Wer bist Du, wenn Du alles verloren hast?

Foto (39)Ich bin sehr froh, dass ich ein ganz kleiner, ganz bisschen mithelfender Teil davon sein konnte: LOST: THE STORY OF REFUGEES. So heißt ein ganz außergewöhnliches Projekt, das ein Team aus jungen Journalist_innen, Fotograf_innen und Grafiker_innen angegangen sind. Wobei das Gendern hier in die Irre führt: Journalisten gibts nur eine, und die ist Franziska Tschinderle. Dafür sind die Fotografen alle Männer: Maarten Boswijk, Martin Valentin Fuchs und Francois Weinert-Logelin. Die vier haben sich über einige Monate zwischen Spielfeld, Röszke, Lesbos, Serbien, Mazedonien und Deutschland umgetan und die Flüchtlingswege dokumentiert – und die Flüchltingsbiographien. Herausgekommen ist ein ganz beeindruckender Foto- und Reportagenband. Und ich bin da drin mit diesem kitzekleinen Mini-Essay vertreten: 

Man sagt, wir lebten in einer Zeit, in der alles „flüchtig“ sei, womit gemeint ist, dass alles ohne Anker sei, bar aller fester Bindungen. Der Flüchtling ist insofern die paradigmatische Figur der Moderne, zugleich aber die Irritation, denn die Prekarität der Flüchtlingsexistenz beweist für uns Nicht-Flüchtlinge ja, wie stark wir in lokale Bindungen und rechtlichem Status verankert sind. „Wir haben“, schrieb Hannah Arendt 1943 in ihrem Text „We Refugees“, „unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren (…). Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen.“

Foto (40)Flüchtling zu sein heißt, alles verloren zu haben: Die Weltbindungen, den sozialen Status, einen Gutteil der Kompetenzen, die dort, wo man herkam, etwas wert waren, das kulturelle Gewusst-Wie der eigenen Gesellschaft, das existentielle Minimum des rechtlichen Status. Man ist ein Ausgesetzter, eine Ausgesetzte. In diesem Lichte ist die Unterscheidung zwischen „echtem“ Kriegsflüchtling und angeblichem „Wirtschaftsflüchtling“ besonders perfide: Flüchtling zu sein, heißt, nicht freiwillig von dort wegzugehen, wo Du herkommst, aber nachdem Du diese erzwungene Entscheidung einmal getroffen hast, wirst Du vernünftigerweise versuchen dorthin zu kommen, wo Du die größten Chancen hast, so etwas wie Verankerung, Bindungen und Lebenschancen zu finden. Wäre ich zur Flucht gezwungen, würde ich natürlich New York gegenüber einem Dorf in Westchina vorziehen.

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