Unter einem dunkleren Himmel

Das nachutopische Zeitalter und die Krise politischer Vorstellungskraft. Ein Essay für die Zeitschrift des Schauspiels Frankfurt.

Vor einigen Wochen brachte der Liederschreiber, Sänger, Theatermacher und Buchautor Peter Licht eine Schallplatte mit dem aufreizend unzeitgemäßen Titel heraus: „Lieder vom Ende des Kapitalismus“.

 

Im titelgebenden Stück heißt es:

 

„Hast du schon hast du schon gehört / das ist das Ende /

das Ende vom Kapitalismus – / jetzt isser endlich vorbei. /

Vorbei / vorbei / vorbei / vorbei / vorbei vor-horbei /

vorbei / vorbei / vor vorbei vorbei /

Jetzt isser endlich vorbei.“

 

In einem erklärenden Interview führte der Sänger aus, ihm wäre es dabei um die Behauptung gegangen, „es könnte sich auch alles anders ändern“. Und im Nachsetzen: „Es könnte doch sein, dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt.“

 

Das ist natürlich eine Behauptung im Stil der „paradoxen Intervention“, die eine Wahrnehmung nahe legt, die völlig gegenläufig zu den gewohnten Wahrnehmungsformen ist. Der Satz „es könnte doch sein, dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt“, funktioniert nur angesichts eines anderen, unausgesprochenen Satzes, der ihm wie eine Art Subtext zugrunde liegt. Lichts Vers spielt gewissermaßen mit der allgemein geteilten Auffassung, dass es keineswegs sein könne, „dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt“. Er ist deswegen auch nur vordergründig eine Widerrede gegen diesen Satz, gleichzeitig ist er seine Bestätigung in Form einer Verneinung. Er lebt vom Thrill des Absurden. Würde eine nennenswerte Zahl an Zuhörern ihm zustimmen, wäre der Satz ziemlich nichts sagend. So verweist er auf den eklatanten Mangel an politischer und sozialer Phantasie, doch er verweist auf dieses Problem in einer Weise, die es sofort auch wieder verdoppelt. Denn natürlich wird die Option, dass alles auch anders sein oder „sich auch alles anders ändern“ könne, nicht als etwas Reales behandelt, sondern als esoterisches Phantasma: dass alles anders ist, kann man sich eben „nur“ vorstellen, so wie man sich alles mögliche vorstellen kann, etwa, dass die Schwerkraft morgen nicht mehr gilt oder die Erde um die Sonne kreist.

 

Ist es das, was von der Utopie nach dem Utopieverlust geblieben ist – dass man sich alles doch irgendwie ausmalen kann, jenseits von Realisierbarkeiten und Probabilitäten? Nur noch als die irre Hoffnung, dass das bisher Existierende über Nacht zu existieren aufhört, aus irgendwelchen undurchschaubaren Motiven? Alle bisherige Utopie, auch wenn sie heutzutage aus verschiedenen Gründen einen schlechten Ruf hat, war ja von ihrer Realisierbarkeit überzeugt, auch wenn sie noch so unrealistisch gewirkt haben mag. Sie war getragen von zweierlei Überzeugungen, die heute beide schwer in Bedrängnis geraten sind. Und zwar ersten von der Gewissheit, dass Gesellschaften vernünftig gesteuert werden könnten, von einer Art sozialtechnischen Glauben an die Gesellschaft als eine Maschinerie, die nur noch nicht ganz rund läuft und deren Fehler, einmal erkannt, behoben werden können so wie eine unausgereifte Apparatur von einem guten Ingenieur oder Mechaniker optimiert werden kann. Und zweitens von einem optimistischen Zeitempfinden, einem prinzipiellen Futurismus, dass die Geschichte vom Schlechten zum Guten, vom Guten zum Besseren vorwärts schritte, das Alte absterben und vom guten Neuen ersetzt wird.

 

Diese Überzeugungen teilten die „utopischen Utopien“ mit den „antiutopischen Utopien“.

 

Erstere sind die „großen Utopien“, die man früher schon als realitätsfremde Kopfgeburten bezeichnete, als „Träume von einem Himmel, der niemals auf der Erde existieren“ kann (Immanuel Wallerstein). Meist hatten sie etwas von aseptischen Phantasien, mögen wir etwa an Thomas Morus’ „Utopia“ aus dem 16. oder an Ernest Callenbachs „Ökotopia“ aus dem 20. Jahrhundert denken. Sie malten sich eine vernünftige, widerspruchfreie und etwas zu gut aufgeräumte Welt aus – oder sogenannte „Idealstaaten“ –, aber sie meinten ihre Sache durchaus ernst. Ihr Betriebsmodus könnte als pausbäckiger Vernunftgaube bezeichnet werden: Man muss sich eine gute Ordnung nur im Kopfe entwerfen, dann brächte man die Menschen, diese vernunftbegabten Wesen, schon dazu, eine solche Welt zu schaffen.

 

Worauf sie keine Antwort gaben, war, wie aus den schlechten „Realstaaten“ die guten „Idealstaaten“ entstehen sollten, wenn denn dem schlechten Alten nicht nur ein „schlechter Plan“, sondern möglicherweise auch reale Interessen oder Unzulänglichkeiten des, wie Kant sagte, „aus krummen Holz geschnitzten“ Menschengeschlechtes zugrunde lagen, die sich mit vernünftiger Überzeugungsarbeit nicht einfach aus der Welt schaffen ließen. Es brauchte also eine plausible Verbindung von den Realstaaten zu den Idealstaaten durch den historischen Prozess. Die Antwort auf die „utopischen Utopien“ war der Marxismus, diese eigentümliche „antiutopische Utopie“. Ausgehend von der Überzeugung, dass das Wünschen nichts hilft, wenn in der Realität keine Tendenzen auszumachen sind, die dem Guten günstig und dem Schlechten ungünstig sind, versuchte Marx die Utopie zu dementieren, indem er sie in der Wirklichkeit verankerte. Marx wollte in den Bedingungen seiner Gegenwart die Bewegungen ausmachen, die zu einer anderen Gesellschaft führen. „Die Befreiung ist eine geschichtliche Tat, keine Gedankentat“, formulierte Marx und später, in einer Schlüsselpassage seines Werkes: „Wir nennen den Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“. Marx’ Sichtweise war so simpel wie raffiniert: Ressourcen für ein würdiges Leben aller, für allgemeine Teilhabe am Reichtum gibt es genug, dafür habe die kapitalistische Dynamik gesorgt; indem die kapitalistische Arbeitsteilung Kooperation auf nie dagewesener Grundlage nötig machte, ist sie eine Schule für demokratische und freie Assoziation; und indem, im Widerspruch zu diesen Möglichkeiten, einer anschwellende Masse an Menschen die Teilhabe an Freiheit, Reichtum und individueller Entfaltung versagt bliebe, entstünde eine gesellschaftliche Kraft, die diesen überlebten Verhältnissen den Garaus machen würde. Das war, wie wir heute wissen, nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.

 

Der grundsätzliche, zukunftsfröhliche Futurismus, der die marxistische Gedankenbewegung durchzieht, ist bis heute das Modell für politische und soziale Veränderungsphantasien, weil sie, wie originell sie immer auch gewesen sein mag, doch auch ein Kind ihrer Zeit war: sie harmonierte nicht schlecht mit dem Fortschrittsglauben der klassischen Moderne. Denn in zwei Dingen waren sich der revolutionäre Marxismus, der sozialdemokratische Reformismus und die anderen Spielarten modernen Denkens einig. Erstens: Es gibt einen Fortschritt. Zweitens: „Gesellschaft“ ist eine Apparatur mit Stellschrauben, an denen man nur drehen muss, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen (auch wenn die klügeren Vertreter dieser Zeittendenz durchaus wussten, dass es verdammt viele Stellschrauben gibt, und dass, an je mehr man zu drehen hat, umso schwieriger zu prognostizieren ist, wie genau das erzielte Resultat aussieht).

 

Was wir heute etwas unscharf als „Utopieverlust“ bezeichnen hat also viel tiefere Gründe als die Auflösung der Bindekräfte der Arbeiterbewegung, das Versiegen rebellischer Energien oder gar dem Untergang des sowjetischen Orbit. Gewiss gingen all diese Prozesse mit diesem einher, doch entscheidend ist, dass zwei Standards klassischen Denkens an ihr Ende gekommen sind: die Idee des Fortschritts und die Idee von der grundsätzlichen Steuerbarkeit gesellschaftlicher Prozesse. Auch wenn nur wenige bestreiten würden, dass es weiter „Fortschritte“ – in der Mehrzahl – gibt, im Sinne der Verfeinerung von Technik, von Innovation, auch von Verbesserungen in gesellschaftlicher Hinsicht (im Gesundheitswesen, Erhöhung der Lebenserwartung, Bekämpfung des Analphabetismus auf globaler Ebene etc.), so ist die grundsätzliche Gewissheit doch abhanden gekommen, dass so etwas wie ein grundsätzlicher gesellschaftlicher Fortschritt ein Gesetz der Geschichte sei. Eher wird er, wenn schon, als kontingent – also gewissermaßen als Zufall – behandelt: Es kann ihn geben, muss aber nicht und eine innere Logik kann ihm bestenfalls post festum zugeschrieben werden. Außerdem zeigt die Geschichte des „Fortschritts“, dass die Fortschritte von heute leicht die Probleme von morgen sein können, von denen wir heute noch keine Ahnung haben. Mehr noch: Etwas Besseres als die freiheitlichen Rechtsstaaten des Westens hat der historische Prozess ohnehin nicht im Petto.[1] Mindestens so zerzaust wie die Fortschrittsidee ist der Glaube an die sozialtechnische Steuerbarkeit von Gesellschaften. Er ist heute durch die Überzeugung ersetzt, dass alle Hebel zur Steuerung eines solch komplizierten Gefüges wie „Gesellschaft“ zu unterkomplex für die Komplexität der Aufgabe seien. Das Resultat ist die (gewiss ebenso fragwürdige) Gewissheit, dass wir im Grunde nichts mehr tun können, weil unsere Handlungen zur Lösung der Probleme von heute sofort unintendierte Folgen zeitigen und nichts hervorbringen als die Probleme von morgen – und dass wir, wie uns die moderne Systemtheorie nahe legt, deshalb besser gar nichts mehr tun sollten.

 

Diese Gedankenreihen sind keineswegs unplausibel. Im Gegenteil, es wäre absurd, ihre Plausibilität zu bestreiten. Gerade, weil sie keineswegs unplausibel sind, sind sie ja so mächtig. Deswegen haben alle Jeremiaden über die ideologische Dominanz des Neoliberalismus oder die manipulative Macht der Medien oft so etwas Ermüdendes. Die gibt es zwar, sie sind aber keine hinreichende Erklärung für die Schwäche utopischer Energien. Schließlich haben die Mächtigen immer schon behauptet, die je aktuelle Welt sei die beste aller möglichen Welten, was nicht notwendigerweise dazu geführt hat, dass man ihnen das auch geglaubt hat.

 

Das Problem ist eher, dass der „Utopieverlust“ ein Resultat der Einsicht in die blinden Flecken des Utopischen, über sich selbst freilich weitgehend unaufgeklärt ist. Ohne utopische Energien hausen wir unter einem dunkleren Himmel. Gewiss konnten sie auch Antrieb für Fragwürdigkeiten sein – wenn das Himmelreich auf Erden errichtbar ist, dann sind die Opfer von heute verschmerzbar, dem Glück von morgen wegen. Aber das gilt für die Utopielosigkeit nicht minder: Wenn Leid, Unterdrückung und Armut zur – leider, leider – unveränderbaren Realität erklärt werden, dann kann man sie mit einem Achselzucken abtun. Vor allem aber war die Utopie eine Strategie, mit Widrigkeiten umzugehen und sie zu überwinden. Die gesamte westliche Tradition von Gesellschaftskritik war von unausgesprochenen inneren Motiven des Utopischen durchzogen. Es wurde ja nicht einfach kritisiert, weil es so vieles gibt, was Wert wäre, kritisiert zu werden. Ein Akt der Kritik implizierte, dass etwas in eine Krise geraten ist und durch Neues ersetzt werden müsse. Utopisches Zeiterleben erlaubte, mit Krisen produktiv umzugehen. Wenn ich der festen Überzeugung bin, dass das Alte schlecht ist und auf dieses zumindest potentiell etwas Besseres folgt, dann hat Krise einen anderen Status als wenn ich nur das erlebe, was wir in unserem umgangssprachlichen Gebrauch heutzutage eine „Krise“ nenne. Modernes „Krisenbewusstsein“ erlebte Krise nicht als Katastrophe oder ausweglose Malaise, sondern als „Verwandlungs-Zeitraum“ (Immanuel Wallerstein), als Moment systemischer Weichenstellung, als ein Versprechen, wenngleich ein riskantes – nicht unähnlich der „Krisis“ des Kranken, die, sofern der Sieche sie überlebt, die Genesung folgt.

 

Das Ende des utopischen Zeitempfindens hat also Folgen – keineswegs erfreuliche, bisweilen auch absurde. Nehmen wir nur die Themen, die die Leitartikel, den Buchmarkt, die Feuilletons dominieren. Alles von einem depressiven Sound durchzogen. Was lesen wir da täglich: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die fortschrittlichen Industriegesellschaften des Westens bevölkern Kohorten „überflüssiger Menschen“. Da tickt es, dort tickt es. Da die demographische, dort die ökologische Zeitbombe. Nicht zu vergessen: Afrika. Klimawandel. Der Clash of Civilizations. Das Öl geht aus. In den Sachbuchbestsellerlisten Bücher mit so unzweideutigen Titeln wie „Kollaps“. Kurzum: Es ist fürchterlich. Doch all diese Krisen summieren sich seltsamerweise zu keinem „Krisenbewusstsein“ in einem eminenten Sinn. Dazu bräuchte es mehr: das Bewusstsein, dass das „große Ganze“ nicht mehr funktioniert und hoffentlich bald durch etwas Neues, Zeitgemäßes ersetzt wird.

 

Das allgemeine Katastrophenbewusstsein ist das, was vom utopischen Zeiterleben geblieben ist – das kann nicht ohne skurrile Volten bleiben. Auf eine hat etwa der slowenische Philosoph Slavoj Zizek hingewiesen. Die ökologische Bewegung hat es absolut einsichtig gemacht, den Weltuntergang für höchst realistisch zu halten, schreibt er. Gleichzeitig aber kann sich keiner mehr auch nur kleinste Änderungen des Wirtschaftssystems vorstellen. Die Endlichkeit der Welt mag realistisch sein, der Kapitalismus ist ewig.

 

Wir erleben heute ungeheure wissenschaftliche Fortschritte. Bald werden wir genau wissen, wie das menschliche Gehirn funktioniert, wir wissen, wie und unter welchen Umständen Menschen das Gefühl haben, eine geglückte Existenz zu führen, wir können, auch ohne den Einsatz von Gentechnolgie, schon heute 12 Millionen Menschen ernähren, die rasanten technologischen Veränderungen führen jetzt schon zu regelrechten Revolutionen der Arbeitsorganisation, die selbst unter gegenwärtigen Bedingungen die Möglichkeiten der Subjekte, sich selbst sinnvoll zu verwirklichen, drastisch erhöhen – und wir können uns andererseits kaum vorstellen, das Sozialversicherungssystem und den Arbeitsmarkt anders zu organisieren, als wir das in den vergangenen hundert Jahren getan haben.

 

Auch diese eklatante, geradezu skurrile Diskrepanz hat etwas mit Utopieverlust zu tun, mit dem Verschwinden rudimentärster sozialer Phantasie.

 

Gewiss, es hat keinen Sinn, nach dem Ende der Großutopien „mehr Utopie“ zu fordern – dies ist etwa so nützlich, wie wenn Agnostiker sich sinnlos mühen, an Gott zu glauben, weil sie zu der Ansicht gelangt sind, dass die Bindekräfte des Religiösen gar nicht so schlecht waren. Es geht eher darum, die Welt wieder als veränderbar und als verbesserbar zu begreifen – das ist sie nämlich selbst dann, wenn sie nicht mit einem großen Plan zu einer idealen Welt verändert werden kann. Außerdem: auch die großen Pläne haben noch ihren Nutzen, denn an ihnen kann man wenigstens scheitern und noch in diesem Scheitern die Welt weiterbringen. Und vor allem: die Abgeklärtheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Auch sie hat ihren Preis: Stillstand. Ja: Rückschritt. Wer Realismus sagt und damit meint: „alles bleibt, wie es ist“, der sollte sich genau überlegen, ob er diesen Preis zu zahlen bereit ist.




[1] Kanonisiert hat diese Haltung, gewürzt mit einer Prise Hegelei, der amerikanische Politiktheoretiker Francis Fukuyama.

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