Das soziale Netz schützt gegen Armut. Aber es stabilisiert auch die Wirtschaft, die Konjunktur, stützt unsere Gerechtigkeitsvorstellungen und sogar die Demokratie.
Arbeit & Wirtschaft, Dezember 2023
„Es ist nicht so“, sagt Katharina Mader, die Chefökonomin des „Momentum-Instituts“, „dass man eine florierende Wirtschaft für einen guten Sozialstaat braucht – sondern umgekehrt, dass man einen Sozialstaat für eine florierende Wirtschaft braucht.“ Das klingt im ersten Moment seltsam. Aber wenn man es genauer überlegt, dann steht die Tatsache recht klar vor Augen. Der Sozialstaat sorgt dafür, dass in Krisen nicht gleich die Nachfrage zusammenbricht, dass weniger Firmen in Insolvenzen rutschen, dass Belegschaften nicht sofort entlassen werden müssen. Und vieles mehr.
Auch die deutsche Wirtschaftsjournalistin und Bestsellerautorin Ulrike Herrmann formuliert ganz ähnlich: „Ohne Sozialstaat kann es den Kapitalismus gar nicht geben“, sagt sie. Zumindest keinen so erfolgreichen wie die prosperierenden, kapitalistischen Wohlfahrtsgesellschaften der vergangenen 120 Jahre. Das hängt auch damit zusammen, dass mit der kapitalistischen Wirtschaft eine Form von gesellschaftlicher Modernität einher ging. Herrmann: „Der Kapitalismus sprengt Familienbande. Die Menschen sollen mobil sein. Individualismus setzt sich durch, und damit auch das Modell der Kleinfamilie. Damit wurde das alte Sicherheitsnetz der Großfamilie zerstört, also brauchte es ein anderes Sicherheitsnetz.“
Selbst in liberal-konservativen Kreisen sind sich heute die meisten der Tatsache bewusst: Der Sozialstaat ist nicht nur für diejenigen gut, die auf ihn angewiesen sind – die Unterprivilegierten, die Arbeitnehmer, die einfachen Leute. Sondern für das Gemeinwesen und die Marktwirtschaft selbst. Der Sozialstaat stabilisiert eine in sich instabile Ökonomie.
Ist Ihnen freie Publizistik etwas wert? Ist Ihnen dieser Text etwas wert? Robert Misik, IBAN AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW
„Ökonomen rehabilitieren Europas Sozialstaat“, titelte vor einigen Jahren das deutsche „Handelsblatt“, das linker Romantik unverdächtig ist. Anlass war eine langfristig angelegte Mega-Studie, die Lebenserwartung, allgemeine Lebenszufriedenheit, aber auch harte ökonomische Faktoren wie Arbeitsplatzqualität, Lohnentwicklung und Produktivität der Wirtschaft unter die Lupe nah. Beteiligt waren 150 europäische Ökonomen und Ökonominnen. Ergebnis: Der Sozialstaat ist nicht nur moralisch „nützlich“ oder unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten – er ist auch wirtschaftlich von Vorteil.
Die positiven Effekte zeigen sich aber nicht sofort, wie es in der „Sharelife“-Studie hieß, die die Lebensumstände von 28.000 Europäern penibel untersuchte. Besonders stark ist die Wirkung auf eine bessere Gesundheit und eine höhere Lebensqualität der allermeisten Bürger und Bürgerinnen in Sozialstaaten. Auch eine gute Absicherung von Arbeitslosen hat langfristig positive Effekte. Arbeitslosigkeit macht krank, hinterlässt psychologische Narben. Sie senkt das Selbstbewusstsein, und wenn die Absicherung fehlt, gibt es viel Druck, schlechte Arbeit anzunehmen. Ein guter Sozialstaat kann diese langfristigen negativen Effekte „verringern“, so einer der beteiligten Forscher.
Wenn alles der Markt regelt, dann führt das nicht nur zu großen sozialen Ungleichheiten – diese Ungleichheiten selbst sind ökonomisch „ineffizient“. Weil viele Menschen dann ihre Talente nicht entwickeln können. Weil, wenn Arbeitslosigkeit mit sozialem Absturz verbunden ist, die Produktivität selbst sinkt – da dann viele Menschen dequalifiziert werden. Er ist auch ein ökonomischer „Standortvorteil“.
Aber was ist das überhaupt genau: Der Sozialstaat? Spontan denkt man an ein paar wesentliche Eckpunkte: Eine Mindestsicherung, die vor dem totalen Absturz schützt und das unterste Sicherheitsnetz etabliert. Dazu die verschiedenen Institutionen der Sozialversicherung, also Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung. Das wäre aber eine viel zu enge Vorstellung vom Sozialstaat. „Es gibt eine Philosophie des Sozialstaats“, sagt Momentum-Forscherin Katharina Mader. „Er ist nicht nur ein Auffangnetz. Er hat auch die Wohlfahrts- und Umverteilungsfunktion. Der Sozialstaat wurde aufgrund von Gerechtigkeitnormen entwickelt, setzt sie aber zugleich auch selbst.“ Soll heißen: Verbreitete Vorstellungen von Gerechtigkeit haben geholfen, den Sozialstaat durchzusetzen. Aber er beeinflusst zugleich, was wir als „gerecht“ ansehen.
Zum Sozialstaat im weiteren Sinne gehören daher auch: Ein öffentliches Bildungssystem, das gratis und gerecht ist und allen gleiche Chancen bietet. Die Kindergärten. Das Pflegesystem. Auch ein gerechtes Steuersystem mit einer progressiven Einkommenssteuer ist Teil des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements. Familienleistungen, die nicht nur die Ärmsten bekommen. Aber auch eine Wohnbauförderung und der kommunale oder gemeinnützige Wohnbau, der dafür sorgen soll, dass Wohnkosten leistbar bleiben. Ulrike Hermann: „Auch hier gilt: Wenn die Menschen keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden können, gibt es für die kapitalistischen Unternehmungen keine Arbeitskräfte mehr.“ In Regionen mit Fachkräftemangel und hohen Wohnungspreisen weiß man mittlerweile längst, dass das kein fiktives Problem ist.
In der ökonomischen Fachwelt nennt man viele dieser Mechaniken „automatische Stabilisatoren“, weil sie Ausschläge der Konjunkturzyklen abschwächen. Geht die Arbeitslosigkeit hoch, steigen die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung – und die Konsumnachfrage geht nicht eklatant zurück. Und all das geschieht „automatisch“, ohne dass die Regierung irgendein neues Gesetz oder Konjunkturprogramm beschließen müsste.
„Der Sozialstaat schafft eine Stabilisierung der Erwartungen“, sagt Markus Marterbauer, der Chefökonom der Arbeiterkammer. Er trägt dazu bei, den Menschen die Angst zu nehmen, und das hat ganz direkte Auswirkungen, etwa auf die Konjunktur, denn je schlechter die Zukunftserwartungen der Menschen, umso mehr werden sie sparen – und dann bricht die Nachfrage ein. „Aber die Stabilisierung der Erwartungen stabilisiert auch die Demokratie.“ In der gegenwärtigen Inflationsphase haben die Menschen „mit Recht Angst, etwa die Angst vor Armut oder Abstieg“. Das ist Gift für die Demokratie. Neoliberale schüren nicht selten die Angst. Angst wird eingesetzt, um die Menschen bei der Stange zu halten, entsprechend der Maxime: Spure, lasse mit Dir alles machen, denn beim kleinsten Fehler fliegst Du aus der Kurve.
Die Institutionen des Sozialstaates geben Sicherheit – im Fall von Krankheit, Unfall, Alter und so weiter. Schlaue Gesellschaftsanalytiker haben erkannt, dass das eine Eigenschaft ist, die bei den Reichen deren Vermögen erfüllt. Wer Millionen am Konto hat, der darf sich sicher fühlen, welch Unbill ihm auch immer seinen Weg kreuzen mag. Der Sozialstaat ist daher gewissermaßen das „Vermögen der einfachen Leute“.
Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel hat auf diesen wichtigen Aspekt des Sozialversicherungssystems hingewiesen, indem er Gedanken darüber anstellte, welche Rolle Finanzvermögen (und andere Vermögensarten) in unserer Gesellschaft spielen: sie geben Sicherheit. Und mit der Sicherheit geht Autonomie einher. Wer vermögend ist, ist gegen Widrigkeiten abgesichert, kann also auch etwas wagen. Und genau diese Rolle spielen die Sozialversicherungen für jene, die nicht vermögend sind – oder besser, die bisher nicht vermögend waren. Castel: „Kann es so etwas wie ein Vermögen geben, das nicht privater Natur ist und doch einer Person zugeschrieben wird, das also sozial ist, aber privaten Nießbrauch offen steht? Dieser Stein der Weisen… hat sich schließlich finden lassen. Es sind die Leistungen der Pflichtversicherungen: ein Vermögen, dessen Ursprung und Funktionsregeln sozialer Natur sind, das aber die Funktion eines privaten Vermögens erfüllt.“
Diese Ansprüche des Einzelnen aus Sozialversicherungen sind, so Castel, „eine andere Eigentumsform, die nicht wie Geld zirkuliert und sich nicht wie eine Ware tauschen lässt.“ Das ist schon ein seltsames Eigentum, eine eigene Art von Vermögen. Es ist ein Vermögen, das ich aber, im Unterschied zum Geld am Sparbuch, nicht heute schon ausgeben kann, und ich kann es, anders als etwa eine Immobilie, nicht heute schon einem anderen für einen bestimmten Gegenwert übertragen. Ich kann es nicht handeln.
Aber es hat dennoch genau die Wirkung, die früher allein die Vermögenden genießen konnten: es sichert ab und bietet daher die Möglichkeit, Risiken einzugehen, sich zu erproben, nicht in jedem Moment auf maximale Sicherheit achten zu müssen. Castel spricht vom „Sozialvermögen“.
Das hat manchmal auch eigentümliche Folgen, etwa: Sehr häufig haben gute Sozialstaaten eine im Vergleich zu anderen Nationen relativ gerechte Einkommensverteilung, aber eine hohe Vermögensungleichheit. So formuliert der wirtschaftsliberale Ökonom Rudi Bachmann: „Gesellschaften mit sehr gutem Sozialstaat, guter Altersvorsorge und mieterfreundlichem Mietrecht weisen empirisch oft eine hohe Vermögensungleichheit auf.“ Warum das so ist, ist leicht verständlich: Wenn es keinen Wohlfahrtsstaat gibt, muss man sehr viel Geld auf die Seite legen und selbst sparen für Notfälle – für das Alter, für den Fall von Krankheit. In Ländern mit günstigen Mieten und guten Gemeindebauten leben viele Menschen in Mietwohnungen. Wo es das nicht gibt, haben mehr Leute ein eigenes Häuschen oder eine Eigentumswohnung. Oft führen diese Menschen ein schlechteres Leben, haben aber mehr „Eigentum“. Und deshalb kann die Vermögensstatistik in solchen Ländern egalitärer sein als in Wohlfahrtsstaaten.
Das führt mitunter zu skurrilen statistischen Messeffekten, etwa, dass die Griechen im Durchschnitt reicher sind als die Deutschen.
Trotz der vielen unbestreitbaren positiven Effekte sind die verschiedenen Institutionen des Sozialstaats immer wieder Angriffen ausgesetzt. Etwa, dass die Finanzierungskosten zu hoch seien, Arbeit verteuert und damit Wachstum gebremst würde; gerne wird lamentiert, es gäbe eine „soziale Hängematte“, in der es sich Faulpelze bequem machen. Pflichtversicherungen und gesetzliche Kassensysteme würden den Bürger auch „entmündigen“, war ein berühmtes neoliberales Anti-Sozialstaatsargument. „Was für eine Vorstellung von Mündigkeit steckt dahinter, wenn von ‚Entmündigung‘ der Bürger die Rede ist, weil diese vor weniger Schicksalsschlägen auf der Hut sein müssen?“, fragten Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs schon vor bald fünfzig Jahren in ihrem Buch „Sozialstaat und Freiheit“.
Aber die Sozialstaatsgegner können sich mitunter auch auf durchaus verbreitete Gerechtigkeitsnormen stützen, und auch auf Werte, die in den arbeitenden Klassen verbreitet sind. Solche Werte und Normen sind, beispielsweise: Jedem soll geholfen werden, der es wirklich braucht, aber niemand soll ein „Freispiel“ haben und es sich „auf Kosten anderer“ bequem machen. Um Ansprüche zu haben, muss ich auch etwas leisten usw.
„Es gibt eine hohe Zustimmung zum Sozialstaat“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Carina Altreiter, die vor einiger Zeit in einem Forscherteam eine große Studie über die verschiedenen Solidaritätskulturen in Österreich gemacht hat. „Die meisten Leute finden, dass der österreichische Sozialstaat wichtig ist, dass man auf ihn stolz sein kann, darauf, dass sich bei uns um die Menschen gekümmert wird.“ Doch unterschiedliche Gruppen haben sehr unterschiedliche Haltungen, was damit konkret gemeint ist.
Verstärkt wird das noch durch unterschiedliche Logiken der verschiedenen Instrumente des Sozialstaates. Arbeitslosen- und Rentenversicherung entsprechen dem Reziprozitätsprinzip: Für die Einzahlungen steht einem ein entsprechender Anspruch zu. Für die Beiträge – eine Leistung. Dann gibt es jene Sicherheitsnetze, die einer ganz anderen Logik folgen, etwa die Mindestsicherung, oder Wohnbeihilfen. „Hier gilt eine Bedarfsgerechtigkeit“, sagt Altreiter – und nicht so sehr das Leistungs- und Reziprozitätsprinzip. Diese Widersprüchlichkeit haben sich Rechte und Konservative in den vergangenen Jahrzehnten reichlich zunutze gemacht, getrommelt, der Sozialstaat würde die Menschen „verweichlichen“, und irgendwelche Trittbrettfahrer würden sich durchschummeln.
Letztlendlich, so Carina Altreiter, gibt es hier auch „einen Konflikt verschiedener Menschenbilder“. Altreiter: „Ich denke, die Menschen haben ein Interesse an Partizipation, sie wollen etwas tun, sie wollen einer Arbeit nachgehen, auch deshalb, weil die Erwerbslosigkeit mit viel Stigma verbunden ist, aber auch, weil sie mit anderen kooperieren wollen.“ Die kleine Minderheit, die paar wenigen, die das ausnützen, fallen nicht so sehr ins Gewicht. „Wenn man aber ein eher negatives Menschenbild hat, wenn man annimmt, dass die Menschen faul sind, sich jeden Vorteil ertricksen würden, dann nimmt man eher an, dass man sie mit Daumenschrauben zwingen muss, etwa zu arbeiten. Weil sie sonst in der Mehrzahl ‚arbeitsunwillig‘ wären.“
Menschenbilder und mit ihnen verbundene Gerechtigkeitsnormen sind somit in der Sozialstaatsdebatte zentral.
Schwer ignorieren kann man auch das Faktum, dass Bande der Solidarität im Nahbereich leichter entstehen als über weite Distanzen hinweg; dass sie in Gesellschaften, in denen sich die Menschen als „Ähnliche“ empfinden, tragfähiger sind. In ethnisch oder sprachlich homogenen Gesellschaften sind Sozialstaaten leichter entstanden. Je mehr Diversität, umso schwieriger. Die Angriffe auf den Sozialstaat haben es in multikulturelleren Gesellschaften einfacher, weil sie mit Ressentiments operieren können. Weiße Arbeiter konnte man in den USA besonders leicht gegen Sozialhilfe mobilisieren, weil man behauptete, sie käme vor allem faulen, alleinerziehenden, schwarzen Müttern zugute. Ökonomen halten das für den Hauptgrund, dass die USA nur einen „halben“ Sozialstaat ausbauen konnten.
Der Sozialstaat, wie er sich in den vergangenen hundertfünfzig Jahren entwickelt hat, beruhte auf ökonomischem Wachstum und mehr Wohlstand – und leistete seinerseits einen großen Beitrag zum Wohlstandzuwachs. Aber was, wenn angesichts von Klimakrise und größerer globaler Gerechtigkeit die Zeit der Zuwächse vorbei ist? Manche Experten hoffen zwar auf „grünes Wachstum“, dass der Umbau der Energiesysteme auf erneuerbare Kraftwerke und die Umrüstung der Industrie auf Nachhaltigkeit einfach zu „anderem Wachstum“ führen würde; aber Ulrike Herrmann hält das für abwegig. Wir werden um Schrumpfen nicht herumkommen und uns mit weniger begnügen müssen. Keine arge Askese, aber dass es stets mehr zu verteilen gibt – das können wir uns ihrer Ansicht nach in Zukunft abschminken. „Wenn die Einkommen schrumpfen, müssen natürlich auch die Sozialleistungen schrumpfen – das hat aber eine Grenze nach unten.“ Und wenn knappe Ressourcen gerecht verteilt werden sollen, dann, so Hermann, „wird das über die Preismechanismen nicht mehr gehen, weil dann füllen sich die Reichen bei Wasserknappheit ihren Pool, während die Armen nichts mehr zu trinken haben“. Das kann bei einigen Güterarten zu einer Art „extremen Form des Sozialstaats führen, nämlich der Rationierung: Der Reiche bekommt genauso viel wie der Arme.“