Gott der Waren

Ist der Kapitalismus eine Religion? Das Publikum jedenfalls glaubt an ihn und treibt den Götzenkult. Ein Sammelband fragt, was das zu bedeuten hat. taz, Februar 2004

 

Der Wittener Soziologieprofessor Dirk Baecker gehört längst zu den kreativsten und originellsten Theoretikern der Bundesrepublik, und er ist ohne falsche Scheu, sich auch zu scheinbaren Nebensachen zu äußeren – etwa zum Dosenpfand. Jüngst ist er als Herausgeber eines Sammelbandes hervorgetreten mit dem Titel: "Kapitalismus als Religion". Damit wird an zweierlei angeknüpft: an die in einer breiten Öffentlichkeit bekannten Jeremiaden über den Kult des Kommerzes einerseits; andererseits an die in einem enger abgezirkelten Revier geistesgeschichtlicher Debatten angestellten Überlegungen über Walter Benjamins Fragment "Kapitalismus als Religion" aus dem Jahre 1921.

 

Benjamin hatte formuliert, "im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben". Er sei eine "essentiell religiöse Erfahrung".

 

Benjamin wendet sich damit implizit gegen die von Max Weber angestellten Studien über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, seinem Schluss, der Kapitalismus werde durch protestantische Ethik begünstigt oder bedingt. Benjamin macht keine Ableitungen dieser Art, er redet auch nicht über Analogien: Er behauptet eine Identität.

 

Indizien finden sich genug, etwa die erstaunliche Nähe finanztechnischer mit theologischen Begriffen: Kredit und Credo, Erlös und Erlösung, Schulden und Schuld, Gläubiger und Glauben, Offenbarungseid und Offenbarung. Darauf, und auf die "Verheißung des absoluten Reichtums" durch das Geld, nach einem Marx-Wort der "Gott der Waren", hatte der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann schon vor fünf Jahren in seinem Buch über die religiöse Natur des Kapitalismus hingewiesen. Auch in dem Sammelband, den Dirk Baecker jetzt publizierte, findet sich ein Aufsatz Deutschmanns zu dem Thema.

 

Gewiss hat die gesamte Fragestellung etwas Paradoxes: Seit jeher wurde im Kapitalismus ja gerade eine Kraft der Rationalisierung gesehen, die allem Religiösen feindlich sei. Und doch hat der Kapitalismus seine Hohepriester und produziert stetig seine Mythen: "lean production", "total quality control", "business reengineering" und ähnliche. Und die Heilsverheißung kapitalistischer Globalisierung erinnert nicht nur entfernt an den bekannten Messianismus jüdisch-christlicher Tradition.

 

Die kultische Inszenierung am Markt, auf dem Lebensstile und Weltbilder verkauft werden (und auf deren Rücken Waren), erweist die Aktualität des Benjaminschen Fragments, meint denn auch Norbert Bolz, der selbst eben erst mit seinem "Konsumistischen Manifest" hervorgetreten ist. Die Gesellschaft "glaubt an den Kapitalismus", ergänzt Herausgeber Baecker: "Sie glaubt, dass er ihr Schicksal ist."

 

Viel weiter vor in das verminte Feld will er sich freilich denn doch nicht begeben. Mit einer Geste intellektuellen Heroismus umgeht er die Frage nach der "Identität" von Kapitalismus und Religion, die von Benjamin noch behauptet wurde. Alleine der "Verdacht, dass der Kapitalismus eine Religion ist", sei als "eine Konstruktion zu würdigen, die bestimmte Dinge sichtbar macht". Gerade die Sammlung der Indizien, die Entdeckung von Analogien und Ähnlichkeiten läßt die Dinge mit wachsender Unentschiedenheit klarer werden, formuliert Baecker. Man fühlt sich bei dieser Wortwahl ein wenig an die Säkularisierungsdebatte erinnert, wie sie vor dreißig Jahren von Hans Blumenberg, Karl Löwith, Carl Schmitt und anderen geführt wurde: damals ging der teils heftige Streit darüber, was der Umstand denn nun zu bedeuten habe, dass moderne Institutionen oder Gedanken als Säkularisate religiöser Hierarchien oder Vorstellungen interpretiert würden.

 

Der Blick auf die religiösen Grundierungen, die theologischen Herleitungen kapitalistischer Praxen und Rhetorik eröffnet eine Dimension verborgenen Sinnes, zeigt etwas – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es zeigt das Irrationale (oder Transrationale) jener Wirtschaftsform, die sich fest auf dem Boden des Rationalen wähnt. Das ist nicht wenig – aber wohl doch nicht das, was Benjamin im Sinn hatte.

 

"Kapitalismus als Religion" ist jedenfalls ein höchst aktueller Reader zu einem sehr alten Problem, das wohl nie endgültig gelöst werden wird.

 

Robert Misik

 

Dirk Baecker (Hsg): Kapitalismus als Religion. Kadmos-Verlag, Berlin, 2003. 314 Seiten. 23,20 Euro.

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