Die große Einseitigkeit

Die Eskalation im Nahen Osten führt zu Fanatismus, Eiferertum und Cancel-Culture bisher unbekannten Ausmaßes.

Zackzack, Dezember 2023

In den vergangenen Wochen sorgte ein Propaganda-Clip für Erregung, bei dem eine ultrarechte Repräsentantenhaus-Abgeordnete drei Universitätspräsidentinnen aus den USA verhörte. Die Ausschussvorsitzende wollte die Präsidentinnen aufs Glatteis führen, ob denn Aufrufe zum Genozid an Juden gegen die Kriterien der Universität betreffend „Mobbing“ und „Belästigung“ verstoßen. Die Präsidentinnen haben vernünftigerweise ausweichend geantwortet, da echte Aufrufe zu einem Genozid ja möglichweise gegen diverse Regeln verstoßen, aber möglicherweise nicht gegen Regeln über „Belästigung“.

Zumal die energische Fragestellerin dann auch nachlegte, und gleich Parolen wie „Intifada“ als Aufrufe zum Genozid wertete.

Erkennbares Ziel der rechtsextremen Fragestellerin Elise Stefanik, eine fanatische Trump-Unterstützerin, die auch gerne die Lüge von der „gestohlenen Wahl“ verbreitet und Trumps Putschversuch nie verurteilt hat: die Präsidentinnen als Antisemitinnen dastehen zu lassen. Das ist umso irrer, da eine der Präsidentinnen sogar selbst Jüdin ist.

Eine rechtsextreme Fragestellerin hat ihr Verhör also manipulativ so hingebogen, dass eine Jüdin als Antisemitin dasteht.

Geht’s noch gestörter?

Ja, spielend. Denn noch absurder war, dass die schneidige Verhörerin mit Diskreditierungsabsicht ja so in etwa das Sympathler-Niveau von Andreij Wyschinski hatte, des berüchtigten Anklägers bei Stalins Moskauer Prozessen, der Unschuldige als „toll gewordene Hunde“ ankeifte.

Unter normalen Umständen hätten sich die meisten Menschen über diese Vernehmungsoffizierin empört. Aber nicht diesmal. Die Empörung ergoss sich über die vorgeführten Angeklagten. Sie mussten sich verleumden lassen, „Aufrufe zum Genozid“ nicht zu verurteilen.

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Zunächst einmal sind Aufrufe zum Genozid dann zu verurteilen, sofern es sie gibt. In den allermeisten Fällen wären aber wohl Regularien, die persönliches „Mobbing“ untersagen, dafür nicht die richtigen Paragrafen. Zweitens ist ein Aufruf zum „Aufstand“ – „Intifada“ – nicht deswegen schon ein Aufruf zum Genozid, nur weil das eine schrullige, fanatische Abgeordnete behauptet. Drittens können natürlich auch grundsätzlich israelfeindliche Stimmungen den Tatbestand des „Mobbing“ erfüllen, wenn sich die Stimmungslage so verschärft, dass sich jüdische Studentinnen und Studenten ganz persönlich gemobbt fühlen und dieses „Gefühl“ auch durch ein Tatsachensubstrat begleitet ist. Also, kurzum, wenn dieses „Gefühl“ nicht bloß eingebildet ist, sondern wenn es tatsächliche aggressive Stimmung gegen jüdische Studierende gibt. Das dürfte ja an amerikanischen Universitäten da und dort der Fall sein. Das hängt aber sehr stark vom Kontext ab, was die Präsidentinnen auch sagten. Wenn zehn Leute mit einer Palästinenserfahne vor der Universität stehen und „Intifada“ rufen, ist der Tatbestand des Mobbings nicht erfüllt. Wenn jüdische Studierende eine Art Spießrutenlauf in die Universität zu erwarten haben, dann wird dieser Tatbestand sehr wohl erfüllt, sogar unabhängig von den ganz konkreten Parolen. Und zuallerletzt: Ob „Mobbing“ oder eine „Belästigung“ vorliegt, hätte in so einem Fall dann eine Jury der Universität zu beurteilen, nicht die jeweilige Präsidentin, weshalb die Präsidentinnen nicht nur nichts falsch, sondern alles richtig gemacht haben. Genauer: Sie hätten gar nichts anders sagen können.

Was aber das Bemerkenswerteste ist: Wie viele Leute forderten, dass die Universtitätspräsidentinnen ihren Job verlieren. Wie viele Leute das unsympathische, aggressive, manipulative Verhör feierten. Nun sind unter denen, die dieses Verhör bejubelten, sicherlich Leute, denen jedes Mittel recht ist, um Andersdenkende fertig zu machen. Also böswillige Propagandisten, mit denen anständige Menschen nichts zu tun haben wollen. Aber für viele trifft das nicht zu. Sie fanden das wirklich gut. Sie fanden die Vorhalte nicht manipulativ, sondern richtig, und sie empfanden die aggressive Form der Fragestellung nicht aggressiv und manipulativ, sondern angebracht.

Was zeigt, wie leicht es uns allen fällt, demokratische Werte, Meinungsfreiheit, die Komplexität rechtsstaatlicher Regeln, aber auch moralische Intuitionen an der Garderobe abzugeben, wenn wir nur meinen, dass jemand in dem von uns bevorzugten Sinn handelt. Hat man ausreichend Bias, sieht man, was man sehen will. Jetzt weiß man, wie es kam, dass hochmoralische Menschen die Ankläger in den Moskauer Prozessen unterstützten.

Ich persönlich fand und finde einseitige pro-palästinensische Demonstrationen sehr fragwürdig, noch dazu, wenn sie mit Gefühlskälte gegen jüdische Massakrierte einher gehen, und besonders fragwürdig – ich habe das hier ja ausführlich geschrieben – fand ich sie unmittelbar nach dem bestialischen Massaker der Hamas an 1200 Menschen am 7. Oktober. Ich finde mittlerweile pro-israelische Solidaritätskundgebungen, die zig-tausend tote Zivilisten im Gaza-Streifen mit einem Achselzucken abtun, ähnlich fragwürdig. Ich finde es fragwürdig, Aufrufe zum Boykott „gegen Israel“ zu unterschreiben, und ich finde viele Forderungen der BDS-Bewegung fragwürdig, wobei auch das wieder vom Kontext abhängig ist: Wer findet, dass es richtig ist, die illegale Siedlungstätigkeit im Westjordanland durch den Boykott von Produkten, die in diesen Siedlungen hergestellt werden, zu bekämpfen, der vertritt eine legitimierbarere Position als jene, die jeden Kulturaustausch und jede Einladung an israelische Künstler oder Wissenschaftler verteufeln wollen. Ersteres hat eine gewisse Plausibilität, letzteres ist mindestens überschießend und kontraproduktiv und in vielen Fällen auch antisemitisch. Wer die Taten der Hamas legitimiert, ist genauso abzulehnen wie jemand, der meint, Gaza solle dem Erdboden gleichgemacht oder in eine Art Grosny verwandelt werden. Wir können jetzt natürlich gerne darüber diskutieren, ob die eine oder die andere grausliche Meinung eine Spur grauslicher ist als die jeweils andere, aber auf solch ein Wettbewerb der Ekeligkeiten habe ich keine große Lust, muss ich gestehen.

Wobei ja wiederum gänzlich verständlich ist, dass jemanden das eigene Leid oder das Leid der eigenen Leute (oder das Leid jener Leute, die man tendenziell eher als die „eigenen“ empfindet), deutlich stärker berührt als das „der Anderen“. Das muss einem nicht gefallen. Ist aber verständlich. Und bei ganz existenziellen Vorgängen wahrscheinlich völlig unvermeidbar, es sei denn, man ist eine Art Heiliger, wobei wir George Orwell ja auch das hübsche Apercu verdanken, wonach Heiligkeit etwas sei, was menschliche Wesen vermeiden sollten.

Von daher ist es natürlich verständlich, dass sich sehr viele Israelis, die große Mehrheit der Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt und viele Menschen, die intuitiv mit dem jüdischen Volk solidarisch sind, zunächst einmal über die 1200 durch das Hamas-Gemetzel Massakrierten empören und davon erschüttert sind, und die zivilen Opfer der Gegenwehr eher nur als Nummern einer Statistik wahrnehmen und in der Lage sind, dieses Leid vor sich zu rechtfertigen. Genauso verständlich ist aber leider, wenn viele Muslime jetzt primär das Sterben der Palästinenser sehen, das Leid durch palästinensischen Terror irgendwie runterrechnen und ausblenden, dass die Toten in Gaza Opfer einer erwartbaren Reaktion auf ein vorangegangenes Massaker sind. Bis zu einem gewissen Grad verständlich ist beides, was nicht heißt, dass es gut ist. Unglücklicherweise bin ich auch der pessimistischen Auffassung, dass nach dem bestialischen Massaker der Hamas und dem Massensterben von Zivilisten und Kindern in Gaza der Hass auf beiden Seiten noch sehr viel größer sein wird als noch vor drei Monaten, was mir logisch und damit auch erklärbar und somit in gewissem Sinn auch als „verständlich“ erscheint. Verstehen kann man so manches, was man nicht für gut hält, aber leider nun nicht leicht zu ändern ist.

Zu den größten Absurditäten dieser ganzen Sache zählt, wie schnell plötzlich Leute für Cancel-Culture sind, die ansonsten eine angebliche Cancel-Culture verteufeln. Oft ist ja mit Cancel-Culture nur gemeint, dass man unwidersprochen bleiben will oder dass man es nicht mag, wegen einer Meinung als unmoralisch runtergemacht zu werden. Aber niemals gab es so viel Cancel-Culture wie in diesen Monaten. Wer eine unliebsame Meinung vertritt, muss mit Rauswurf, Absage von Ausstellungen, globaler Anprangerung (wie die drei Präsidentinnen gewärtigen), der Aberkennung von Literaturpreisen, der Cancellung von Lesungen rechnen – und mit der Zerstörung von Ruf und Reputation. Oft ist es sogar unabhängig davon, welche Meinung jemand wirklich vertritt, es reicht schon ein Gerücht oder ein falscher, vorsätzlich einseitiger Zeitungsbericht, der nur lose mit der Realität verbunden ist. Ist jemand einer als schändlich eingestuften Meinung verdächtig, ist diese Person schon in Teufels Küche. Äußert jemand etwas, das einem nicht vollends passt, werden die Äußerungen dieser Person auf die maximal böswilligste Weise ausgelegt. „Zu einem ordentlichen Kulturkampf gehört es nämlich dazu, die Gegenseite auf jeden Fall missverstehen zu wollen“, schrieb Hanno Rautenberg vergangene Woche in der „Zeit“. „Ein falsches Wort oder auch nur ein nicht gesagtes, schon droht die diskursive Exkommunizierung.“ Rautenberg spricht von einer „großen Verbiesterung“.

Zugleich wird bei den Sanktionen gegen angeblich oder tatsächlich „schändliche Meinungen“ eine ungeheuerliche Einseitigkeit angewandt.

Nur ein Beispiel: Die Parole „Palestine will be free from the River to the Sea“ soll verboten werden, weil sie angeblich einen Aufruf zur Tötung der jüdischen Israelis „impliziert“. Nun gut, das kann der Fall sein, muss aber nicht, denn es gab schon Zeiten, wo unter einem „freien Palästina“ ein friedliches multiethnisches Zusammenleben von Israelis und Arabern verstanden wurde. Höchstwahrscheinlich erträumen das heute noch viele Leute, die die Parole schreien, aber eine solche „Ein-Staaten-Lösung“ ist illusionär. Und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie für die jüdischen Israelis nicht gut ausginge, sie würden irgendwann mindesten diskriminiert, wahrscheinlich vertrieben, womöglich Schlimmeres. Ein multiethnisches Utopia in Palästina ist völlig illusionär und realitätsfern, und zudem würde ein solches Gemeinwesen natürlich einen wesentlichen Aspekt der jüdischen Heimstatt Israel verlieren: Das Einwanderungsrecht aller Juden und Jüdinnen der Welt in Israel.

Ich halte dennoch nicht viel davon, solche Parolen zu verbieten, indem man sie maximal böswillig interpretiert. Nicht zuletzt deswegen, weil ich generell nicht so viel davon halte, Meinungen zu verbieten. Nun gibt es aber auch viele Leute, die die illegale israelische Siedlungstätigkeit in der Westbank rechtfertigen, und es gibt auch bei uns Anhänger der gewalttätigen rechtsradikalen Siedler, die der Meinung sind, dass Israel einen Anspruch auf das gesamte alte „Erez Israel“ habe und die dort lebenden Araber gewaltsam vertrieben werden sollen. Soll diese Meinung nicht auch verboten werden? Wenn ja, hmm, welche anderen Meinungen, die so kursieren, sollen noch verboten werden? Kommen wir dann nicht in eine Spirale der Verbieteritis? In der wir übrigens sowieso schon sind, was zu den absurden Sachverhalten führt, dass wir etwa die Fahnen der kurdischen PKK und aller ihrer befreundeten Vorfeldorganisationen als „Terrororganisationen“ verboten haben, während wir genau diesen Organisationen Waffen geliefert haben, als wir sie im Kampf gegen den Islamischen Staat brauchten. Also, alles verbieten? Oder doch nur pro-palästinensische radikale Parolen verbieten, radikale pro-Siedlungstätigkeit nicht verbieten? Dann ist man aber sehr schnell bei genau den heuchlerischen Doppelstandards, die dafür verantwortlich sind, dass „der Westen“ sich heute in den Gesellschaften des „globalen Südens“ eigentlich nicht mehr blicken lassen muss.

Gewiss soll man „Einseitigkeiten“ – und zwar auf allen Seiten – bekämpfen, aber „bekämpfen“ heißt in diesem Zusammenhang, wie Benjamin Opratko unlängst im „Tagebuch“ schrieb: sie müssen „geprüft, diskutiert und entkräftet, nicht aber unterbunden werden“.

Oder anders gesagt: Auch einseitige Meinungen sind durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Gelegentlich sind sie sogar richtiger als die „ausgewogene“ Meinung, meistens aber nicht, und was im Einzelfall plausibler und unplausibler ist, wird man leider nur durch Diskurs herausfinden (wenn überhaupt), weshalb sich alle großen Liberalen der Geschichte für Meinungsfreiheit eingesetzt haben.

Wir sehen, wie weit wir es im Jahr 2023 gebracht haben, dass man so etwas überhaupt extra betonen muss. Und dass es irgendwie „dissident“ oder sogar schon „radikal“ klingt. Absurd!

Es ist eine der Kompliziertheiten, die man aushalten muss: Einseitigkeiten sollten tunlichst vermieden werden. Zugleich sind auch Einseitigkeiten durch die Meinungsfreiheit gedeckt, und wir wissen auch, wie oft uns die Einseitigkeit der eigenen Leute als relativ vernünftig (oder nur ein bisschen übertrieben), die der anderen als extremistisch erscheint.

Ich denke, aus dem Strudel, in den wir geraten sind, kommen wir nur raus, wenn wir ein paar Prinzipien leidenschaftlich verteidigen: In einer freiheitlichen Demokratie dürfen Menschen auch Meinungen vertreten, die ich nicht teile. Wenn sie es tun, soll man sie mit guten Argumenten widerlegen, nicht mit einer möglichst böswilligen Auslegung diskreditieren. Und vor allen sollten wir uns auf eines einigen: Es ist bestialisch, 1.200 Menschen hinzumetzeln. Und es ist bestialisch, 10.000 oder mehr tote Frauen, Kinder, Zivilisten bei einer militärischen Gegenaktion hinzunehmen. Übrigens nicht nur wegen der menschlichen Opfer selbst, sondern auch wegen der Spirale der Verschärfung und des Gegeneinanders, die sie gewissermaßen in Zweitrundeneffekten verursachen. Wer dieses zivilisatorische Minimum nicht unterschreiben kann, mit dem wird man tatsächlich schwer reden können.

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