Aldi, Armani und ein Handy dazu

50 Millionen Autos, 1 Million Schusswaffen und jährlich 40 Millionen neue Mobiltelefone. Wie tickt der deutsche Konsument? Zeitzeichen, Juni 2008


Der durchschnittliche Deutsche lebt in einem Haushalt mit drei Personen auf 80 Quadratmetern, das Nettoeinkommen beträgt zwischen 1500 bis 2000 Euro. Das Auto der Familie hat 53 PS. Rechnerisch hat jeder erwachsene Deutsche eines, 50 Millionen Fahrzeuge sind registriert. Eine Bahncard gibt es nicht, man fliegt zweimal im Jahr ins Ausland. Der Vater besitzt 12 bis 15 Paar Schuhe, einen PC und drei bis vier Heimwerker- oder Sportgeräte. Einmal im Monat gibt es Bio-Lebensmittel, einmal pro Woche ein Essen im Restaurant, 11 Prozent des Einkommens werden gespart. Jeder Haushalt hat eine Waschmaschine, mehr als einen Kühlschrank und 1,5 Fernseher. Das Einzelkind in der Familie hat, sofern es zwischen 15 und 25 Jahre alt ist, 450 Euro monatlich zur Verfügung. Auf 100 Deutsche kommen 109 Handyverträge. 13 Prozent des Monatsbudgets werden für Lebensmittel ausgegeben – 1962 waren es noch 37 Prozent. Pro Kopf werden rund 35 Kilogramm Tiefkühlkost verspeist, ein Drittel mehr als noch vor ein paar Jahren. Der Deutsche – oder besser: die Deutsche, denn der deutsche Verbraucher ist eine Verbraucherin – kauft diese Dinge meist, indem er am Freitag nach Büroschluss zum Discounter hetzt. 22 Prozent der Güter des täglichen Bedarfs werden an diesem „Großkauftag“ erworben, der Marktanteil der Billigketten wie Aldi, Lidl und Co. stieg erst dramatisch, jetzt kontinuierlich und liegt mittlerweile signifikant über 40 Prozent.
 
So ist er also, der Deutsche. Aber gleichzeitig auch nicht. Denn „den Normalverbraucher“ gibt es natürlich nicht. Schon aus biographischen und lebenweltlichen Gründen: Teenies kaufen anders ein als ein dreißigjähriger Single in der Stadt, Familienväter in den Suburbs anders als die „aktiven Senioren“, Millionäre anders als Hartz-IV-Empfänger. Weil im Konsumkapitalismus die Konsumentennachfrage aber die Triebfeder der Wirtschaftsentwicklung ist, und weil deshalb Markenartikler alles über ihre potentiellen Zielgruppen wissen wollen, werden die Milieus schonungslos durchleuchtet. Was will der Senior? Was will der Single? Gibt es allgemeine Trends? Unterscheidet sich das Konsumverhalten der Deutschen von anderen vergleichbaren Nationen?
 
In den vergangenen fünfzehn Jahren stiegen die Konsumausgaben signifikant, aber der Großteil des Geldes wurde nicht im Einzelhandel umgesetzt – weder bei Aldi noch bei Armani. Ein Großteil der Zuwächse konzentriert sich auf Finanzdienstleistungen, auf Kraftstoffe (Benzin!), auch auf Bildung – und auf Post- und Telekommunikation. Letzteres ist schon ein Hinweis auf das Kaufverhalten: die Deutschen lieben Handys. Allein im vergangenen Jahr wurden fast 40 Millionen Geräte verkauft. Rechnerisch kommen auf einen Deutschen mehr als ein Handyvertrag. In Westeuropa haben durchschnittlich 98 von 100 Personen ein Handy, in den USA gar nur 76 von 100. Ein weiterer allgemeiner Trend, der sich durch alle Schichten durchzieht: Discounter und Handelsmarken haben in den letzten Jahren enorm zugelegt. „Auch Guverdienende kaufen heutzutage preiswert ein“, sagt Karsten John vom Marktforschungs-Unternehmen GfK. 1997 lag der Marktanteil von Billigdiscountern wie Aldi noch bei 17 Prozent, 2002 bei 31 Prozent, 2006 bei 41 Prozent. Auch Gutverdienende und der Mittelstand sparen beim Alltagskonsum, um sich dafür dann und wann ein Luxusprodukt zu leisten. „Aldi und Armani, Lidl und Louis Vuitton, Plus und Prada“ (FAZ) lautet das Motto. Aus der Produzenten- und Händlerperspektive heißt das: Geschäftserfolg erzielt man entweder mit Billigprodukten oder mit den Power-Marken, unter Druck kommen die „mittleren“ Marken. Teure Markenjeans und billiges Klopapier sind die Renner, aber Durchschnittsmarken wie Hakle-Feucht, Nivea oder Dr. Oetker haben schon bessere Tage gesehen. Schon haben Konsumforscher für diese Haltung ein neues Wort geprägt: „Luxese“ – Luxus im Freizeit- und Erlebniskonsum, Askese bei den Ausgaben des täglichen Bedarfs. Das Resultat wird mit dem knalligen Begriff von der „toten Mitte“ beschrieben. Für Markenartikler wirft das die überlebenswichtige Frage auf: Will man eher Kosten und Preis reduzieren und mitmachen beim Konkurrenzkampf um die Schnäppchenjäger oder das eigene Produkt lieber im oberen Segment positionieren. Dass das klappt, hat die Jeansfirma „Diesel“ gezeigt – sie hat den Preis von 1999 bis 2003 um 42 Prozent angehoben, den Nettoumsatz aber um 93 Prozent gesteigert, und spielt jetzt in der Klasse von großen Lifestyle-Brands wie „Levi’s“.
 
„Das Verhalten der Verbraucher polarisiert sich“, sagt der Trendforscher David Bosshart, „Grundbedürfnisse werden zu möglichst niedrigen Preisen gedeckt, auf der anderen Seite steht die Suche nach immateriellen Werten durch Konsum“. Es ist dies die Dichotomie, die der Soziologe Gerhard Schulze in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ mit den Begriffen des „außengeleiteten“ und des „innengeleiteten“ Konsums beschrieben hat. Außengeleiteter Konsum betrifft die Dinge, die man eben so braucht – Klopapier, Schuhpasta, Zahnpasta. An diesen wird gespart. Innengeleiteter Konsum betrifft die Dinge, die man erwirbt, damit sie mit einem selbst etwas anstellen, salopp gesagt: mit denen man seine „Identität“ zusammenkauft. Die Dinge, die die Marketingexperten „Identity Goods“ nennen, wobei es sich bei diesen Gütern auch um gänzlich immaterielle „Produkte“ handeln kann, wie die Urlaubsreise oder den Nachmittag im Spaßbad oder im Urban Entertainment Center. Wobei die Sache dadurch kompliziert wird, dass für den einen Konsumenten eine bestimmte Produktgattung noch in den Bereich des außengeleiteten, für den anderen schon in den des innengeleiteten Konsums fällt. Der eine kauft Discounter-Milch um ein paar Groschen, der andere das „Natürlich“-Produkt aus dem Bioregal, in der Hoffnung, sie stamme von einer glücklichen Kuh, die stets frischen Klee auf offener Weide grast.
 
Die Zielgruppe ist eine vertrackte Sache. Kaum hat man sie im Griff, entwindet sie sich schon wieder. Klar, es gibt etwa Singles, über die ein paar allgemeingültige Dinge gesagt werden können. 38 Prozent aller deutschen Haushalte sind Einpersonenhaushalte, in ihnen leben immerhin 14,7 Millionen Menschen. Die meisten leben in Großstädten, zwei Drittel sind ledig, gerade getrennt oder geschieden. Von den 18- bis 55jährigen Alleinlebenden sind zwei Drittel Männer. Meist sind sie gesellig – um anderen Menschen zu begegnen, müssen sie die Wohnung verlassen. Sie gehen überdurchschnittlich häufig in Bars und Restaurants, und haben, da die meisten von ihnen keine Familie ernähren müssen, mehr konsumierbares Einkommen zur Verfügung. Aber die Singles sind selbst wieder in unterschiedliche Lifestyle-Milieus aufgespalten, der eine hat drei Dates pro Woche, der andere schon jede Hoffnung aufgegeben, jemals eine Partnerin zu finden. Und vor allem will kaum jemand als „Single“ angesprochen werden. Würde ein Händler „Single-Butter“ gezielt anpreisen, sie läge wie Blei im Regal. Ein ähnliches Problem stellen die Senioren dar. Schon ist vom Zukunftsmarkt 60plus die Rede, aber was die rüstigen Rentner so als Zielgruppe wollen, weiß man nicht so genau – meist stellt es sich erst in der Praxis heraus. So sind Menschen über 50 die Hauptkäufergruppe der Großbildfernseher. In zwanzig Jahren wird jeder dritte Deutsche älter als 60 sein, die Alten sind dementsprechend eine umkämpfte Zielgruppe. Aber schwer zu umgarnen. „Senioren wollen schließlich alles sein, nur keine Senioren“, sagt denn auch Herbert Lechner, Konsumforscher beim GfK. Sie gleichen sich in ihrem Konsumverhalten auch den Jüngeren an, oder, um das im Jargon der Soziologie zu sagen, es gibt eine Verschiebung der Altersschwellen. Die Gesellschaft wird biologisch älter, aber in Mentalität und Lebensstil jünger. Früher hörten Frauen durchschnittlich mit 45 Jahren auf, sich zu schminken. Heute gehören Kajal und Wimperntusche bis 55 zum üblichen Accessoire.
 
Alter und äußere soziale Attribute reichen schon längst nicht mehr aus, um Konsumentengruppen zu identifizieren. Deshalb arbeiten Marketingexperten auch gerne mit den „Sinus-Diagrammen“ der Milieuforscher. „Konservative“ und „Traditionsverwurzelte“ werden von der „bürgerlichen Mitte“, den „Konsum-Materialisten“ und den „Hedonisten“, den „Postmateriellen“, den „Experimentalisten“ und den „modernen Performern“ unterschieden. Das Verhältnis von Konsumverhalten und Milieubildung lässt sich als durchaus dialektisch beschreiben. Einerseits war die Auflösung traditioneller Bindungen, die der zeitgenössische Kapitalismus bewirkte, Vorbedingung der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, andererseits sind die vielen unterschiedlichen Lebensstil-Milieus auch Motor der Entstandardisierung des Warenangebotes. Kurzum: Erst durch unterschiedliche Warenkonsum geben sich sind Milieus identifizierbar, aber die immer weitere Aufspaltung in Milieus führt zu immer unterschiedlichen Waren, und vor allem die Modebrands schickt ihre Trendscouts aus, um nur ja keine Konsumsegment, keinen neuen Stil, zu übersehen.
 
Diese Ausdifferenzierung der Shopping-Stile geht so weit, dass politische Überzeugungen und Lebenshaltungen mit spezifischen Konsummustern einhergehen. Wer Bionade kauft, wählt eher grün. Welche Implikation die Identifikation von Lifestyle-Gemeinschaften mit klar voneinander abgegrenzten Marken hat, zeigte unlängst exemplarisch eine Studie der Psychologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Die erbrachte das in seiner Signifikanz erstaunliche Ergebnis, dass Citroen-Fahrer vorwiegend SPD wählen, VW-, Fiat-, Nissan- und Opel-Kinden eher links, Mercedes-, Audi-, Toyota- und BMW-Fahrer eher rechts orientiert wind. Wer Peugeot oder Renault den Vorzug gibt, unterstützt offenbar überdurchschnittlich häufig die Grünen.
 
In diesem Kontext ist auch der „Bio-Boom“ zu sehen, der neuerdings ausgerufen wird. Es ist heute jedenfalls schick geworden, Bionade zu trinken oder sich gar den Prius-Hybrid von Toyota zu kaufen, ein Auto mit hoher Energieeffizienz und geringerem Schadstoffverbrauch, das noch dazu den Vorteil hat, dass es auch von Leonardo DiCaprio oder Julia Roberts gefahren wird. Die Ausgaben privater Haushalte für Bioprodukte haben sich tatsächlich im vergangenen Jahr wieder beträchtlich erhöht – ein Plus von 21 Prozent. Eine stattliche Zahl. Freilich, damit haben Bioprodukte bei Lebensmittel und Getränken gerade einmal einen Marktanteil von drei Prozent. Klingt wenig – aber dennoch werden schon 35 Prozent der Deutschen zu den Bio-Affinen gerechnet. Der „bewusste Konsument“ wird gerade als zeitgenössische Inkarnation des aktiven Bürgers ausgerufen. Nur dass gesellschaftspolitisches Engagement sich heute nicht mehr über das Verfassen von Petitionen oder die Teilnahme an Protestmärschen definiert, sondern über den Kaufakt – man rettet die Welt, indem man Fairtrade-Kaffee kauft oder die schicken Klamotten von American Apparel, die von garantiert glücklichen Arbeitnehmern zusammengenäht werden.
 
Freilich, auch die „Bioaffinen“ kaufen nicht alle immer „Bio“ ein. Unschärfen wie diese relativieren auch die Sinus-Milieus und machen den Marketing-Experten das Leben schwer, gelegentlich werden die Konsumenten schon als „störrisch“ und „illoyal“ beschimpft. Denn die Konsumenten kaufen nicht nur Waren „ihres“ Lebensstilssegments sondern mixen die Stile. Tragen Business-Anzüge und Turnschuhe dazu. Kaufen Biomüsli und fahren dann im Sportwagen zu McDonalds. Man weiß beim Konsumenten nie, woran man bei ihm ist. Der Konsument macht ein „pick’n mix“, wie der britische Branding-Guru Wali Olins schreibt – er greift sich verschiedene Produkte raus und mischt sie. Deshalb womöglich der Versuch, ihn mit Zahlenreihen greifbar zu machen. Man kann da auf die erstaunlichsten Dinge draufkommen.
 
Rund 500.000 Deutsche kaufen ständig zwanghaft Dinge, die sie eigentlich gar nicht brauchen. 25 Prozent der Männer kaufen nur einmal im Jahr neue Unterwäsche. Acht Prozent der deutschen Männer besitzen eine Luxusarmbanduhr. Und bei einem Lebensmittelkauf geben Deutsche Durchschnittlich 32 Euro aus. Und noch eine überraschende Zahl: Deutsche kaufen pro Jahr eine Million Gewehre und Pistolen.
 
Damit gibt es in Deutschland im Verhältnis zur Bevölkerung eine ähnliche Schusswaffendichte wie in den USA.

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