Toni Negri, der italienische Philosoph und linksradikale Denker, ist mit 90 Jahren gestorben. Vor zwanzig Jahren habe ich im „Falter“ über seine Rückkehr ins Leben geschrieben.
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Mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse denken. Antonio Negri, der vielleicht paradoxeste Linksradikale unserer Tage, erzählt im Word-Rap über sein bewegtes Leben.
Eines, zumindest, versteht der Mann: zu verstören. „In Momenten der Angst fange ich an, an die Jungfrau Maria zu denken. Eine Art Aberglaube“, gesteht Toni Negri, „den ich habe, seit ich klein war.“ Wer hatte das gedacht: Der seltsamste Linksradikale der letzten Jahrzehnte sendet in schwachen Augenblicken Stoßgebete gegen den Himmel. Zu lesen ist das in einer sonderbaren Art von Autobiographie, dem feinfühligen Interviewband „Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens“, in dem Negri der französischen Journalistin Anne Dufourmantelle kluge Fragen über sein Leben und Denken beantwortet, dieser Tage im Campus-Verlag erschienen.
Negris „Rückkehr“ in die Gegenwart ist tatsächlich so etwas wie das vielleicht sensationellste Comback seit Lazarus. Nach Gefängnis, Exil, abermaligen Gefängnis gelang ihm mit dem Theoriewälzer „Empire“ ja (gemeinsam verfasst mit dem amerikanischen Literaturwissenschafter Michael Hardt) ein Weltbestseller. Ein Buch, nein ein Ereignis, das Einschlug in Proseminaren und in Rebellenzirkeln.
Dabei hat Antonio Negri, bald siebzig, eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Zuletzt hatte er mehr als Zeitzeuge gegolten denn als Zukunftsfigur. In den sechziger und siebziger Jahren war Negri führender Theoretiker der italienischen radikalen Linken, Denker der Militanz, mit Berührungspunkten zu den terroristischen „Roten Brigaden“. Wie eng die waren, ist immer noch im Dunkeln, auch wenn er sicher nicht „der Alte“, der Kopf der Terrorzirkel war, zu dem ihn die italienischen Strafverfolger stilisierten. 1979 wurde Negri – immerhin renommierter Politologieprofessor in Padua – verhaftet, weil er für den Mord an Aldo Moro verantwortlich gewesen sein soll, basierend auf Aussagen wahnwitziger Kronzeugen. Später ins Parlament gewählt und als politisch immun entlassen, setzte Negri sich nach Paris ab, wo er bis 1997 im Exil lebte. Nach seiner überraschenden, freiwilligen Rückkehr nach Rom wurde er abermals ins Gefängnis gesteckt, heute lebt er offiziell unter „Hausarrest“ in der italienischen Hauptstadt.
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Negri ist eine erstaunliche Type – und doch verschwindet, seit beinahe dreißig Jahren schon, hinter der hermetischen Begrifflichkeit von „Arbeiterautonomie“, „Planstaat“, oder später von „Mulitude“ oder „Exodus“ die Figur Negri. Gerade weil er so ein unfassbarer, schwer auf einen Begriff zu bringender Revolutionär war, renommierter Akademiker auf der einen, Theoretiker eines radikalen Kampfes gegen die Mechanismen der Disziplinierungen der „Neuzusammensetzung des Kapitals“, beißender Kritiker des Reformismus der italienischen Kommunistischen Partei, galt er dem italienischen Staat als der ultimative Staatsfeind Nummer Eins; und den meisten Linken als Exzentriker, irgendwie nicht ganz geheuer.
In „Rückkehr“ lugt nun erstmals der Ironiker hinter den Jargonjongleur hervor. Am Anfang hatte er eine „gewisse Sympathie“ für die Roten Brigaden, er habe „ihre Gründungsphase von innen miterlebt“, erzählt er nun, sich aber abgewandt, als sie anfingen „Verrücktheiten zu machen“. Als Anhänger der kämpfenden – und sich im Kampf verwirklichenden – „Arbeiterautonomie“ war Negri ohnehin nicht wirklich für das Desperadotum des Typus „Stadtguerilla“ anfällig, aber politische Gewalt war in Italien – diesem Sonderfall – der siebziger Jahre auch wieder kein Tabu, im Gegenteil. Bomben detonierten täglich, ob sie von den Geheimdiensten, Regierungshelfern, Links- oder Rechtsradikalen oder der Mafia gelegt wurden, war selten leicht durchschaubar. In diesem Klima entwickelte Negri seine ultralinken Ideen von den autonomen Subjekten, der Eigensinnigkeit der Kämpfenden usw. Da wurde eine kollektive widerständige Erfahrung beschworen und doch schimmerte schon ein radikaler Individualismus durch – die „Subjektivitäten“ sollten die Zwänge der kapitalistischen Apparatur abschütteln, einem irgendwie freien Leben wegen. „Arbeitersabotage“ gegen das „Unternehmer-Kommando“, das waren Schlüsselworte des frühen Negrischen Pamphletismus.
Jetzt ist Negri ein wenig alterweise, und freut sich, wie sehr hat sich die Realität seinen Weltdeutungen angenähert, wenn auch auf paradoxe, kuriose Weise. Die festgefügten Lager, Klassen und Identitäten haben sich aufgelöst – nicht weil die kämpfenden „Subjektivitäten“ das erstritten hätten, sondern weil es das Resultat des flexiblen, globalen Kapitalismus ist, der jetzt selbst die Vielfalt produziert, die Negri vor dreißig Jahren beschwor. Und Leute, die ähnlich dachten wie er, sind heute im Exil, im Gefängnis, wirken an einflussreicher Stelle oder bekleiden gar „Ämter in europäischen Regierungen“ (Negri). Da spielt Negri auf Joschka Fischer an, oder auf seinen einstigen Vertrauten Thomas Schmid (heute konservativer FAZ-Kommentator) oder, in völlig anderer Hinsicht wiederum, auf Andriano Sofri, eine Art italienischen Dany Cohn-Bendit, mit dem Unterschied nur, dass dieser nicht wie jener im EU-Parlament, sondern im Gefängnis sitzt.
Doch das Seltsame an dem zartgliedrigen, schlohweissen Denker ist nun: nichts, gar nicht, erfüllt ihn mit Zorn, wenig stört ihn, und im Grunde freut ihn, dass kam, wie es kam – schließlich beweisen gerade die erstaunlichen Lebenswege, welche Möglichkeiten sich eröffnet haben, verglichen etwa mit den bleiernen Jahren (außer für jene freilich, die den ganzen Preis zu zahlen hatten und noch immer im Gefängnis sitzen). Negri ist unabgeklärt und fröhlich-optimistisch. Das ist womöglich das Geheimnis seines Altersruhms. „Empire“ ist ja, anders als alle Jeremiaden von der Globalisierungsfalle, ein zukunftsfrohes Buch. Die Ich-AGs, die Nischenwerker, die Dynamik in der ehemals „Dritten Welt“, die Vielen, die, wie die Jungen sagen, „ihr Ding“ machen, sie sind für Negri die Pflänzchen jener Emanzipation, die er sich, ein bißchen anders zwar, vor dreißig, vierzig Jahren vorstellte. Über jene, die sich über das Verschwinden der klassischen Arbeiterklasse oder die Krise des Nationalstaates grämen, kann Negri nur lachen: „Es gibt kein zurück“. Und: „Es gibt eine unglaubliche Kreativität“.
Darum ist er aus dem Exil zurückgekehrt, weil es im Exil kein Leben, keine Leidenschaft gibt, etwas, wovor Negri offenbar die größte Angst hat. Und siehe da, plötzlich ist ihm wieder erlaubt, „in der ersten Reihe zu sein“. Das freut Negri sichtbar. „Das hatte ein bisschen etwas vom Baron Münchhausen, der sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.“
Negri ist, schießt einem da in den Kopf, womöglich der paradigmatische Linksradikale des Informationszeitalters: der Lobredner eigensinniger Subjektivitäten, wie sie die „Wissensgesellschaft“ zum Leben braucht. Negri, was immer man kritisches über ihn sagen mag, liebt es, mit den Verhältnissen gegen die Verhältnisse zu denken. „Das Schönste“, sagt er, „Ist es, ‚gegen‘ etwas zu denken, ’neu‘ zu denken“. Seiner prinzipiellen Perspektive ist, bei allem berechtigtem Widerspruch im Einzelnen, schwer zu widersprechen: dass es die Verhältnisse selbst sind, die jene Wünsche und Ambitionen inspirieren, die sich dann bisweilen als Rebellionen oder in Gestalt von Verweigerungsstrategien gegen diese Verhältnisse zurückwenden.
Antonio Negri: Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens. Campus-Verlag. Frankfurt/New York 2003. 237 Seiten.