Die Welt in Flammen, Brandherde überall. Lange glaubten wir Westler, die Welt dreht sich um uns. Aber das ändert sich gerade.
Die Älteren unter uns können sich noch an eine zweigeteilte, bipolare Welt erinnern, West versus Ost, USA versus Sowjetunion, zwei Machtblöcke, um die sich die allermeisten Nationen irgendwie zu gruppieren versuchten (oder dazu gezwungen waren), und ein paar wenige andere manövrierten dazwischen, die sogenannten „blockfreien Länder“. Danach gab es einige Jahre die Illusion einer „unipolaren Welt“, mit den USA als Zentrum. Die USA waren Hegemon. Sie konnten natürlich nie in den letzten Winkel der Welt hinein regieren, es gab viel Chaos, aber man konnte sich immerhin einbilden, dass die Idee und das politische System des Westens mehr oder weniger zum einzig tauglichen Modell geworden waren, an denen sich alle doch einigermaßen orientierten. Pluralistische Demokratie, kapitalistische Marktwirtschaft, Menschenrechte, all dem wollten die meisten Länder nacheifern, war man überzeugt. Und sei es bloß nach und nach.
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Schon damals wurde aber erstens gewarnt, dass eine unipolare Ordnung nie lange bestehen würde, und zweitens gab es genügend Stimmen, die die amerikanische Dominanz ablehnten. Sie sprachen davon, dass eine „multipolare Weltordnung“ doch besser sei. Ja, die Kritik an der unipolaren Herrschaft wurde mit den Begrifflichkeiten von Demokratie vorgetragen. Eine Welt, in der eine Supermacht dominiert, sei doch so etwas wie eine halbe Diktatur, oder eine Art neue Form von Kolonialismus. Eine Welt mit mehreren Zentren, die sich zusammenraufen müssen, aber auch im Konflikt zueinanderstehen, das würde doch eigentlich dem Geist des Demokratischen viel mehr entsprechen.
Jetzt haben wir eine multipolare Ordnung und sehen langsam, was das bedeutet: Rivalität, Konflikte, die überall entstehen. „Der Westen“ wird immer schwächer. Er ist innerlich gespalten. Taktik der Konfliktaustragung an einem Brandherd, ist häufig, in anderen potentiellen Brandherden zu zündeln, damit der taumelnde Westen noch mehr wankt.
Zugleich schließen die antiwestlichen Nationen Allianzen. Vor einigen Jahren war der Klub der „BRICS“-Staaten nur ein kleines Gegengewicht aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Mittlerweile ist die Gruppe Magnet für zwei, drei dutzend aufstrebende Nationen. Sie wollen nicht mehr bloß Gegengewicht sein, sondern neuer Hegemon. Der Konflikt in der Ukraine hat gezeigt, wie schwer es ist, westliche Positionen selbst befreundeten Staatsmännern wie etwa Brasiliens Präsident Lula da Silva zu vermitteln. Im Nahost-Konflikt ist der Westen noch viel mehr isoliert. Es ist eine Tatsache: Wir sind eine Minderheit, und westliche Versuche, der Welt eine Ordnung zu geben, sind zunehmend illusionär. Das ist aber selbst dann keine schöne Aussicht, wenn man westliche Hybris durchaus kritisch sieht. Denn eine Welt ohne strukturierende Ordnung, mit permanenten Konflikten, Chaos und Brandherden ist eine äußerst unkomfortable Welt.
Viele im Westen sträuben sich noch dagegen, die Dimension der Neuordnung zu begreifen, die gerade droht. Der indische Autor und Essayist Pankaj Mishra hat im jüngsten „Spiegel“ mit ungeschminkter Klarheit auf die Tatsachen hingewiesen, spricht von „Niedergang der von den USA dominierten Weltordnung“ und der wachsenden „Bedeutung der nicht westlichen Länder“. Schon im Ukraine-Konflikt war es dem Westen nur mehr in sehr beschränktem Maße gelungen, Verbündete zu gewinnen. „Tatsächlich haben die nicht westlichen Länder nicht nur ihre langjährigen Handelsbeziehungen mit Russland fortgesetzt, sondern, wie im Falle Indiens und Chinas, sogar vertieft. (…) Die Unkenntnis des Westens über das historische Selbstverständnis der Länder des Globalen Südens wird die Lage wahrscheinlich noch verschlimmern.“ Die Traumata von Kolonisierung, Entkolonialisierung und postkolonialer Abhängigkeit sitzen tief, dazu die Erfahrung einer westlichen Arroganz (die mittlerweile an Hybris grenzt), ergänzt durch jüngste Verbitterung (etwa die echte Wut über den Egoismus bei der Impfstoffverteilung während der Pandemie, als sich der Westen selbst am nächsten war). Aber es kommt zu all dem noch eines hinzu: Die nicht westlichen Länder sehen sich nicht mehr bloß als Opfer des Westens, sondern haben das Selbstbewusstsein eigener Stärke. Die „weit verbreitete Ablehnung der westlichen Parteinahme für Israel“ (Mishra) wird den Prozess schneller Isolation des Westens noch beschleunigen. „Putin hat längst die tief wurzelnde Bedeutung der antiwestlichen Stimmung in weiten Teilen der Welt erkannt. Und weil er sich absurderweise auch noch als Antikolonialist gibt, ist es ihm gelungen, dem Globalen Süden die Russen als historische Opfer des Westens zu verkaufen. Nun verurteilt er Israels ‚inakzeptable‘ Belagerung des Gazastreifens und vergleicht sie mit der Belagerung Leningrads durch die Nazis. Xi Jinping hat nicht einmal die abscheulichen Terrorakte der Hamas verurteilt.“
Umstände, mögen sie noch so unerfreulich sein, wird man nicht ändern, indem man sie ignoriert und nicht zur Kenntnis nimmt. Auf jeden Fall werden wir uns von dem Glauben verabschieden müssen, wir können sagen, wo es langgeht, und die anderen müssen sich an uns orientieren. Man wird Verständnis für „die Anderen“ brauchen, um die notwendigen Allianzen hinbekommen zu können. Fingerspitzengefühl, geduldige Überzeugungsarbeit, Diplomatie, auch ein Respekt vor Perspektiven anderer werden nötiger werden, gerade dann, wenn sie auch eine Wahrheit und eine Logik auf ihrer Seite haben. Denn eine Welt, die lichterloh brennt, wird kein schöner Ort sein. Verantwortungslos ist, wer da auch noch versucht bei uns zu zündeln.