Der Tod, der geliebte

Wie der Djihadismus zu einer Terrorreligion wurde, die vom Triumph des Todes über das Leben träumt. Eine kurze Kulturgeschichte der al Kaida. Falter, April 2004

 

"Ihr liebt das Leben, und wir lieben den Tod". In dem vielzitierten Schlüsselsatz des "Militärsprechers für Europa" der al Kaida steckt wohl die Wahrheit des Djihadismus. Der Satz ist nicht neu. Er wurde in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer und immer wieder wiederholt, auf Audio-Kassetten, Videos, E-Mails der al Kaida und der ihr angeschlossenen Gruppen. Er ist zu der Erbauungsparole schlechthin des radikalen Islamismus geworden. In ihr kommt ein exzentrischer Todeskult zum Ausdruck. Wenn nicht alles täuscht, markiert diese Feier von Tod, Massaker, Schrecken die Verwandlung des Djihadismus von einer extrem religiösen, aber doch noch auf weltliche Ziele orientierten Kraft zu einer Todessekte. Gewiß gab es immer schon im islamistischen Lager diese aus dem Koran abgeleitete heroische Überhöhung von Todesverachtung und die Bereitschaft, zum "Shahid", zum Märtyrer zu werden – der Opfergang schien aber doch immer ein Mittel zu irgendeinem Zweck. Und gewiß gibt es auch heute noch Elemente politischen Kalküls im Agieren der radikalen Islamisten. Aber das Verhältnis von Ziel und Mittel hat sich verschoben. Das Mittel ist zum Zweck geworden, zur kultischen Tat.

 

Man ahnte das schon, als kurz nach dem 11. September 2001 ein Text bekannt wurde, mit dem der Ringleader der WTC-Attentäter, Mohammad Atta, seine Co-Kamikazes auf ihren großen Moment einstimmte – den "Augenblick der Wahrheit", wie es in dem Dokument heisst. Darin wird festgelegt, welche Gebete die Attentäter im Taxi zum Flughafen rezitieren, wie sie sich waschen sollen und sie werden ermahnt "totale Ruhe zu empfinden", weil nun die "Zeit bis zu Deiner Hochzeit nur mehr sehr kurz ist. Danach beginnt das glückselige Leben". Und weiter: "Sei glücklich, optimistisch, ruhig, denn Du hast eine Tat vor Dir, die Gott liebt." Der schrecklich bewegende Text gilt heute als Gründungsdokument einer Terror- und Todesreligion.

 

Man schlägt zu, mit dem Ziel, soviele Menschen wie möglich zu töten. Wer die Opfer sind, kümmert nicht weiter. Schon ein bißchen jenseits dieser Welt, hat man nichts mehr zu rechtfertigen. Zweifelsohne war das von Beginn an in der islamistischen Doktrin angelegt. Bei Sayyid Qutb, dem ägyptischen Moslembruder, der in den sechziger Jahren den radikalen Djihadismus ideologisch begründete, klang es schon an: wenn er davon sprach, die Kämpfer Gottes müssten sich von der sie umgebenden Gesellschaft absondern und "über das Leben durch einen grandiosen Glauben triumphieren".

 

Aber doch war der Islamismus da dem reinen Kult des (Selbst-)Opfers noch fern. Auch Osama bin Laden, damals 22jährig, Milliardär aus Saudi-Arabien, ging Anfang der 80er Jahre nach Pakistan um von dort den "heiligen Krieg" gegen die kommunistischen Ungläubigen in Afghanistan zu unterstützen. Dort trifft er auf Abdullah Azzam, zu dieser Zeit der einflussreichste Propagandist des militanten Djihad. Azzam war zwar ein fanatischer Todesprediger ("Die Liebhaber der Paradiesjungfrauen", heisst eines seiner Werke), Terror gegen den Westen lehnte er aber ab.  Zu diesen Djihad-Legionären stoßen radikale Islamisten aus arabischen Ländern, die schon länger den Kampf gegen die Autokratie in ihren Ländern führen – etwa aus Ägypten, wo der "Islamische Djihad" es schon geschafft hatte, einen Präsidenten zu ermorden, Anwar Sadat nämlich.

 

Nach dem Triumph über die Sowjets strotzen die Djihadisten vor Selbstbewußtsein. Osama bin Ladens Servicestelle für Afghanistankämpfer wurde in die al Kaida – "die Basis" – umgewandelt, gedacht als Gravitationszentrum eines Netzwerks. Die "arabischen Afghanen" schwärmten wieder aus in ihre Heimatländer. Der Islamismus hatte mancherorts grosse Erfolge, etwa in Algerien, wo nur ein Militärputsch die Machtübernahme der "Islamischen Heilsfront" verhinderte. Die Herrschenden, sei es in Ägypten, sei es in Algerien, unterdrückten die Islamisten mit harter Hand, worauf die Radikalen mit Massakern antworten. Die Djihadisten verbreiteten nur mehr nackten Schrecken und verloren die Unterstützung der Bevölkerung. Hier wurde der Grundstein zu der politischen Todeskultur gelegt: mit dem Rücken an die Wand gedrängt, zogen die Dijadisten, seien es die des "Islamischen Dijhad" und der "Gamaa al-Islamya" in Ägypten, seien es die der "Bewaffneten Islamischen Gruppe" in Algerien, eine politisch völlig sinnlose Blutspur durch ihre Länder. Als der Kampf endgültig verloren war, gingen sie ins Exil. Nicht wenige übrigens nach Europa.

 

Es traf sich, dass Osama bin Laden, nach einer Odyssee durch seine Heimat Saudi-Arabien und den Sudan wieder nach Afghanistan zurückkehrte, das nun die Taliban kontrollierten. Hier konnten die Djihadisten ihre Lager einrichten, Krieg führen üben und das Fabrizieren ferngesteuerter Bomben lernen: eine Truppe wurde geformt, eine terroristische Version von Special Forces. Eine neue Etappe des Djihads begann – internationaler, transnationaler. Die Militanten saßen verstreut in Ägypten, Indonesien, Marokko, Frankfurt, Algerien, Paris, London und sonstwo und kamen in Afghanistan zusammen. Und weil sie ihren "eigenen" Despoten nicht bekommen konnten, orientierten sie sich auf den Feind USA und "den Westen", unterstützten zwischendurch ihre Glaubensbürger in Tschetschenien oder Bosnien. Der Tod war, wenn man so will, schon seit Jahren ihr Begleiter, man hatte Freundschaft mit ihm geschlossen.

 

Um bin Laden sammelten sich die Radikalsten der Radikalen. Der ägyptische Doktor Ayman al-Zawahiri, der Militärfachmann Mohammad Atif und eine junge Generation kluger Köpfe, Männer, die meist aus dem arabischen Mittelstand stammten und eine gute, oft technische, Ausbildung hatten. Männer wie Khalid Sheikh Mohammad, Abu Zubajadah und Ramsi Binalshib, die Zentralfigur der Hamburger Terrorzelle. Al Kaida war ein Netzwerk, aber zentral koordiniert, mit engeren Kreisen und äußeren, auf die Osama bin Laden mehr als Inspirator wirkte.

 

Doch fühlten sich die Exponenten dieses globalisierten Djihad immerhin noch gezwungen, ihre Taten zu rechtfertigen, zumal wenn Moslems ums Leben kamen, wie bei den Bomben auf US-Botschaften in Afrika. "Wenn es unmöglich ist, die Amerikaner zu vertreiben, ohne sie direkt anzugreifen, das aber dazu führt, daß auch Moslems sterben, dann ist das vom islamischen Recht erlaubt", wand sich Osama bin Laden noch 1998 gegenüber einer US-TV-Station.

 

Vom ursprünglichen Djihad-Konzept, das die Radikalen einst nach Afghanistan geführt hat, um die sowjetische Armee zu bekämpfen, hatte man sich aber schon Lichtjahre entfernt. Eine Umorientierung, und der 11. September 2001 wurde ihr Meisterstück. Der anschließende Krieg in Afghanistan beraubte al Kaida seines strategischen Zentrums. Das Gros von bin Ladens Kämpfern wird in alle Winkel der Welt geweht. Von den dreißig führenden Köpfen, so die Rechnung westlicher Geheimdienste, sind mehr als ein Drittel getötet worden oder in Haft, bin Ladens engste Entourage ist im afghanisch-pakistanischen Grenzland von Kommunikation weitgehend abgeschnitten. Er ist für die dezentral agierenden, autonomen Djihad-Gruppen wohl nur mehr eine mythische Heiligenfigur, der "Alte vom Berg".

 

Heute funktioniert das Chiffre al Kaida eher wie ein internationales Franchise-Unternehmen. Da gibt es türkische Zellen, die "ihr Ding" machen, die al Tawid-Gruppe um den Jordanier Abu Musab al Zarqawi, die in Deutschland aktiv war, die aber auch wesentlich für die Anschläge im Irak verantwortlich gemacht wird. Da gibt es die nordafrikanische "Familie" (Marokkaner, Algerier, Tunesier, Libyer und Ägypter), die Attentate in Nordafrika und Europa plant. Es gibt Djihad-Gruppen in Malaysia, Indonesien, Philippinen, Singapur, Pakistan, Saudi-Arabien. Durchaus geübt und routiniert in Kooperation. So steht der in der Vorwoche wegen dem Madrider Vororte-Massaker verhaftete Dschmal Sugam seit längerem im Verdacht, mit Mohammad Atta und seinen Kumpels vor dem 11. September in Spanien zusammengetroffen zu sein.

 

Sie alle zeichnet heute im Grunde aus: Sie wollen terrorisieren und schielen gar nicht mehr nach Sympathie. Noch der 11. September löste in den moslemischen Ländern sowohl Erschrecken und Faszination aus. Den Anschlägen von Bali, von Casablanca, von Kerbala, Nadschaf, Bagdad dagegen fielen vornehmlich Moslems zum Opfer. Auch die Anschläge von Istanbul vom vergangenen November waren alles andere populär. Und die Attentäter von Madrid nahmen keinerlei Rücksicht auf die islamische Minderheit im Land – dabei leben allein in Madrid 110.000 Marokkaner.

 

Die Anschläge "erzeugen nichts als Hass gegen die Urheber", sagt Navid Kermani, der renommierte deutsch-persische Islamwissenschaftler. Und: "Es geht bei diesen Taten nicht darum, jemanden zu überzeugen, sondern nur darum, Angst zu verbreiten." Der moderne Djihadismus erinnert zunehmend an die Todestrips des modernen Nihilismus.

 

Womöglich ist es gerade das, worauf man hoffen kann: dass die, die mehr als alles "den Tod lieben", die letzten Sympathien verspielen, sich von ihrem Umfeld isolieren und dass irgendwann aus der Mitte der islamischen Kultur ein unüberhörbares "Nein" kommt.

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