Gottes 68-er

Fit für den Papstbesuch. Gestern war er als Panzerkardinal gefürchtet, heute haben ihn fast alle lieb. Wenn er gegen den „Werterelativismus“ wettert, finden das neuerdings sogar Liberale gut. Schon gilt er manchen gar als Gottes Antwort auf die 68er. Wie tickt Benedikt XVI.?

Es gibt Menschen, die das Kunststück zuwege bringen, immer unbekannter zu werden, je mehr sie an Berühmtheit zulegen. Papst Benedikt XVI. ist eindeutig so ein Fall. Man kannte ihn genau, als der Kardinal Joseph Ratzinger, damals gerade 78 Jahre alt geworden, zum Papst gewählt wurde. Er war der „Panzerkardinal“, der schneidig scharf formulierende römische Großinquisitor, der Feind aller Reformen und oberste Strippenzieher aller vatikanischen Reaktionäre. „Es wird sehr schwer sein, diesen Papst zu lieben“, sagte Leonardo Boff, führender Kopf der von Ratzinger kaltgestellten Befreiungstheologen, anlässlich von Benedikts Amtsantritt 2004.

 

Als Chef der römischen Glaubenskongregation war er ein Hardliner und er hat kaum eine Gelegenheit ausgelassen, das unter Beweis zu stellen. Sein Chef, Papst Johannes Paul II., war zwar auch ein strenger Hüter der reinen Lehre, dafür aber volkstümlich und medienbewusst genug, um theologische Härte mit habitueller Freundlichkeit zu konterkarieren. Nicht so Ratzinger, der für Kompromisse und halbe Sachen nicht zu haben ist. Als Johannes Paul II. 1997 etwa Bob Dylan einlud, beim Eucharistischen Kongress in Bologna aufzuspielen, versuchte Ratzinger den Auftritt bis zuletzt zu verhindern. „Nihilistisch“ seien die Texte der Folkpop-Legende.

 

Doch Johannes Paul II. ließ sich die Freude an „Blowing in the Wind“ nicht nehmen – die Antwort, die ganz allein der Wind kennt, das klingt ja doch irgendwie nach Heiliger Geist, das dürfe man nicht so eng sehen, soll Karel Wojtyla sinngemäß gesagt haben. Ratzinger hält das schon für gefährliches Spiel mit dem „Relativismus“.

 

Ein glasklarer Reaktionär, so kannte man ihn. Die Bischöfe in Deutschland, selbst keine Liberalen, nur eben nicht ganz so konservativ wie Ratzinger, hatte er stets das Fürchten gelehrt.

 

Zwei Jahre nach seiner Wahl zum Pontifex Maximus ist man sich plötzlich nicht mehr so sicher, wie Ratzinger wirklich tickt. Dabei haben wir eine Menge neuer Dinge über ihn erfahren: dass er Sonnengläser von Gucci trägt, einen iPod Nano mit 2 Gigabyte sein Eigen nennt, dass er nie etwas anderes als das päpstliche Weiß trägt („Auch beim Fernsehen“, wie unlängst sein Privatsekretär Georg „der schöne Giorgio“ Gänswein verriet), drunter aber auch schon mal edle rote Schuhe von Prada, und dass der Achtzigjährige in seinem Appartamento Privato ein Trimmrad stehen hat, mit dem er sich fit hält. Der Leibarzt hat es auf „extrahart“ eingestellt.

 

Für viele ist der Papst eine positive Überraschung – was gewiss, angesichts der Erwartungen, kein großes Kunststück ist. Sieh da, Benedikt XVI. ist gar kein so verbiesterter Finsterling, stellte sich heraus, sondern ein älterer, freundlicher Herr, der schelmisch zu lächeln versteht, dem auch schon mal ein ironischer Halbsatz über die Lippen kommt. Und wenn er frech und scheu zugleich blickt, schaut er aus wie ein Spitzbub! Joseph Ratzinger hat sich als Papst Benedikt XVI. noch einmal neu erfunden – als Kirchenführer, „der ganz anders ist“, wie der Theologe, Journalist und Papst-Biograph Stephan Kulle formulierte. Kulles erstaunliches Resumee: „Benedikt XVI. ist die Antwort Gottes auf die 68er-Bewegung“.

 

Joseph Ratzinger, der Sohn eines bayrischen Gendarmen – eine Art klappriger Rudi Dutschke in Soutane? Eine gewagte These. Aberwitzig, aber doch auch nicht ganz falsch.

 

Einer der intimsten Kenner Ratzingers ist Peter Seewald – er hat einige Interviewbücher mit dem Kardinal gemacht und eine große Benedikt-Biographie geschrieben. Schon das ist eine eigentümliche Symbiose: Seewald war als 19jähriger aus der katholischen Kirche aus- und in eine maoistische K-Gruppe eingetreten, später Journalist beim „Spiegel“ und der „Süddeutschen“ geworden. Nach seinen Interview-Sessions mit Ratzinger ist er vor zehn Jahren wieder der Kirche beigetreten, heute betet er vor jedem Essen. Es gibt eben so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, sagte Ratzinger dem Ex-Kommunisten ins Mikrophon, den er eigenhändig aus den Klauen des Atheismus rettete. Ratzinger und Seewald, die beiden erwiesen sich seltsam auf einen Ton gestimmt. Die Kirche müsse ihre Güter aufgeben, um ihr Gut zu verteidigen, sagt Ratzinger in einem der Gespräche, muss mehr geistige Gegenwelt sein als Institution. Und er gestand, dass er früher „ein eifriger Leser von Romanen und Poesie“ gewesen sei: „Hesse, Kafka, Thomas Mann.“ Nachsatz: „Mein Lieblingsbuch von Hesse ist ‚Der Steppenwolf’“.

 

Man kann da schon ins Staunen kommen. Hesses Romantraktat über die Niedrigkeiten der bürgerlichen Welt, darüber, wie der wirkliche Mensch vom „Scheinmenschen“ vom Bürger „erdrückt und gefangen gehalten“ werde, dieses frühe egoexistenzialistische Manifest – eines von Ratzingers Lieblingsbüchern? Dieses „Gegen-die-Welt“-, „Gegen-den-Mainstream“-Pamphlet? Seit Generationen ist es für leicht verwirrte Teenager das Eintrittsticket in etwas ungezieltes Rebellentum und Fixbestand dessen, was der Frühadoleszent, der irgendwie „dagegen“ ist, durchzunehmen hat: Hendrix, Hesse, Guevara. Eine von diesen Geschichten vom „Ich“ eben, das sich gegen die Welt stellt, gegen den Konformitätsdruck.

 

Aber womöglich stellt sich Ratzinger seine Kirche als Heimat für solche Leute wie Hesses Harry Haller vor. Es ist dies der „Sound“ (Seewald), den Ratzinger für sein Pontifikat im Ohr hat. Die Kirche solle wieder so etwas werden wie ein Reich, „nicht von dieser Welt“. Angesichts des allseits beklagten „Sinndefizits“ gäbe es gerade für eine solche Kirche, die sich gegen das „Anything goes“ stellt, eine Marktlücke, hat Ratzinger offenbar erkannt. Erst unlängst hatte Ratzinger das in seinem Buch „Jesus von Nazareth“ durchdekliniert. Darin wendet er sich gegen die „Kultur des Habens“, gegen die „Diktatur des Gewöhnlichen“. Jesu’ Verheißung sei für „Menschen, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen“, insistiert er immer wieder, die sich nicht dem Diktat der herrschenden Meinungen und Gewohnheiten beugen, sondern „die Ausschau halten“, „auf der Suche nach dem Großen“ sind.

 

Solche Sätze hätten Kurt Cobain sicher gefallen, und gegen die „Diktatur des Gewöhnlichen“ sind die Punks aus dem EKH auch.

 

Rund 500.000 mal ging allein die deutsche Ausgabe über den Ladentisch.

 

Diese scheinbare Aus-der-Welt-Gefallenheit, diese „Weltverneinung“, das, was Jan Assmann in anderem Zusammenhang „existentielle Weltfremdheit“ genannt hat, verschafft dem Papst auch bei vielen gesellschaftskritischen Zeitgenossen Kredit. Einer, der sich derart gegen den „Zeitgeist“ stellt, stößt auf Sympathie in einer Zeit, in der die immergleiche Ablösung der Zeitgeist-Strömungen nur mehr für Langeweile sorgt. Einer der tapfer gegen den Relativismus kämpft – dagegen also, dass alle möglichen Meinungen als gleich gültig gelten –, der erscheint da mit einem Mal nicht mehr als schlimmer autoritärer Finger, sondern als mutiger Zeitkritiker, oder zumindest als sympathischer Sonderling.

 

So mancher linke oder linksliberale Weltverbesserer findet Ratzinger plötzlich gut. Das ist nicht immer ohne Komik. Da wird Ratzingers Schelte der „Diktatur des Relativismus“ oft von Kommentatoren applaudiert, die vom Pluralismus der Meinungen leben, und die des Kirchenführers tapferen Anti-Liberalismus natürlich nur solange originell finden, solange nicht zu befürchten ist, dass daraus etwas Konkretes folgt.

 

Noch Benedikts Widerständigkeit gegen alle Reformen ist da plötzlich in milderes Licht getaucht – was man früher verstockt genannt hätte, scheint plötzlich prinzipienfest. „Wer die Bequemlichkeit sucht, ist bei Christus an der falschen Adresse“, sagt er. Bei Benedikt auch. Die Kirche, die sich der „Papa Razzi“ wünscht, ist keine Allerwelts-Volkskirche, die es allen recht macht, sondern das, was Wiens Kardinal Christoph Schönborn eine „Entscheidungskirche“ nennt: lieber eine Kernkirche von Überzeugten als eine ausgefranste Weltkirche, in die man halt so hineingeboren wird, und der man höchstens aus Bequemlichkeit treu bleibt.

 

Dass der Theologe am Papststuhl – „Professor Doktor Papst“ wird Ratzinger scherzhaft genannt – mit einem großen Schöpflöffel griechischer Philosophie und mehr als einer Prise Augustinus-Beigabe das Christentum als die „Vernunft-Religion“ zu präsentieren versucht, stößt zwar die Gläubigen jener Religionen ab, die damit als unvernünftige Religionen charakterisiert werden (also alle anderen, Protestanten inklusive), nicht aber manche linksliberale Denker, die Ratzinger noch vor zehn Jahren als bösen Neokonservativen verteufelt hätten. „Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden“, proklamiert Ratzinger. Legendär ist in diesem Zusammenhang etwa das Gipfeltreffen, das Ratzinger, damals noch Kardinal, mit Jürgen Habermas in München hatte. Angesichts der Menschenzuchtsphantasien der modernen Reproduktionsmedizin, sagte Habermas, könnte die Religion ein Korrektiv für eine „entgleisende Säkularisierung“ sein.

 

Ratzinger war da ganz seiner Meinung.

 

Da wird dann gerne im Ungefähren gelassen, was denn die Alternative zum „Werterelativismus“ wäre – verordnete Moral? Und ob der Pluralismus von Meinungen, aber auch an Lebensmodellen nicht genau diesen „Werterelativismus“ braucht. Dass die Kirche ein „Korrektiv“ sein kann, klingt schön. Aber würde sie sich mit einer solchen bescheidenen Rolle auch abfinden? Und was genau sind die „Pathologien“ (Ratzinger) der modernen Vernunft? Dass zerrüttete Ehen geschieden werden können? Dass man mit Hilfe von embryonalen Stammzellen Sterbenskranke rettet? Was da als gefährlicher Relativismus verteufelt wird, ist oft nur eine unter mehreren möglichen moralischen Entscheidungen. „Den einen ist das ungeborene Leben, auch das im Reagenzglas heilig, den anderen die Freiheit der persönlichen Entscheidung – warum ist das eine absolut moralisch, das andere relativ?“ fragt die Berliner Publizistin Mariam Lau.

 

Ratzinger ist geschickt, und der Theologieprofessor hat Gewandtheit darin entwickelt, gestisch zu überzeugen, seinen Habitus zum Argument zu machen – noch, dass er ein wenig linkisch wirkt, fügt sich bestens. Mit einem erstaunlichen Instinkt hat er realisiert, dass das grassierende Unbehagen an der Moderne gerade einem Typus des Kirchenführers günstig ist, der irgendwie schräg ist, der quer zu den Zeitströmungen liegt. Nicht der schulterklopfende, volkstümliche Kerl ist da gefragt, der Mimikry an die Physiognomie der Zeit versucht, sondern einer, der sich „Out of the World“ stilisiert.

 

Doch vom Fluch des Zeitgeistes ist auch ein solcher Papst nicht gefeit. Wenn der Weltflüchtige populär wird, dann ist er auch nur eine Celebrity unter vielen. Papstmessen unter freiem Himmel geraten heute zu Glaubens-Parties, bei denen nicht so recht klar ist, ob der Schwerpunkt mehr auf dem Glauben, oder mehr auf der Party liegt.

 

Titelblätter wie das des Lifestyleblattes „Vanity Fair“ vom vergangenen April sollten den Papst jedenfalls zu denken geben. „Ein Popstar wird 80“, titelte das Blatt.

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