Gegen Integration

Müssen „Sie“ wie „Wir“ werden oder dürfen „Sie“ bleiben wie „Sie“ sind? Das ist die falsche Frage! Wege aus der Identitätsfalle. Moment, Zeitschrift von SOS-Mitmensch, 20. Oktober 2007

Wie weit es mit dem Integrationsbegriff gekommen ist, brachte Navid Kermani vor ein paar Jahren auf den Punkt: „Integration ist unheimlich gut“, schrieb der iranischstämmige Deutsche in einem sarkastischen Kommentar, und niemand soll sagen, „wir hätten etwas gegen den Islam, also Ihr hättet etwas gegen den Islam, also gegen mich, um genau zu sein, ich vergess das immer, dass ich zu den Bösen gehöre, ich fühle mich gar nicht so böse, aber, mein Gott, ich habe ja auch keine Aufklärung hinter mir, da weiß ich gar nicht, wie böse ich bin“. Kermanis furioses Ende: „Aber gut, dass ihr mich erzieht, sonst würde ich abends auf dem Elternabend ein Selbstmordattentat begehen und vorher die Lehrerin zwangsheiraten.“

 

Gut, dass ihr mich erzieht. So kommt es auf der „anderen“ Seite an, wenn hier von Integration gesprochen wird. „Integration“ als fordernde Vokabel, herrisch. Integriert Euch gefällig! Ihr seid ja unfähig zur Integration! Man muss Euch erziehen, aber das ist nicht einfach, es ist eine monumentale Erziehungsaufgabe, denn ihr seid Schwererziehbare. Dann wundert man sich, wenn das nichts wird, mit der „Integration“. Gott sei dank, all das ist auch nicht ohne Komik. Man erinnere sich an die Demonstration des xenophoben Mobs unter Führung der örtlichen FPÖ und ÖVP gegen das türkische Kulturzentrum in Brigittenau (fälschlicherweise als Moschee ausgegeben) im September. „Hier marschiert der nationale Widerstand“, riefen die Fußtruppen und, direkt vor dem Kulturverein: „Anzünden! Anzünden!“ Skurillerweise, forderte der ÖVP-Parteichef und Vizekanzler Wilhelm Molterer ausgerechnet am folgenden Tag eine „Wertedebatte“, weil die Muslime ja oft „unsere“ Werte nicht teilen. Sein Generalsekretär mit dem putzigen Namen Hannes Missethon drohte, „die müssen unsere Spielregeln lernen“. Ob er damit meinte, dass die Muslime künftig vor christlichen Kulturzentren aufmarschieren und „anzünden!“ rufen sollen, sagte er nicht dazu.

 

Übrigens ist der Einwand mancher kritischer Köpfe, wenn von Integration heute die Rede ist, sei Assimilation gemeint, nicht wirklich treffsicher. Denn Assimilation erfolgt ja in aller Regel nur an eine Kultur, die assimilations-, also aufnahmewillig ist und zudem eine große Anziehungskraft besitzt, ein Versprechen, wenn man so will – eine also, an die man sich gerne assimiliert, weil man sich davon etwas verspricht. Millionen Iren, Juden, Iraker und Burgenländer haben sich an die amerikanische Kultur „assimiliert“, ein Steirer hat es auch versucht, der freilich mit dem Ergebnis, dass er heute weder deutsch noch englisch kann, aber die meisten sind damit gut gefahren. Jede Veränderung ist auch ein Prozess der Assimilation und das ist auch gut so.

 

Das Problem heutzutage ist eher: Es wird Assimilation gefordert, ohne dass eine assimilationsfreundliche Kultur bestünde und gleichzeitig postuliert, ihr seid ja ohnehin unfähig zur Assimilation. Weil ihr seid ganz anders als wir. Ihr passt nicht zu uns.

 

Was die Integration also scheitern lässt ist das Identitätskonzept, die Vorstellung, Menschen hätten feste, zentrierte, kulturell bedingte Identitäten, die mit anderen Identitäten notwendig in einen Konflikt stünden. Dass dieser Kulturalismus heute auch noch durch die Überbetonung des Religiösen im Zeichen der „Rückkehr der Religionen“ verschärft wird, macht die Sache vollends teuflisch, weil dann auch noch der alte Eifer der Monotheismen ins Spiel kommt.. Dabei liegt das Problem gerade in dem Gewicht, das ethnisch-religiösen Identitäten heute zugeschrieben wird – und zwar von beiden Seiten. Noch in den freundlicheren Ausprägungen äußert sich das auf entlarvende Weise. So hält der Multikulturalist das Recht der Einwanderercommunities hoch, nach ihrer Tradition zu leben – er würde das auch bei bunt bemalten Ureinwohnern abgelegener Südseeinseln so halten –, und er schreibt noch den seltsamsten Praktiken irgendeine Würde zu, sofern sie sich nur als religiöse Traditionen legitimieren lassen.

 

Noch die Versuche, die „kulturellen“ Konflikte zu entschärfen, sind von dem Ungeist infiziert, der den Religionen eine wachsende Bedeutung für die öffentliche Dinge zuweist: Wenn es denn kracht zwischen Angehörigen verschiedener Communities, wird in schöner Regelmäßigkeit nach einem „Dialog der Kulturen“ gerufen, ein veritabler Reigen von Dialogveranstaltungen ist dann die Folge, bei der die religiösen Vertreter ihren fixen Platz haben. Dann sitzen christliche, muslimische, jüdische religiöse Würdenträger zusammen und unterhalten sich darüber, wie das gesellschaftliche Leben friktions- und vorurteilsfreier zu gestalten wäre. Kaum jemand fragt, wieso ausgerechnet die religiösen Repräsentanten dafür besonders geeignet sein sollten – oder ob das nicht ein bisschen so ist, als würde man den Bock zum Gärtner machen. Ja, mehr noch: auch säkulare „Muslime“, „Christen“ oder „Juden“ werden ihrer kommunitären Zugehörigkeit wegen eingeladen, was noch bei den Nichtreligiösen den religiösen Aspekt der Identität überbetont, anstatt den multiplen Quellen moderner Identität mehr Gewicht zu verleihen. So ist es heute ganz üblich geworden, dass sich sogar progressive Muslime in liberalen Muslimenorganisationen zusammenschließen, deren Botschaft in aller Regel lautet: ‚Wir Muslime sind gar nicht so!’ Dabei besteht das eigentliche Hauptproblem darin, dass sie auf ihre Identität als Muslime reduziert werden und sich darauf auch reduzieren lassen. All das hat bedeutende Auswirkungen für das ideologische Kraftfeld, auf dem sich die Menschen selbst verorten, aber auch ganz praktische Resultate. So sind die religiöse Communties oft diejenigen, die mit staatlichen Subventionen bedacht werden und diese weiter verteilen. Ethnisch-religiös ungebundene Jugendgruppen haben oft keine Chance, an staatliche Gelder heranzukommen oder bloß Räume für Partys oder Proberäume für Bands zu bekommen. Wenn sie Ressourcen für ihre Aktivitäten erhalten wollen, müssen sie sich als „religiös“ – etwa „muslimisch“ – definieren.

 

 

Im öffentlichen Diskurs, schreibt die Philosophin Seyla Benhabib, hat die „Darstellung kultureller und religiöser Differenz ganz erhebliches Gewicht“ gewonnen, wobei zwischen „Religion und Kultur“ kaum mehr unterschieden werden kann – Religion, Brauchtum, Kultur, Ethnizität kollabierten förmlich ineinander.

 

Die Diskurse, kurzum, sind gefangen in einer regelrechten Identitätsfalle.

 

Es war der Wirtschaftsnobelpreisträger und Harvard-Professor Amartya Sen, der jüngst in einer Streitschrift diese eindimensionalen Zuschreibungen attackiert hat. Sen hält dem entgegen: Menschen waren noch nie einfache Produkte ihres kulturell-religiösen Herkommens – und sind es heute weniger denn je. Mit einer solchen monokausalen Deutung missverstehe man die Menschen und die Welt. Jeder von uns ist Angehöriger einer Vielzahl von Gruppen. Niemand ist in einem derart trivialen Sinn „Moslem“, „Hindu“, „Westler“, „Christ“ oder „Asiate“, wie es das Postulat vom „Kampf der Kulturen“ unterstellt, beharrt Sen. Jeder Mensch, mag er noch so simpel gestrickt sein, hat „plurale Identitäten“. Sens Plädoyer ist eine einzige Absage an das Konzept der Identitäten und an den Reduktionismus, der mit ihm verbunden ist. Immer wieder verweist er auf die Fragwürdigkeit, dass selbst wohlmeinende Zeitgenossen Einwanderer stets als Mitglieder ihrer Community oder religiösen Ethnizität ansprechen und nicht als Bürger ihres eigenen Gemeinwesens.

 

Aus dieser kommunitären Unglücksspirale sollte man schleunigst aussteigen und alles tun, damit sich auch die Einwanderer nicht in fragwürdige Communites abkapseln. Dieser Rückzug ist ja auch immer Reaktion auf Bedrohung und Chancenlosigkeit: Wenn ich in stetiger Unsicherheit lebe, ziehe ich mich in schützende Nischen zurück. Wenn ich keine Chancen habe, schließe ich mich mit Meinesgleichen, den anderen Chancenlosen zusammen. Wenn ich als Bürger nicht anerkannt bin, dann codiere ich diese Pariaexistenz um – und bin stolz darauf, „anders“ zu sein. Aufenthaltssicherheit, Bildung, Affirmative Action, soziale Absicherung, Bürger- und Mitbestimmungrechte, dies sind die Bedingungen für den Weg aus der Identitätsfalle.

 

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