraum des Betriebsrates. Marion Polaschek ist stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, zuständig für das „allgemeine Universitätspersonal“. Also: Nicht für Professor*innen und sonstige Lehrende, sondern für alle anderen. Von den Buchhaltern über die Projektmangerinnen, von Technikerinnen, Laborangestellten bis zum Facility Management. Die Universität Wien ist eines der größten Unternehmen der Stadt und seit Anfang des Jahrtausends als privatrechtliches Unternehmen organisiert. Aus Beamten wurden Angestellte. Aus der Personalvertretung ein Betriebsrat. Dutzende Besoldungsstufen wurden in ein einfacheres System überführt.

Universitäten sind schon von ihrer Kultur her „sehr elitär“, sagt Polaschek, und „extrem hierarchisch“. Professoren waren früher einmal quasi halbe Götter, Dekane blickten auf das Fußvolk herab. Diese Kultur verschwindet nicht in ein paar Jahrzehnten. Die „Unternehmensleitung“, also das Rektorat, ist zwar das Gegenüber der Belegschaftsvertretung – aber oft geht es um Geld, und das ist knapp. Schließlich bestimmt die Politik über die Höhe der verfügbaren Mittel. In den Universitätskulturen hat sich eine radikale Prekarität breit gemacht, mit projektbezogenen Anstellungen und beinahe prinzipiellen Befristungen. Vor allem der Mittelbau des wissenschaftlichen Personals muss alle paar Jahre die Universität wechseln. Polaschek: „Diese Prekarität schwappt auf den gesamten Betrieb über. Auch viele Beschäftigte bei temporären Projekten haben nur befristete Verträge. Aber die Befristungen sind der Tod jeder Mitbestimmung.“ Wer weiß, dass er in drei Jahren nicht mehr im Unternehmen ist, wird sich kaum in den Betriebsrat wählen lassen, dessen Funktionsperiode fünf Jahre dauert. „Und wer in einer instabilen Beschäftigung ist, der oder die wird eher seltener Konflikte riskieren oder den Kopf zu sehr rausstrecken.“

Der Soziologe Hubert Eichmann erforscht beim FORBA-Institut die Gegenwart und den Wandel der Arbeitswelt und zeichnet ein differenziertes Bild von den Mitbestimmungskulturen. Es gibt, gerade in großen Konzernen, ein häufig perfektioniertes System bis hin zum Co-Management. Rund 85 Prozent der Unternehmen mit mehr als 200 Beschäftigten haben einen Betriebsrat. Kleinere Unternehmen haben oft keinen. Ebenso sehr kommt es auf den Mitbestimmungskultur an, denn in kleinen Unternehmen „mit Face-To-Face-Kultur“ (Eichmann), machen sich das Chefs und Kollegenschaft oft gut untereinander aus. Tatsächlich haben recht kleine und recht große Unternehmen die beste Mitbestimmungskultur. Und am schlechtesten sieht es bei den klassischen Mittelständlern aus.

All das variiert sehr nach Branchen. In größeren Hotels mit viel Fluktuation, in Handelsketten, wo die Beschäftigten in kleinen Filialen verstreut ist, ist institutionalisierte Mitbestimmung schwieriger als in großen Konzernen. Wer zur Kernbelegschaft zählt, wird eher gehört als die Peripheriebelegschaft, die über Leiharbeitsfirmen nur zeitweise ins Unternehmen kommt. „Unternehmen mit starker Mitbestimmung sind sicherlich erfolgreicher als solche mit weniger“, sagt Eichmann, „aber es ist natürlich nicht so klar, was da die Kausalität ist. Sind sie erfolgreicher, weil es Mitbestimmung gibt, oder sind sie erfolgreich, daher groß, und deswegen gibt es häufiger ordentliche Mitbestimmungsinstitutionen?“

In Studien berichten Beschäftigte in Unternehmen ohne Betriebsrat häufiger von Einkommensverlusten während der Corona-Pandemie als solche in Unternehmen mit Betriebsrat. Aber auch hier muss man natürlich fragen: Sind Branchen, in denen Beschäftigte, die besonders verletzlich waren, auch Branchen, in denen es seltener Betriebsräte gibt – oder sind die Beschäftigten besonders verletzlich, weil es weniger Betriebsräte gibt?

Mitbestimmungsformen gibt es viele. Eine Zeitlang war das Modell des „selbstverwalteten Betriebs“ ein geradezu utopisches Projekt. Manche Unternehmen dieser Art wurden sehr erfolgreich, aber oft ist die Übernahme von Betrieben durch die Belegschaft eine Folge von existenziellen Krisen des Unternehmens – nicht gerade ein Startvorteil. Andere Formen sind Genossenschaftsmodelle in den verschiedensten Ausprägungen. Gründer kleiner Startups wollen nicht unbedingt „Unternehmer“ und „Chef“ sein, also gründen sie Genossenschaften und stellen sich quasi bei sich selbst an. Eine der berühmtesten und erfolgreichsten Genossenschaften ist die Mondragon-Cooperative im Baskenland. Mondragon ist heute das sechstgrößte spanische Unternehmen mit 80.000 Mitarbeiter*innen.

Die Firma Merck, ein großes deutsches Technologieunternehmen hat mit dem Betriebsrat eine Vereinbarung geschlossen, dass die Belegschaftsvertretung andere Beschäftigte des Unternehmens quasi „kooptieren“ kann – so dass am Ende rund 100 Beschäftigte an der Betriebsratsarbeit mitwirkten. Dadurch verbesserte sich nicht nur die Kommunikation des Betriebsrates mit der Belegschaft, das Kompetenz- und Wissensniveau wurde in der gesamten Firma gehoben, zum Nutzen des Unternehmens. Und der Betriebsrat hat es zudem leichter, Nachwuchs zu rekrutieren. Denn wer schon einmal informell mitgemacht hat, der wird beim nächsten Mal vielleicht für eine formalisierte Funktion kandidieren.

Sven Rahner, Forscher an der Universität Kassel, hat vor einigen Jahren ein großes Buch mit dem Titel „Architekten der Arbeit“ herausgegeben, das in einer Fülle von Gesprächen „Organisationmodelle im flexiblen Kapitalismus“ untersucht. Er hat eine Schweizer IT-Firma aufgetrieben, die jedes Jahr das Management neu aus der Belegschaft wählt und damit beste Erfahrungen gemacht hat. Der ehemalige Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger etwa proklamiert: „Das Unternehmen der Zukunft wird demokratischer sein müssen als heute. Die Demokratie wird nicht mehr vor der Werkshalle oder der Bürotür haltmachen, sondern zumindest die operativen Führungskräfte werden von den Mitarbeitern gewählt werden.“ Heute, erzählt Rahner, sind gewisse Ambiguitäten auszumachen. „Gegenwärtig reden alle von den 3D, Demografie, Digitalisierung, De-Karbonisierung, aber Demokratie, das vierte D, wird dann gelegentlich vergessen.“ Tariflich gebundene Unternehmen mit guter institutionalisierter Mitbestimmung könnten auf die verschiedenen Weisen gefördert werden, sodass ein Anreiz zur Mitarbeiterbeteiligung entsteht, „andererseits zeigen viele Studien den Rückzug auf individuelle Problemlösungen, so dass man oft gar nicht mehr weiß, wie Solidarität organisiert werden könnte.“ So gibt es paradoxe Erscheinungen, etwa gute Arbeitsmarktdaten, aber zugleich sehr viel Pessimismus. Und die nötigen Transformationen – sei es durch die ökosoziale Transformation, sei es durch den üblichen Strukturwandel – können innerbetriebliche Sozialordnungen und Solidaritäten ordentlich erschüttern. Aber Gewerkschaften auch neue Möglichkeiten bieten.

Wenn etwa ein Unternehmen, das Verbrennungsmotoren herstellt, auf E-Mobilität umsatteln muss, dann fürchten viele Beschäftigte, dass sie möglicherweise auf der Strecke bleiben. Dann ist man plötzlich im Wettbewerb gegen den Kollegen und es kommt nicht so selten vor, dass jeder und jede versucht, selbst zu überleben.

Wie so häufig zeigt sich dann: Solidarität und ein Geist der Kooperation sind in so einem Moment eine große Notwendigkeit – zugleich aber besonders auf die Probe gestellt.

Ein Gedanke zu „Demokratie im Betrieb“

  1. ich war 25 Jahre Betriebsrat (Vorsitz),Gesamtbetriebsratsvorsitzender,und Mitglied im Euro Betriebsrat,
    So ein Amt ist nix für schwache Nerven.
    In meiner Amtszeit wurden 7 Kollegen ihres Amtes enthoben , teilweise durch Versetzung, Kündigung oder anderen Brutalitäten.
    Erst in Frankreich habe ich erfahren das dies am System liegt, da sind nämlich Gewerkschafter Betriebsräte und keine Lohnabhängigen.

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