Pech beim Denken

Manche äußern laut die Meinung, dass man seine Meinung nicht mehr laut sagen dürfe. Über größere und kleinere Unfälle beim Meinungshaben.

Manche Leute haben, wie man so schön sagt, einfach Pech beim Denken, soll heißen, der gutgemeinte Versuch endet leicht in einem Unfall. In einer durchmedialisierten Gesellschaft kann man vielen Leuten dabei in Echtzeit zusehen, das macht die Sache unschön.

Ein paar berühmte Schauspieler und Schauspielerinnen haben jüngst eine Videokampagne gegen die Anti-Seuchenmaßnahmen gestartet, über die Motive der Einzelnen, dabei mitzumachen, kann man nur mutmaßen, es ist wahrscheinlich, dass sie je nach Person auch variieren. Gewiss gibt es an der Art, wie wir uns im vergangenen Jahr in dieser plötzlichen Seltsamkeit verhalten haben, auch vieles, was man satirisch aufspießen kann. Aber die meisten Videos zeigten gutsituierte Menschen, denen in ihren Altbauwohnungen und Villen einfach etwas langweilig ist, und die in ihrer Selbstsucht und wohlstandsverwahrlosten Egomanie nur um sich und ihr vergleichsweise kleines Unbill kreisen. Es ist zum Großteil nicht lustig, sondern peinlich. Gut, dass sie normalerweise die Texte schlauerer Drehbuchautoren aufsagen.

Pech beim Denken hatte auch ein ÖVP-Abgeordneter, der vorrechnete, dass die Aufstockung von Intensivbetten nichts brächte, da auf Intensivstationen ein Drittel der Menschen sterbe, woraus er ableitete, dass mehr Intensivbetten automatisch zu mehr Toten führen würden. Wahrscheinlich wollte er uns sagen, dass man Menschenleben eher rettet, wenn man Infektionen und damit Belegung auf Intensivstationen schon prophylaktisch reduziere. Es ist ihm halt nur nicht so gut gelungen.

Aber wer kennt es denn nicht. Heinrich von Kleist, der große Dichter, schrieb einst über die „allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“, was an sich ein gutes Konzept ist, außer, wenn die Verfertigung des Gedankens mit dem Reden nicht Schritt zu halten vermag.

Pech beim Denken haben auch die Schlaumeier, die stolz entdecken, dass Lockdowns nichts nützen, weil ja trotz Anti-Seuchen-Maßnahmen 10.000 Menschen gestorben seien, und im Kopf den nächsten Schritt nicht hinkriegen, nämlich die naheliegende Kalkulation, dass ohne Maßnahmen 60.000 oder 100.000 Leute gestorben wären (genau wird man das nie wissen, weil in der Realität zu viele Faktoren hineingespielt hätten).

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Pech beim Denken hatten selbstverständlich auch jene Leute, die vor lauter Seuchenpanik im vergangenen Frühjahr „Stay at home“ in die Welt posaunten und die Tür gut verriegelten, obwohl selbst in den allerersten Tagen großer Ungewissheit eines immer sicher war: dass es nicht besonders gefährlich ist, auf dem Gehsteig zu gehen, wenn man dem entgegenkommenden Passanten nicht gleich um den Hals fällt und dass ein Spaziergang im Prater eher gesund als tödlich ist.

Der FPÖ-Vizeparteichef Manfred Haimbuchner sagte, nachdem er Corona und künstliche Beatmung arschknapp überlebt hatte, dass er die Seuche keineswegs unterschätze, er aber dennoch ein Anhänger der „selbstverantwortlichen“ Regelauslegung sei. Nun klingt „Selbstverantwortung“ so herrlich nach Freiheit, heißt aber letztendlich, dass jeder macht, was er will. Es ist ja das große Dilemma der Freiheit in komplexen Gesellschaften, dass mein Handeln auch andere Menschen mit ausbaden müssen. Man stelle sich kurz vor, Haimbuchners Intensivärzte hätten gesagt, er solle doch „selbstverantwortlich“ gesund werden.

Was ich sagen will: Man muss ja nicht immer einer Meinung sein, aber man sollte sich wenigstens bemühen, die eigene Meinung mit plausiblen Gedanken zu begründen, oder, besser noch, es wäre erstrebenswert, wenn das Denken dem Meinunghaben sogar vorausginge.

Ein Gedanke zu „Pech beim Denken“

  1. Hallo Herr Misik,
    könnte man nicht auch sagen, dass zumindest diejenigen von den 53 Schauspielern die wirklich gut situiert sind (die Räume gaben darüber wenig Aufschluss, weil sie teilweise identisch waren) und auch während des Lockdowns Engagements haben, dass sie eben nicht in ihrer Wohlstandsverwahrlosung und Egomanie die Füße hochlegen und alle Maßnahmen unterstützen, weil sie sie selbst nicht betreffen? Sondern sich mit ihren Statements den Reaktionen einer aufgepeitschten und polarisierungs- und moralisierungsfreudigen Öffentlichkeit aussetzen. Wäre doch auch eine Möglichkeit, das so zu sehen, oder?
    Lieber Herr Misik, ich lese seit vielen Jahren Ihre Artikel und Bücher, größtenteils mit Gewinn. Ich schätze Sie als Autor. Ihre Einordnung der Schauspieleraktion finde ich allerdings unpassend. Ob Schauspieler oder Journalisten, die Qualität und Berechtigung einer Aussage hat erstmal nichts damit zu tun, ob jemand als SchauspielerIn oder JournalistIn gutsituiert ist und in einer Altbauwohnung oder Villa wohnt. Die Öffentlichkeit hat sich sehr schnell auf die SchauspielerInnen eingeschossen, bestrebt, sie zu delegitimieren, ja zu denunzieren. Es hat mich schon etwas enttäuscht, dass Sie sich von dieser Stimmungsmache nicht absetzen.
    Viele Grüße nach Wien
    Rudolf Müller aus Münster

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