Ranziges antiwestliches Ressentiment und westlicher Selbsthass machen die Luft nicht besser.
taz, August 2023
Unlängst haben wieder ein paar Schrullis für „den Frieden“ demonstriert, es wurden die obligatorischen russischen Fahnen geschwenkt, und einer hielt ein Schild hoch, in dem er anregte, Russland möge endlich Atomwaffen einsetzen. Das erinnerte mich an die Episode vor etwa zehn Jahren, als in Syrien die al-Nusra-Front (das waren seinerzeit die „gemäßigten Terroristen“), eine Handvoll UN-Blauhelme als Geiseln nahm und erklärte, sie würde sie nur freilassen, wenn sie von der UN-Terrorliste gestrichen würden. Genau mein Humor.
Heute ist viel von der „Krise des Westens“ die Rede. Es gibt so ein paar Begriffe, die kommen praktisch fix nur in Kombination mit dem Attribut „Krise“ vor.
Eine ewige Kompliziertheit ist es mit dem Westen: Er steht für die Idee der Freiheit, zugleich aber auch für Selbstverleugnung, Überheblichkeit und Verlogenheit. In Hegels Auffassung von der Geschichte der Philosophie wandert der Weltgeist von Osten nach Westen, wo er dann zu finaler Reife gelangt. Eine Selbstfeier von Aufklärung und Universalismus ist das, aber voller Überlegenheitsgefühle, was dann wiederum den Universalismus in Frage stellt. Also irgendwie westlich und antiwestlich zugleich. Aufklärung, Egalitarismus und White Supremacy wohnen seit je leider Tür an Tür.
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Wie die Verlogenheiten so gehört die Kritik an diesen zur Idee des Westlichen dazu, vielleicht ist ihr nobelstes Charakteristikum ja: sofort auch in den Modus der Selbstkritik zu schalten.
Je nach Epoche verschieden, ist der Westen doch Synonym für Freiheit, Volksherrschaft, das Antitotalitäre und die universalistischen Menschenrechte. So „irgendwie“, jedenfalls, aber so ist das mit fluiden Begriffen ja immer.
Osten hieß Zar und Autokratie, Westen hieß Magna Carta und französische Revolution. Osten hieß Absolutismus, Westen hieß Konstitution. Von Deutschland aus war Frankreich westlich, und zwar nicht nur geografisch. „Der gallische Hahn hat jetzt zum zweiten Male gekräht, und auch in Deutschland wird es Tag“, schrieb Heinrich Heine. Thomas Mann meinte bekanntlich in seiner antidemokratischen Frühzeit, der Westen sei Zivilisation, und die sei oberflächlich, während Deutschland für Kultur stünde, also etwas, das „aus der Tiefe kommt“. Demokratie wäre „mechanisch“, Kapitulation vor dem Diktat der bloßen Zahl, der Feind von „Männlichkeit“ und „Antifeminismus“. Nur wenige Jahre nach dieser antiwestlichen Suada machte Thomas Mann seinen Schwenk zum „Westler“ und Republikaner.
Später stand „Westen“ für Demokratie, Freiheit, aber zugleich auch Kapitalismus und US-amerikanische Dominanz, die Gegenseite für Stalinismus, Diktatur und eine Art von Sozialismus, der im Als-Ob lebte, der also behauptete, etwas zu sein, was er nicht war.
So gesehen eine interessante Spiegelbildlichkeit: Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges gab es eine Diskrepanz zwischen dem Behaupteten und der Realität. „Der Westen“ hielt Demokratie, Menschenrechte und Freiheit hoch und war zugleich Drahtzieher faschistischer Staatsstreiche wie in Chile und beging Kriegsverbrechen wie in Vietnam.
Diese Diskrepanzen sind Anlass zu bestens begründeter Kritik, die die Realität schonungslos an den unverwirklichten Idealen misst (zum Zwecke deren Realisierung). Zugleich sei, bemerkte schon George Orwell, das reale, wenn auch uneingestandene Motiv vieler Kritiker „der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus“. Kritik und ranziges Ressentiment werden gerne zusammengerührt.
Heute ist die Idee des Westens längst durch die antiwestlichen Bewegungen im Westen selbst herausgefordert, also durch die Orbans, Höckes, Kickls und Trumps. Die geopolitische Dominanz des Westens ist sowieso schon untergraben, die ökonomische hat ein Ablaufdatum, und die liberale Demokratie wird von Innen in Trümmer gelegt.
Es gibt einen regelrechten westlichen Selbsthass. Dieser redet die Errungenschaft von Rechtsstaat und Moderne klein, erklärt die erkämpften Liberalitäten zur Petitesse und betet den Common Sense nach, dass er Westen an allem schuld sei. Das ist die Gewissheit schlichter Gemüter, und zwar völlig unerheblich, was er konkret macht oder ob er überhaupt etwas macht, dieser ominöse Westen. Schuldig macht er sich, wenn Genozide nicht mit militärischer Gewalt gestoppt werden (wie in Ruanda und Anfangs in Bosnien-Herzegowina), und ebenso, wenn völkerrechtswidrig interveniert wird, wie in Libyen oder Afghanistan. Dass der Westen Putin so gekränkt hat, dass er gar nicht anders konnte, als die Ukrainer zu massakrieren, ist nur die irrsinnigste Konsequenz. Am Ende sind auch Mörder keine Mörder, sondern Leute, die einfach nicht anders konnten, da „wir“ sie gedemütigt und provoziert haben.
Richtig ist gewiss: Der westliche Lebensstil, auch der Wohlstand der Mittelschichten, geht auf Kosten der Welt. Im globalen Rahmen sind wir die Arschlöcher. Es gibt westliche Arroganz oder auch die ganz normale Ignoranz. Manche Dinge sieht man in Südamerika, in Afrika oder bloß nur am Balkan intuitiv anders als hier. Ratsam ist, den Ansichten des „globalen Südens“ Aufmerksamkeit zu schenken, die auch eine Folge der (post-)kolonialen Konstellation sind.
Aber beim genaueren Hinsehen stellen wir fest, dass dieser „Blick des globalen Südens“ auch nichts anderes als eine nichtssagende Leerformel ist. Was soll dieser „Blick des globalen Südens“ eigentlich sein? Der Blick der Hamas, oder eher der von Frantz Fanon? Der des Arbeiterführers Lula da Silva oder der des rechtsradikalen Bolsonaro? Der Blick von Frauen und Männern, die in Borneo gegen die Abholzung der Urwälder kämpfen? Der Blick von Xi Jinping? Der Blick Maduros oder doch eher der Arundhaty Roys? Der der mutigen Feministinnen im Iran oder der der Mullahs?
Der Westen als Idee ist in der Lage, Kritik und Selbstkritik aufzunehmen, und der „Blick des globalen Südens“ ist ein Hybride, in dem die Ideen der Menschenrechte und der Volksherrschaft und des westlichen Marxismus drinstecken. Antiwestliches Ressentiment, so die Vermutung, macht die Luft nicht besser.