Von innen zerfressen

 

Wenn die Islamisten den Westen nicht hätten, müssten sie ihn glatt erfinden: Gilles Kepel und Fouad Allam beschreiben die paradoxe Struktur des Dschihadismus in einer global vernetzten Welt. taz, Falter, Dezember 04

 

Das Unternehmen, die "arabische Welt" zum Schwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu machen, ist ein ebenso ambitioniertes wie riskantes Projekt: Hoch sind die Erwartungen. Die Regimes und Eliten des arabischen Raumes möchten ein wenig das Bild zurechtrücken, nicht bloß als Hort der Rückständigkeit und als großes Terroristennest gelten. Die aufgeklärten Europäer wollen sich beruhigen lassen, hören, dass der Islam eine große Kultur ist, Heimat von Feingeistern, und nicht bloß von Fanatikern, die Andersdenkenden die Köpfe absäbeln; und, andererseits, dann doch etwas über die arabische "Gefahr" in Erfahrung bringen. Die Literatur dieser fremden Welt wird gewiss irgendwie helfen, den Feind zu verstehen.

 

Es herrscht eine gewisse Unentschiedenheit im Urteil, eine Verstörtheit, und sie hat wohl nichts damit zu tun, dass die moslemische Welt für "uns" ein Buch mit sieben Siegeln ist. Es gibt genug hervorragende Bücher und Studien über alle Aspekte der arabisch-islamischen Kultur. Und doch prägt die westliche Debatte ein wirres Für und Wider. Ist der dschihadistische Terror eine Verirrung des Islam oder doch legitimes Kind dieser Weltreligion? Ist er nur Dschihad-Wahnsinn oder lebt er von rationalen Ursachen, von (post-)kolonialer Unterdrückung etwa? Ist er eine orientalische Marotte oder doch gar ein monströses Produkt westlicher Kultur, der Import des westlichen Totalitarismus ins Morgenland? Oder, anders gefragt: Kann man den Terror verstehen, ohne ihn zu verniedlichen? Und kann man sich entschlossen gegen die Dschihadisten stellen, ohne gleich zum Mitkämpfer in einem neuen Religionskrieg zu werden?

 

Auf keine dieser Fragen gibt es einfache, völlig eindeutige Antworten. Komplexe Phänomene brauchen komplexe Antworten – und daher komplexe Bücher. Gilles Kepel, der führende französische Islamismusforscher schließt mit "Die neuen Kreuzzüge" da an, wo er mit seinem "Schwarzbuch des Dschihad" zur Jahrtausendwende endete. Seinerzeit konstatierte er den Niedergang des Islamismus: die blutigen Terrorstrategien, wie sie die Dschihad-Gruppen etwa in Ägypten und Algerien im Kampf gegen ihre lokalen Autokraten verfolgten, waren einerseits selbst schon Ausdruck des Scheiterns der islamistischen Massenbewegungen, andererseits hatten die monströsen Bluttaten den militanten Islamisten die letzten Sympathien gekostet. Daraus haben Osama bin Laden und seine Getreuen gelernt, führt Kepel nun aus: weil der Kampf gegen den "nahen Feind" aussichtlos wurde, verlegte man sich darauf, mit symbolischen Schlägen gegen den "fernen Feind" aus der Sackgasse zu kommen. Dies ist ihnen mit den Anschlägen vom 11. September und den darauf folgenden Ereignissen gut gelungen. In einer umfangreichen Lektüre der Schriften von Ayman al-Zawahiri, dem Chefideologen Osama bin Ladens, beschreibt Kepel das Kalkül der Dschihad-Strategen und ganz nebenbei gelingt es ihm damit auch zu zeigen, wie sich islamische Traditionsbestände und westliche Anleihen gut ergänzen: Für Zawahiri sind die Dschihad-Kader das "neue Kontingent", eine verschworene Avantgarde – eine Vorstellung, die an die leninistische Vorhuttheorie erinnert. Die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen, brauche eine solche Avantgarde, die auf sie einwirkt, weil sie selbst ohne entwickeltes Bewußtein ist. Vor nichts ängstigt Zawahiri sich mehr als vor einer Isolierung der Dschihadisten von den breiten moslemischen Massen – dies ist wohl die Erfahrung, die er aus dem dramatischen Scheitern der Dschihadisten in Algerien und Ägypten zieht. Die militärischen Aktionen müssten exemplarischen Charakter haben, gut nachvollzogen werden können und Identifikation ermöglichen. Nationale Kämpfe gegen Besatzer müssten von der Dschihad-Bewegung in einen Kampf gegen "die Ungläubigen" transformiert werden.

 

Diese Überlegungen rationaler Aufstandsplanung sind zutiefst westlich: Bewußtsein zu schaffen, indem eine Avantgarde in spontane Kämpfe interveniert ist ein jahrhundertealter Topos westlicher Revolutionstheorien von Blanqui über Bakunin bis Lenin und Che Guevara.

 

Heute ist der Islamismus integraler Bestandteil des Westens. Weil er als Terrain seines Kampfes nicht mehr nur den traditionellen dar al-Islam, das "Reich des Islam", definiert, sondern den gesamten Globus: und zwar einerseits, weil heute beinahe überall Moslems leben und in den Augen der Dschihadisten von Ungläubigen unterdrückt werden, andererseits, weil vor allem Anschläge gegen den Westen – und zwar am bestem im Westen – eine Identifikation potentiell sympathisierender moslemischer Bevölkerungen mit den Dschihadisten ermöglichen.

 

Kepels Buch ist ziemlich depressiv: Mit ihrer Weise, den "Krieg gegen den Terror" zu führen, treibt die US-Regierung den Islamisten Anhänger zu: "Wie ein unerfahrener Onkologe haben die USA die sichtbaren Teile der radikalislamischen Krebsgeschwulst entfernt und gerade dadurch die Bildung von Metastasen und Mutationen gefördert. Tatsächlich hat sich der Terrorismus auf der ganzen Welt ausgebreitet und seine Natur dabei global verändert."

 

Das Resultat ist etwa ein radikaler Euro-Islam, aber auch das Chaos in den islamischen Ländern des arabischen Raumes, ein Chaos, das Kepel mit dem Wort "Fitna" zu beschreiben versucht, einen traditionellen Terminus der islamischen Kultur. Fitna besagt so viel wie Chaos, Unordnung, Zerfall. Die dschihadistische Bewegung, von manchen deswegen auch Anarcho-Islam genannt, untergräbt alle traditionellen Autoritäten, auch die der Ulema, der islamischen Rechtsgelehrten. Die Dschihadisten sehen sich als die, die zur großen kämpferisch-asketischen Tradition des Propheten zurückkehren und sich damit zur eigensinnigen Interpretation von Koran und den anderen grundlegenden Schriften des Islam berechtigt. Weniger für den Westen ist der Dschijadismus daher eine Bedrohung, so Kepels Schluss, sondern mehr für die islamische Welt, der er jetzt schon "vor  allem Ruin und Zerstörung gebracht" hat. "Die Ulemas des zeitgenossischen Islam haben die Kontrolle über die Ausrufung des Dschihad verloren und verfügen nicht mehr über die Mittel, um die Gläubigen vor einer heraufziehenden Fitna zu warnen: Im Vordergrund stehen jetzt fanatische Kämpfer."

 

Dieser Aufstieg der paradigmatischen Figur des "militanten islamischen Intellektuellen" ist auch für Fouad Allam nicht ohne des Einflusses des Westens erklärbar. In seiner klugen Studie "Der Islam in einer globalen Welt" beschreibt der aus Algerien geborene, in Paris und Triest lebende Soziologe den Entstehung eines "Protest-Islam", der in vielen Elementen an die Rebellionen westlicher Protest-Generationen erinnert. Ähnlich wie Kepel, der etwa zeigt, dass die Radikalisierung des jungen ägyptischen Gymnasiasten al-Zawahiri in den späten sechtziger Jahren ganz ähnlich zu der seiner westeuropäischen Kohortenkollegen ablief, beschreibt Allam, wie radikal gesinnte Autodidakten gegen traditionelle Autoritäten zu rebellieren begannen, wie der Islamismus auch zu einer Jugendkultur mit ihren eigenen Stilen und Logos wurde. Was sich an durchaus paradoxen Tatsachen wie jener zeigt, dass heute junge Mädchen in westeuropäischen Städten den Hijab, das Kopftuch tragen, und zwar nicht als Zeichen der Unterwerfung, sondern als Zeichen der Provokation, um nicht zu sagen: der Emanzipation. Und auch das antikapitalistische Pathos, mit dem die Islamisten den westlichen Kommerz verdammen und die spirituelle Leere des Westens verhöhnen, erinnert ein wenig an vergleichbare Argumentationsreihen bekannter Revolten.  

 

Im Zeitalter der "neuen Kreuzzüge" (Kepel) wirken Westen und Orient wechselseitig aufeinander ein – und sind auch nicht mehr klar auseinanderzuhalten. Der Osten ist verwestlicht, der Westen hat seine muslimischen Communities. Für den Westen ist das eine neue Erkenntnis. Die muslimischen Gesellschaften dagegen, so die zentrale These Fouad Allams, hat der Gegensatz zwischen dem Islam und dem Westen "während des ganzen 20. Jahrhunderts von innen heraus zerfressen, und er hat Ideologien und politische Theorien hervorgebracht, die dem historischen Unterlegenheitskomplex abhelfen wollten". Der Islamismus sei Produkt der ungesunden Fixierung einer Kohorte muslimischer Intellektueller auf den Westen. Sie nahmen Elemente des westlichen Antimodernismus auf, brachten ihn aber in eine eigene Form.

 

Wie Kepel schließt auch Allam eher ohne große Zuversicht, wie Kepel sieht er im Islamismus eine Kraft der Zerstörung der reichen islamischen Kultur. Doch anders als Kepel legt Allam dabei nicht allen Ton auf das Chaos und den Zerfall, den die Islamisten über die moslemischen Gesellschaften bringen, ihn bekümmert eher die Einebnung der Vielfältigkeiten der islamischen Welt. Mit dem Siegeszug des militanten islamischen Intellektuellen, der einen asketisch-rigiden Islam predigt, nichts als Verbote ausspricht und den Anspruch stellt, zwischen Marseille und Jarkata die gleichen Ausdrucksformen zu verbreiten, werde die Vielgestaltigkeit der islamischen Tradition ruiniert.

 

Dies ist, so Allam, in höchstem Maße paradox: Ist der militante Islam seit gut achtzig Jahren die Reaktion auf die kulturelle Dominanz des Westens und die damit verbundene Tendenz, kulturelle Differenzen einzuebnen, so besorgt der Islamismus heute selbst das Geschäft der Uniformierung. Der westlichen globalen Einheitskultur steht mit einemal ein islamisches "Einheitsdenken" gegenüber, das dem postmodernen "Anything Goes" des Westens mit einer puritanischen Verbotskultur begegnet, und die dem westlichen Lebensstil mit einem Todeskult kontert, für dessen Verbreitung mit westlichen Technologien  gesorgt wird.   

 

Gilles Kepel: Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens. Aus dem Französischen von Bertold Galli, Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Piper-Verlag, München, 2003. 338 Seiten, 22,90 Euro.

 

Fouad Allam: Der Islam in einer globalen Welt. Aus dem Italienischen von Karl Pichler. Wagenbach-Verlag, Berlin, 2004. 204 Seiten, 11,90 Euro.

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